Auto­ag­gres­sion bei Jugend­li­chen: Kein Rin­gen um Aufmerksamkeit

25.11.2019 | Medizin


Es ist eine Form der Emo­ti­ons­re­gu­la­tion, die für diese Jugend­li­chen sehr effek­tiv ist: Auto­ag­gres­sion. Exper­ten raten, genau hin­zu­se­hen, wann Jugend­li­che keine andere Mög­lich­keit haben, Auf­merk­sam­keit zu bekom­men und sich gezwun­gen sehen, diese Form der Kom­mu­ni­ka­tion zu nut­zen.
Laura Scher­ber

Auto­ag­gres­sion ist ein weit ver­brei­te­tes Phä­no­men unter Jugend­li­chen mit einer Lebens­zeit­prä­va­lenz in Öster­reich zwi­schen 25 und 30 Pro­zent. „Das nicht-sui­zi­dale selbst­ver­let­zende Ver­hal­ten wird defi­niert als frei­wil­lige, direkte Zer­stö­rung oder Ver­än­de­rung des Kör­per­ge­we­bes ohne sui­zi­dale Absicht, die sozial nicht akzep­tiert, direkt und repe­ti­tiv ist, und meist zu klei­nen oder mode­ra­ten Schä­di­gun­gen der Haut führt“, erklärt Univ. Prof. Kath­rin Seve­cke von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie in Inns­bruck. Gemäß der Defi­ni­tion der Ame­ri­can Psych­ia­tric Asso­cia­tion (APA) zeigt sich die­ses Ver­hal­ten – um eine ent­spre­chende Dia­gnose zu stel­len – an fünf oder mehr Tagen im Jahr. Selbst­ver­let­zen­des Ver­hal­ten ist mit einer Reihe von psych­ia­tri­schen Erkran­kun­gen ver­ge­sell­schaf­tet wie zum Bei­spiel Depres­sion, Ess­stö­run­gen, Angst­stö­run­gen und Per­sön­lich­keits­stö­run­gen sowie Sui­zi­da­li­tät. Gleich­zei­tig han­delt es sich um ein Phä­no­men mit einem hohen Nach­ah­mungs­ver­hal­ten. „Ein Risi­ko­fak­tor für selbst­ver­let­zen­des Ver­hal­ten ist, wenn man andere Jugend­li­che oder Fami­li­en­mit­glie­der kennt, die sich selbst ver­let­zen“, weiß Univ. Prof. Paul Ple­ner von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie in Wien. Viele, die sich spä­ter selbst ver­let­zen, sehen die­ses Ver­hal­ten bei ande­ren Per­so­nen, die sie per­sön­lich ken­nen, und pro­bie­ren es dar­auf­hin selbst aus. Wäh­rend es für man­che bei dem einen Ver­such bleibt, machen andere posi­tive Erfah­run­gen und füh­ren das Ver­hal­ten fort. In der Regel nimmt Auto­ag­gres­sion ab dem zwölf­ten Lebens­jahr zu, erreicht einen Höhe­punkt um das 15. Lebens­jahr und nimmt im Alter von 17 bis 18 Jah­ren wie­der ab. „Aber nicht jedes selbst­ver­let­zende Ver­hal­ten hält an, führt zu einer schwe­ren psych­ia­tri­schen Erkran­kung oder muss behan­delt wer­den“, gibt Seve­cke Ent­war­nung. In der Regel hört die­ses Ver­hal­ten im Alter zwi­schen 20 und 30 Jah­ren von selbst wie­der auf. Es gibt kaum Erwach­sene, die sich wei­ter selbst verletzen.

Grund­sätz­lich tritt Auto­ag­gres­sion häu­fi­ger bei weib­li­chen als bei männ­li­chen Jugend­li­chen auf. Dar­über hin­aus gibt es Geschlechts­un­ter­schiede hin­sicht­lich der gezeig­ten Ver­hal­tens­wei­sen. „Wir sehen, dass Schnei­den, Rit­zen und Ver­bren­nun­gen bei weib­li­chen Jugend­li­chen häu­fi­ger vor­kom­men, wäh­rend man Ver­hal­tens­wei­sen wie das ‚Gegen-die-Wand-Schla­gen bis es schmerzt oder blu­tet‘ häu­fi­ger bei männ­li­chen Jugend­li­chen fin­det“, weiß Ple­ner. Im Jugend­al­ter sind diese auto­ag­gres­si­ven Ver­hal­tens­wei­sen am häu­figs­ten mit Depres­sion oder Angst­stö­run­gen ver­ge­sell­schaf­tet, im Erwach­se­nen­al­ter mit der Bor­der­line-Per­sön­lich­keits­stö­rung. „In ers­ter Linie han­delt es sich um eine Form der Emo­ti­ons­re­gu­la­tion, die für diese Jugend­li­chen sehr effek­tiv
ist. Sie erle­ben einen nega­ti­ven emo­tio­na­len Zustand, ver­let­zen sich selbst und dadurch wird die­ser Zustand zumin­dest kurz­fris­tig been­det“, so Ple­ner. Die Effekte hal­ten aber in der Regel nicht län­ger als 30 bis 60 Minu­ten an. Dabei kommt es zu einer Ände­rung der Hirn­ak­ti­vi­tät in den Berei­chen, die zen­tral für die Emo­ti­ons­ver­ar­bei­tung sind wie zum Bei­spiel die Amyg­dala. Wäh­rend bei Jugend­li­chen, die sich selbst ver­let­zen, die Akti­vi­tät durch Schmer­zen ver­rin­gert wird, zeigt sich bei Per­so­nen, die keine Erfah­run­gen mit selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten haben, eher ein gegen­läu­fi­ges Mus­ter. In rezen­ten Stu­dien zei­gen sich Hin­weise dar­auf, dass Per­so­nen, die nied­rige Spie­gel von endo­ge­nen Opio­iden auf­wei­sen, durch Selbst­ver­let­zung wie­der ein ent­spre­chen­des Gleich­ge­wicht her­stel­len kön­nen. Um ver­läss­li­che Aus­sa­gen tref­fen zu kön­nen, sind jedoch wei­tere Stu­dien not­wen­dig, in denen die­ser Zusam­men­hang näher unter­sucht wird. 

Selbst­ver­let­zen­des Ver­hal­ten geht häu­fig mit einer Stig­ma­ti­sie­rung ein­her und dem Vor­ur­teil, dass die Betrof­fe­nen die­ses Ver­hal­ten nur zei­gen, um Auf­merk­sam­keit zu bekom­men. Für Ple­ner sind hier zwei Aspekte beson­ders rele­vant: zum einen ist es wich­tig, sich genau anzu­schauen, wenn sich ein Jugend­li­cher gezwun­gen sieht, diese Art der Kom­mu­ni­ka­tion zu nut­zen, um Auf­merk­sam­keit zu bekom­men, weil er keine ande­ren Mög­lich­kei­ten hat; zum ande­ren macht die Mehr­zahl der Betrof­fe­nen das selbst­ver­let­zende Ver­hal­ten tat­säch­lich nicht öffent­lich. „Wir haben hier einen Feh­ler in der Wahr­neh­mung, weil wir nur die­je­ni­gen Per­so­nen sehen, die das selbst­ver­let­zende Ver­hal­ten öffent­lich machen“, betont der Experte.

Kor­rekte Ein­schät­zung erforderlich

„Es geht darum, Awa­re­ness für das Vor­kom­men von selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten zu schaf­fen und als Arzt auf psy­chi­sche Sym­ptome bei die­ser Alters­gruppe zu ach­ten“, betont Seve­cke. Zei­gen Jugend­li­che neben regel­mä­ßi­gem, selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten andere Auf­fäl­lig­kei­ten wie Stim­mungs­ver­lust, Schul­ver­wei­ge­rung, Kon­zen­tra­ti­ons­ver­lust, Ess­stö­run­gen, Schlaf­lo­sig­keit, Antriebs­lo­sig­keit oder sozia­len Rück­zug sollte man hell­hö­rig wer­den und die Betrof­fe­nen an den Fach­arzt für Kin­der­psych­ia­trie zu über­wei­sen. „Es ist eine Grat­wan­de­rung, nicht sofort eine schwer­wie­gende psych­ia­tri­sche Stö­rung zu unter­stel­len, es doch aber im Blick zu behal­ten und bei einer Ver­schlech­te­rung des All­ge­mein­zu­stands recht­zei­tig an die Kin­der- und Jugend­psych­ia­trie über­wei­sen“, weiß Seve­cke. Die wei­te­ren dia­gnos­ti­schen Schritte beim Fach­arzt erfas­sen neben der Ana­mnese Fra­ge­bö­gen sowie fremd­ana­mnes­ti­sche Anga­ben (zum Bei­spiel durch die Eltern). Zusätz­lich zur fach­ärzt­li­chen Dia­gnos­tik ist die Wund­ver­sor­gung not­wen­dig. „Erst dann kom­men Über­le­gun­gen, wes­halb die Per­son über­haupt die­ses Mit­tel der Emo­ti­ons­re­gu­la­tion benö­tigt“, so Ple­ner. Sei­ner Ansicht nach han­delt es sich bei selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten um ein Sym­ptom dafür, dass offen­sicht­lich ein
zugrun­de­lie­gen­des Pro­blem in der Emo­ti­ons­re­gu­la­tion besteht bezie­hungs­weise ein Kon­flikt, der nicht anders als über die­ses Sym­ptom gelöst wer­den kann. 

Die The­ra­pie der Auto­ag­gres­sion bei Jugend­li­chen rich­tet sich danach, ob eine beglei­tende psych­ia­tri­sche Stö­rung vor­liegt und falls ja, um wel­che. Obwohl eine spe­zi­fi­sche phar­ma­ko­lo­gi­sche The­ra­pie im Jugend­al­ter grund­sätz­lich nicht emp­foh­len wird, kön­nen bei gleich­zei­ti­gem Vor­lie­gen einer Depres­sion durch­aus Medi­ka­mente ein­ge­setzt wer­den, so Seve­cke. „The­ra­pie der Wahl sind bei selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten aber psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Ver­fah­ren wie Emo­ti­ons­re­gu­la­ti­ons­ver­fah­ren und Ent­span­nungs­ver­fah­ren, aber auch psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Ver­fah­ren gene­rell, die die grund­le­gende Stö­rung mit in den Blick neh­men“, erklärt die Exper­tin. In ran­do­mi­sier­ten kon­trol­lier­ten Stu­dien konnte gezeigt wer­den, dass drei For­men der Psy­cho­the­ra­pie das selbst­ver­let­zende Ver­hal­ten nach­weis­lich redu­zie­ren: die kogni­tive Ver­hal­tens­the­ra­pie, die Dia­lek­tisch-Beha­vi­orale The­ra­pie für Ado­les­zente (DBT‑A), bei der es sich um eine Spe­zi­al­form der Ver­hal­tens­the­ra­pie han­delt, und die Men­ta­li­sie­rungs­ba­sierte The­ra­pie für Ado­les­zente (MBT‑A). Bei den letz­ten bei­den The­ra­pie­an­sät­zen liegt der Fokus auf Persönlichkeitsstörungen.

„Pro­ble­ma­tisch“ (Ple­ner) bleibt aber, dass sich viele Betrof­fene nicht in The­ra­pie bege­ben, was auf die bedeu­tende Stig­ma­ti­sie­rung von selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten zurück­zu­füh­ren ist. Um die­sem Pro­blem zu begeg­nen, wurde in den letz­ten Jah­ren ein nie­der­schwel­li­ger Zugang im Rah­men einer Online-Psy­cho­the­ra­pie ent­wi­ckelt, die auf einem ver­hal­tens­the­ra­peu­ti­schen Manual basiert und der­zeit kos­ten­frei getes­tet wird (www.star-projekt.de). „Die Online-The­ra­pie wird von den Jugend­li­chen sehr gut ange­nom­men, weil es für viele ein gro­ßer Schritt ist, eine Insti­tu­tion, einen Psy­cho­the­ra­peu­ten oder Arzt auf­zu­su­chen. Durch die Anony­mi­tät des Inter­nets wird diese Schwelle her­ab­ge­setzt“, weiß Plener.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2019