Oxytocin bei Autismus: Stimulus für Motivation

25.06.2019 | Medizin


In Laboruntersuchungen konnte die Wirksamkeit von Oxytocin auf die Wahrnehmung von Emotionen nachgewiesen werden. Aktuell werden in Studien Fragen zur Wirkungsweise, zur Dosierung und Applikation untersucht. Eine künftige Option könnte sein, Oxytocin nicht direkt zu applizieren, sondern die endogene Ausschüttung durch bestimmte Hormone oder Mechanismen zu stimulieren.


In den vergangenen zehn Jahren ist die Wirkung von Oxytocin bei Personen mit Autismus-Spektrum-Störungen in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Studien haben gezeigt, dass sich durch Oxytocin die Fähigkeit, Emotionen in Gesichtern und Augenpartien wahrzunehmen oder Modulation und Emotion in der Stimme zu erkennen, verbessert. „Dabei handelt es sich ausschließlich um Laboruntersuchungen, bei denen die Probanden eine bestimmte Aufgabe bekommen haben“, betont Univ. Prof. Luise Poustka von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Göttingen. Und weiter: „Eine Verbesserung der direkten sozialen Interaktion im realen Leben ist bisher noch nicht ausreichend erwiesen.“ Jedoch gibt es andere Studien, die keine Verbesserung der autistischen Symptome durch die tägliche Gabe von Oxytocin gezeigt haben. Momentan erarbeitet Poustka mit einer Steuerungsgruppe aus Kinderpsychiatern, Psychologen, Psychotherapeuten und anderen Berufsgruppen die aktuellen Leitlinien zu Autismus-Spektrum-Störungen. Darin wird Oxytocin für die Behandlung von Autismus bislang noch nicht empfohlen. Obwohl die Substanz „relativ nebenwirkungsarm ist, ist die gegenwärtige Datenlage noch zu wenig eindeutig“, so die Expertin. In Einzelfällen wird Oxytocin individuell bei der Therapie angewendet.

Zur Wirkungsweise von Oxytocin meint Poustka: „Wir nehmen an, dass Oxytocin zum einen die Motivation erhöht, überhaupt sozial zu interagieren, weil es die Aufmerksamkeit auf soziale Stimuli wahrscheinlich verstärkt. Vermutlich weil es den Belohnungswert eines sozialen Stimulus erhöht.“ Während ein lächelndes Gesicht für die meisten Menschen ein angenehmer und positiver Reiz ist, löst es bei manchen Menschen weniger angenehme Gefühle aus. Durch Oxytocin kann erreicht werden, dass dieser soziale Reiz als angenehm und belohnend erlebt wird. Darüber hinaus wirkt Oxytocin stressdämpfend, sodass soziale Interaktion vielleicht als weniger aversiv empfunden wird.

Oxytocin wird aktuell als Nasenspray appliziert oder in Form einer intravenösen Kurzinfusion, die allerdings eher selten ausgewählt wird. Der Nasenspray wird in Form von mehreren Sprühstößen pro Nasenloch appliziert. Die maximale Konzentration im Gehirn wird vermutlich nach rund 30 bis 40 Minuten erreicht. Proustka dazu: „Eine Idee der Zukunft ist die Möglichkeit, Oxytocin nicht direkt zu applizieren, sondern die natürliche, endogene Ausschüttung durch bestimmte Hormone oder Mechanismen anzuregen.“

Für eine evidenzbasierte Empfehlung von Oxytocin in der Therapie der Autismus-Spektrum-Störungen sind laut Poustka die Wirksamkeit auf die Kernsymptomatik soziales Verhalten im Alltag und die zugrunde liegenden Mechanismen bisher noch nicht ausreichend erforscht. Dazu zählen etwa: In welchem Setting wird eine gute Wirksamkeit erreicht? Welchen Einfluss haben das Alter, die Art und der Schweregrad der Autismus-Spektrum-Störung? Über welchen Zeitraum sollte Oxytocin am besten angewendet werden? Welche Dosierung ist wie häufig erforderlich? Welche Applikation ist optimal? Solange diese Fragen noch nicht geklärt sind, wird Oxytocin als täglich angewendetes Medikament sicher nicht first-line empfohlen, wenn eine Autismus-Diagnose erstmalig gestellt wird, fasst Poustka zusammen. Die zentrale Behandlungsmethode von Autismus-Spektrum-Störungen stellt derzeit die Verhaltenstherapie dar, bei der Zielverhaltensweisen definiert und von den Kindern gezeigtes, damit in Einklang stehendes Verhalten verstärkt wird. Dabei handle es sich meist um „sehr zeitintensive Trainings, die in den meisten Fällen sehr viel wirksamer sind, wenn sie schon bei sehr jungen Kindern über mehrere Jahre angewendet werden“, weiß Poustka.

Größtmögliche Selbstständigkeit

Ziel der aktuellen therapeutischen Strategien ist es, dass ein Autist größtmögliche Selbstständigkeit erlangt und erlernt, sich an die Anforderungen der Umwelt bestmöglich anzupassen. Inwiefern Oxytocin die Behandlung unterstützen kann, wird in Studien erhoben. So läuft bereits seit 2015 eine große Studie zur Wirkung von Oxytocin bei autistischen Jugendlichen, an der viele Zentren in Deutschland teilnehmen. Im Zuge dieser kontrollierten Doppelblindstudie werden rund 200 Jugendliche bis 2020 untersucht. Dabei werden genetische Faktoren ebenso wie bildgebende Verfahren einbezogen; auch werden Stressreaktionen gemessen. Die Wirkung des Oxytocins wird in Verbindung mit einer gruppenbasierten Verhaltenstherapie, bei der bestimmte Übungen und Zielverhaltensweisen in sozialen Interaktionen erlernt werden müssen, untersucht. (ls)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2019