Ethik: Misstrauen macht Medizin teuer

10.10.2018 | Themen


Schließen Medizin und Ökonomie einander aus? Kann Gesundheitspolitik, die auf Finanzlogik setzt und menschliche Werte und Zeit wegrationalisiert, sich selbst gerecht werden? Darüber reflektierte Medizinethiker Univ. Prof. Giovanni Maio beim Wiener Spitalsärztekongress. Er ist davon überzeugt, dass die Misstrauensquote die Medizin unruhig und auch teuer macht.

Wie finanziert, organisiert und optimiert man in Zeiten des ökonomischen Drucks das Gesundheitssystem eines Sozialstaates, ohne dabei Wesen und Identität der Medizin außer Acht zu lassen? Mit diesen Fragen setzte sich Univ. Prof. Giovanni Maio vom Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg am Wiener Spitalsärztekongress im September 2018 auseinander. Das Spannungsfeld Medizin versus Ökonomie stand dabei im Mittelpunkt.

Medizin sei stets als „interaktionsorientierte, verständigungsorientierte und soziale Disziplin“ zu betrachten, so der Medizinethiker, der davor warnt, das Menschliche, Soziale, Fürsorgliche der Medizin zugunsten von betriebswirtschaftlicher Rationalität und Logik auszulöschen. Dieses „einseitige, politisch herbeigeführte und gesteuerte Verständnis von Ökonomie“ hätte nicht nur zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Gesundheitsberufe geführt, sondern auch zu „bedenklichen Einbußen im Umgang mit Patienten“. Denn die Ökonomie sei eine Disziplin, die gut zu haushalten habe, um dem Menschen zu dienen. Maio weiter: „Das steht keineswegs im Gegensatz zur Ethik, sondern ist vielmehr Teil eben dieser, da wir ein Gebot der Wirtschaftlichkeit ethisch begründen müssen und können.“

Es gehe nicht darum, zu polarisieren oder gar Feindbilder zwischen Medizin und Ökonomie zu schaffen. Zu sagen, dass die Medizin nur Ärzte, jedoch keine Ökonomen brauche, sei grundlegend falsch. Vielmehr müsse die Funktion der Ökonomie kritisch hinterfragt werden. Es sei essentiell, zu verstehen, dass Medizin als soziale Praxis, die sich stets im Wandel befindet, keinem betriebswirtschaftlichen Finanzkalkül unterliegen kann. Denn Forschung und Wissenschaft würden schließlich nicht apodiktisch von Grundsätzen ausgehen, sondern sich vielmehr tagtäglich erneut und wiederholt in Frage stellen. „Münzt man industrielle Rationalität unreflektiert auf medizinische Rationalität um, so ergeben sich zweifelsohne Spannungsfelder, vor denen wir die Augen nicht verschließen dürfen“, resümiert der Experte. Besagte Spannungsfelder wiederum geben natürliche Anreize, einzusparen. Dies sei aufgrund der Ressourcenknappheit in der Medizin an sich nicht unvernünftig. Allerdings betreffe der Einspardruck vor allem personelle Ressourcen. Und besonders an diesem Punkt sieht Maio die Identität, den Kerngedanken der Medizin gefährdet. „Implementiert man eine industrielle Ablaufprozedur unhinterfragt in der Medizin, fasst hier plötzlich eine neue Rationalität Fuß. Spart man medizinisches Personal ein, minimiert man automatisch auch Zeit und Kontakt mit dem Patienten.“ Die Folge: Patienten würden „fließbandartig durchgeschleust, simplifiziert, schematisiert und kategorisiert, kurz gesagt in ihrer individuellen Besonderheit nicht mehr wahrgenommen“. Das Wesen der Medizin sei jedoch, den Patienten immer in seiner Gesamtheit, eingebettet in sein soziales Umfeld zu betrachten. Eine adäquate Anamnese, zutreffende Diagnose und anschließende Therapie könne nur unter Einbeziehung etwaiger Komorbiditäten sowie der Persönlichkeit und der individuellen Lebenssituation eines Patienten erfolgen – und dies brauche eben Zeit. „Es geht darum, Wissensformen zu synthetisieren, um im Einzelfall passende Entscheidungen treffen zu können.“ Jenes Wissen basiere nun auf Werten, die ökonomisch nicht messbar sind, die Medizin und ihren Grundgedanken der Humanität und Fürsorge jedoch auszeichnen.

Sich in der Medizin lediglich anhand messbarer Werte, anhand „schwarzer Zahlen“ zu definieren, erachtet Maio als „irrational“ und als schlichten „Gedankenfehler“. Denn sowohl Einspardruck als auch Rentabilitätskalkül – Stichwort Fallpauschalenregelung – würden keinesfalls die Effizienz steigern. Vielmehr werde dadurch Unproduktivität geschaffen und der Freiraum, sich auf den einzelnen Patienten einzulassen, wegrationalisiert. „Für einen Arzt dürfen Einnahmesituation und Gewinnsteigerung nicht relevant sein, zumindest nicht im direkten Umgang mit dem Patienten“, erläutert der Medizinethiker. Und weiter: „Das eindeutig Nützliche, das eindeutig Effektive und Heilsame müssen Ärzte immer ihren Patienten zu Gute kommen lassen. Betriebswirtschaftliches Rentabilitätsdenken im Kontakt mit dem Patienten ist unangebracht und wird der Medizin an sich nicht gerecht.“ Als effizient hingegen erachtet Maio vor allem, in Gespräche und Begleitung zu investieren. Sorgsam und gewissenhaft durchgeführte Erstgespräche schafften Vertrauen, verhinderten unnötigen Aktionismus, „machen die Medizin im Allgemeinen ruhiger“. Denn: „Die Misstrauensquote ist es, welche die Medizin unruhig und auch teuer macht.“ Strukturelle Veränderungen und Effizienzsteigerung im herkömmlich industriellen Sinne dürfen demnach die Begegnung zwischen Arzt und Patienten nicht beeinflussen. Sie sollten allenfalls „abseits des Krankenbetts demokratisch besprochen werden“.

Dahingehend streicht Maio besonders die Bedeutung eines „konstruktiven Dialogs zwischen Ökonomen und Medizinern“ hervor. Denn seiner Meinung zufolge sollte die Ökonomie der Medizin dienen, sich in ihre Richtung bewegen, sie optimieren, sie unterstützen. „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir Strukturen entfalten können, die uns jene Dinge ermöglichen, die wirklich wichtig und notwendig sind“, reflektiert der Experte. „Ärzte müssen den politischen Mut haben, exakt dafür einzustehen, darum zu kämpfen, um so zu verhindern, dass sich Kliniken und Spitäler hinter betriebswirtschaftlichen Belangen und schwarzen Zahlen verschanzen.“ Denn diese seien nach Ansicht von Maio keinesfalls ausschlaggebend für die Qualität der medizinischen Behandlung. Es handle sich hier lediglich um „eine politisch verordnete psychosoziale Rationierung“. Und weiter: „Operative Eingriffe werden zwar vorgenommen, aber Gespräch und Begleitung des Patienten sind nicht mehr möglich“, erläutert Maio. So werde dem Patienten zwar geholfen, dieser werde sich dabei jedoch nicht wohl, nicht gut aufgehoben fühlen. „Der Patient braucht den Eingriff, aber eben auch einen Ansprechpartner, der ihn versteht und ihm das Gefühl gibt, auch wirklich Hilfe zu bekommen.“

Was wirklich notwendig ist und ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patienten schafft, kann also weder algorithmisch festgelegt noch schematisiert von einem Fall auf den anderen umgemünzt werden. Die eigentlichen Werte der Medizin – darunter zwischenmenschliche Fürsorge, Sorgfalt, Achtsamkeit – dürfen nicht durch reine Finanzlogik, Gewinnmaximierung und Prosperität gestrichen werden. Denn dies wäre ein Widerspruch in sich. Wünschenswert wäre hingegen ein Dialog zwischen betriebswirtschaftlichem und medizinischem Denken. „Denn die Ökonomie kann die Medizin allenfalls in ihrer Weiterentwicklung bereichern – ohne sie ihrer Integrität zu berauben“, so Giovanni Maio.  

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2018