Dossier: Alkohol – Burnout – Depression: Schicksalhafte Wechselwirkungen

25.10.2018 | Themen


Alkoholabhängigkeit ist in Österreich kein Randproblem: Geschätzte 350.000 Menschen sind davon betroffen. Alkoholsucht tritt meist nicht isoliert auf, sondern oft in Kombination mit Burnout und Depression – wobei viele Betroffene Alkohol als Selbstmedikation einsetzen.
Lisa Türk

Der schwedische Arzt Magnus Huss war der erste, der im Jahr 1849 den Begriff des „Alkoholismus“ als Krankheit definierte. Gemäß der „Internationalen Klassifikation psychischer Störungen“ ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) orientiert sich das Alkoholabhängigkeitssyndrom (ICD-10, F10.2) heutzutage an folgenden sechs Kriterien: Verminderung der Kontrollfähigkeit, Toleranzentwicklung, körperliche Entzugserscheinungen bei Reduktion oder Absetzen der Substanz, Craving (eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren), Ignoranz bezüglich bereits nachgewiesener Schädigungen sowie Vernachlässigung von Interessen zugunsten des Alkoholkonsums. Treffen mindestens drei dieser Kriterien zusammen über mehrere Wochen respektive Monate hinweg zu, besteht per definitionem eine Alkoholsucht. Organische und soziale Schädigungen nach chronisch hohem Alkoholkonsum sind oft die Folge. Als psychische Komorbiditäten treten besonders häufig Burnout und Depression auf.

Unklare Grenzen

„Die Grenzen zwischen einem Burnout und einer Depression sind fließend“, erklärt Univ. Prof. Michael Musalek, Ärztlicher Direktor des Anton Proksch Instituts in Wien. Stehen Erschöpfung, Entfremdung und Leistungsreduktion mit einem hohen Arbeitspensum in Verbindung, „sollte man jedenfalls an ein Burnout denken.“ Dieses beginne sehr häufig im gesunden Stadium ohne offensichtliche Krankheitszeichen. Betroffene fühlen sich ausgebrannt, entfremden sich immer mehr von der Arbeit, den Sozialkontakten und von sich selbst; erste Probleme in der Partnerschaft treten auf. Im zweiten Stadium, einem Übergangsstadium zum Krankheitsstadium, erfolgt ein Hochfahren des vegetativen Nervensystems. „Speziell beobachtet man eine Zunahme des Sympathikotonus“, erklärt Musalek. Unruhe, Gereiztheit, Schlafstörungen, Herzfrequenz- und Blutdruckerhöhungen sind hier typisch. Dem Experten zufolge kommt es letztlich im dritten Krankheitsstadium zum Zusammenbruch des Sympathikotonus und dem Überwiegen des Parasympathikotonus: Schwerste Erschöpfungszustände, Antriebslosigkeit, Ausweglosigkeit und Depressionen können eintreten. Vor allem im dritten Stadium eines Burnouts wird eine gewisse Überschneidungsfläche zur Depression hin ersichtlich. „Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass jeder depressive Patient automatisch ein Burnout hat und umgekehrt“, streicht Musalek hervor. Im Prinzip seien es doch zwei verschiedene psychische Störungen. Univ. Prof. Karl Mann vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim zufolge kann hier eine Abgrenzung vor allem aufgrund der bei Depressionen stärkeren genetischen Komponente erfolgen. „Die hochkomplexe und stets individuelle genetische und persönlichkeitsbedingte Risikokonstellation kann gepaart mit diversen Umweltfaktoren zu Depressionen führen“, so der Experte. Beim Burnout, das formalistisch gesehen keine offizielle Diagnose darstellt, erachtet er die Umweltkomponente im Wesentlichen als ausschlaggebend.

Alkohol wirkt depressiogen

In welchem Zusammenhang können diese psychischen Störungen nun mit einer Alkoholsucht stehen? „Alkohol ist eine depressiogene Substanz und führt regelhaft zu depressiven Verstimmungen, wie man aus zahlreichen Untersuchungen weiß“, erläutert Musalek. Alkoholkranke Menschen sind demnach erwiesenermaßen einem erhöhten Risiko für Burnout und Depression ausgesetzt. Gleichzeitig liegt ein Konnex aus umgekehrter Perspektive vor: Für depressive Personen fungiert Alkohol in vielen Fällen als Selbstmedikation, als Tranquilizer, als Spannungs- und Angstlöser. Kurzfristig wird diese Wirkung auch erzielt – die Betonung liegt hier jedoch auf „kurzfristig“. Denn der Alkoholkonsum kann bei beginnenden oder latenten depressiven Verstimmungen in vielen Fällen rasch eine Eigendynamik entwickeln. Aufgrund der depressiogenen Eigenschaften verstärkt Alkohol sowohl Überlastungssyndrome als auch depressive Zustände mit der Folge, dass die Betroffenen in einen regelrechten „Teufelskreis“ geraten.

In Österreich kein Randproblem

Auch die soziale Komponente ist im Zusammenhang mit Alkoholkonsum nicht außer Acht zu lassen: Viele Menschen trinken, um „dazuzugehören“. In Österreich ist Alkoholkonsum Teil des Alltagslebens; der Druck ist groß, das allgemeine Problembewusstsein jedoch gering. Dies wird laut Musalek an der Tatsache ersichtlich, dass in Österreich die Gruppe der abstinenten Personen „relativ krank“ sei. Nur wenige davon würden aus Überzeugung keinen Alkohol trinken, sondern aufgrund einer vorhergehenden Alkoholabhängigkeit oder einer Alkoholfolgeerkrankung darauf verzichten. „Besonders Personen, deren Alkoholverträglichkeit aufgrund ihrer genetischen Determination hoch ist, neigen oftmals zu einem chronischen Konsum und geraten leicht in eine Abhängigkeit“, weiß Musalek.

Aktuell sind etwa 350.000 Österreicher alkoholabhängig. Geschätzte 600.000 bis 700.000 Österreicher haben ein Ernst zu nehmendes Alkoholproblem. Im Geschlechtervergleich positionieren sich die Männer vor den Frauen: Das Verhältnis liegt bei 3,5:1. Die Tendenz bei Frauen ist jedoch „massiv steigend“. Musalek weiter: „Als Problemkonsumentinnen gelten vor allem jene, die vor dem 16. Lebensjahr regelmäßig und in großen Mengen hochdosierten Alkohol trinken und viele Rauscherfahrungen durchleben.“ Hier bestehe bereits ein Verhältnis von 2:1. Im Geschlechterverhältnis insgesamt werde man sich „in etwa 20 bis 30 Jahren“ dieser Marke annähern. Die Gründe für diese Zunahme sieht der Experte vor allem in der besseren Verfügbarkeit von Alkohol und in den Mehrfachbelastungen von Frauen durch Beruf und Familie. Der Griff zum Glas hilft, um Spannungen besser auszuhalten.

Mehr Awareness

„Problematisch ist vor allem die gesellschaftliche Stigmatisierung aller drei Erkrankungen“, streicht Mann hervor. Vor allem die Alkoholproblematik sei aus der sozialen Perspektive betrachtet hochgradig schambesetzt und werde seitens des Patienten oftmals lange verheimlicht. Einerseits wird ein Alkoholproblem in vielen Fällen banalisiert oder bagatellisiert, andererseits wird es dramatisiert. Alkoholabhängige Personen werden von ihrem Umfeld nicht selten gemieden. Die Folge ist eine höchst ambivalente Situation: Auf der einen Seite ist das Problembewusstsein des Patienten durchaus vorhanden. Auf der anderen Seite setzt er jedoch alles daran, sein Problem geheim zu halten. Daraus wiederum resultiert ein Behandlungsverzug von durchschnittlich zehn Jahren. Sowohl Mann als auch Musalek betonen dahingehend die Wichtigkeit eines gesteigerten Problembewusstseins von Seiten der Ärzte aller Fachdisziplinen. „Man sollte immer die Zahlenverteilungen vor Augen haben. Fünf Prozent der gesamten Bevölkerung sind alkoholkrank“, so Musalek. Außerdem können einige organmedizinische Marker auf Alkoholmissbrauch hinweisen. Dazu zählen erhöhte Leberenzyme, Leberzirrhose, Schädigungen des Gastrointestinaltrakts, Polyneuropathie, kardiovaskuläre Störungen (besonders die dilatative Kardiomyopathie) und das toxische Knochenödem. Charakteristische Verdachtsmomente für Alkoholismus sind auch Hautveränderungen wie beispielsweise Rötungen oder Teleangiektasien auf Gesicht und Händen. Ein Arzt sollte vor allem im Zuge der Einstellung auf Antidepressiva eine Alkoholanamnese vornehmen. Denn Alkohol als depressiogene Substanz setzt die Wirkung eines Antidepressivums außer Kraft. „Essentiell ist es allenfalls, dem Patienten neutral und in vollster Wertschätzung die Möglichkeit zu bieten, über sein Problem zu sprechen, indem man es als Arzt direkt anspricht“, betont Mann. Die meisten Patienten seien über diesen „Anstoß von außen“ erleichtert.

Feinfühligkeit im Umgang

Im Zusammenhang mit Burnout und Depression unterstreicht auch Priv. Doz. Alexandra Schosser vom Zentrum für seelische Gesundheit Leopoldau in Wien die Wichtigkeit eines gesteigerten Problembewusstseins und einer allgemein erhöhten Aufklärungsarbeit gegenüber psychischen Erkrankungen und ihren Komorbiditäten. Beispielsweise Schlafprobleme, Konzentration- und Antriebsstörungen sowie auch diverse somatische Symptome wie beispielsweise Schmerzsymptomatik können auf eine zugrundeliegende psychische Erkrankung hindeuten und sollten „allenfalls eingehend überprüft werden“. Besondere Feinfühligkeit und Sensibilität seien dahingehend vor allem im sprachlichen Umgang mit dem Patienten gefragt. „Als Arzt sollte man dem Patienten Verständnis vermitteln und keinesfalls das Gefühl geben, eine Ausnahmeerscheinung zu sein“, erklärt die Expertin. So würde es vielen Betroffenen leichter fallen, sich ihre Erkrankung einzugestehen und sich auf eine Behandlung einzulassen.

Gute Behandlungserfolge

Denn grundsätzlich sind die Prognosen sowohl bei Alkoholsucht als auch bei Burnout und Depression gut. Bei letztgenannter sind vor allem in Kombination von Psychotherapie mit medikamentöser Behandlung im Allgemeinen sehr gute Erfolge zu erzielen. Die Expertin betont die Wichtigkeit einer möglichst frühzeitigen Therapie, denn „mit jeder depressiven Episode, die ein Patient durchlebt, steigt das Risiko in Hinblick auf eine erneute depressive Episode.“ Außerdem müsse jeder Patient als Individuum betrachtet werden, da Depressionen in vielen Fällen auch von der individuellen Persönlichkeitsstruktur beeinflusst werden. Perfektionismus, extrem hohes Leistungs- und Pflichtbewusstsein sowie die damit einhergehende Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse erhöhen das Risiko, an Depressionen zu erkranken. „Im Anschluss an eine Akutbehandlung der Depression zielt die Rehabilitation unter anderem darauf ab, zusammen mit dem Patienten dessen verinnerlichte Persönlichkeits- und Handlungsmuster zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern“, erklärt Schosser. Dabei gehe es nicht nur um eine Entschleunigung auf beruflicher Ebene, sondern auch um die soziale Teilhabe und darum, den Patienten wieder zurück ins Leben zu führen. „Eine erneute depressive Episode kann man nie gänzlich ausschließen. Essentiell ist eine adäquate Begleitung, um dem Patienten zu zeigen, wie er mit alltäglichen Belastungen umgehen kann“, betont Schosser. So könne auch das Risiko, Alkohol als Selbstmedikation und Tranquilizer zu missbrauchen, deutlich minimiert werden.

Die Gründe für einen Therapieerfolg bei Burnout sind laut den Experten eher in exogenen Faktoren zu sehen. Gelingt es, den Betroffenen adäquat zu behandeln, persönlichkeitsbedingte Verhaltensmuster zu reflektieren und ihn schrittweise in ein angepasstes, entschleunigtes Sozial- und Arbeitsumfeld einzugliedern, bestehen ebenfalls sehr gute Behandlungschancen. „Das Problem bei der Behandlung eines Burnouts ist in den meisten Fällen nicht auf die Therapie per se zurückzuführen, sondern eher auf das unveränderte Arbeitsumfeld des Patienten“, erläutert Musalek.

Bei frühzeitiger und regelmäßiger Behandlung kann bei Alkoholabhängigkeit in 80 Prozent der Fälle ein Erfolg erzielt werden. Verkennt man jedoch ein Alkoholabhängigkeitsproblem respektive wird es nur unregelmäßig und somit unzureichend behandelt, sinkt die Erfolgsquote laut Musalek auf zehn Prozent.

Neue Therapieansätze

Ein vielversprechender neuer Behandlungsansatz bei Alkoholabhängigkeit ergibt sich Mann zufolge aus dem Bereich der Pharmakotherapie. Kernelement des Ansatzes ist nicht der gänzliche Verzicht auf Alkohol, sondern ein reduzierter Konsum, das „kontrollierte Trinken“. „Durch den Einsatz von Pharmakotherapeutika wird die Produktion von körpereigenen Opiaten im Gehirn unterdrückt. Die gewöhnlich durch Alkohol hervorgerufene belohnende und entspannende Wirkung bleibt somit aus“, erklärt Mann. Das genannte Prinzip ist durch Opiatantagonisten mit Naltrexon (ReVia®) und Nalmefen (Selincro®) zu erzielen. Alkoholabhängigen Patienten wird damit der Reiz am Trinken genommen. Laut Mann belegen empirische Daten aus Placebo- kontrollierten Studien den Erfolg: Alkoholabhängige Patienten kommen unter der Medikation von Pharmakotherapeutika auf einen deutlich reduzierten Alkoholkonsum, ohne dabei gänzlich abstinent sein zu müssen. „Viele Personen stoßen sich an dem Gedanken, vollkommen auf Alkohol verzichten zu müssen und lehnen eine Behandlung daher ab“, betont Mann. Wird der vorliegende, psychologisch weniger radikal erscheinende Ansatz nun in die Praxis umgesetzt, könnte man auch deutlich mehr Menschen für eine Therapie gewinnen. Mann weiter: „Hier zeigt sich neuerlich, welch außerordentlich hohes Maß an Problembewusstsein und Sensibilität im Umgang mit alkohol- sowie psychisch kranken Patienten notwendig ist.“ 

Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2018