Personen: Wenn Gedanken Gläser versetzen

25.01.2018 | Politik


Gernot Müller-Putz, Leiter des Instituts für Neurotechnologie an der TU Graz, forscht seit fast zwei Jahrzehnten an gedankengesteuerten Neuroprothesen für Handfunktionen. Mit unverminderter Leidenschaft. Von Ursula Jungmeier-Scholz

Mit Gedanken einen Roboter steuern – wer möchte das nicht?“, lautet die Antwort von Gernot Müller-Putz auf die Frage, wie er zu seinem Forschungsgebiet gekommen ist. Als während seines Studiums der Elektro- und Biomedizinischen Technik ein derartiges Thema für eine Projektarbeit vergeben wurde, war er sofort Feuer und Flamme. Heute, fast 20 Jahre später, ist er nicht nur Professor für Semantische Datenanalyse an der Fakultät für Informatik und Biomedizinische Technik der Technischen Universität Graz, sondern auch noch immer im selben Forschungsgebiet tätig. Mit unverminderter Leidenschaft. Sogar zu jenem querschnittgelähmten Mann, dessen Orthese das Diplomarbeits-Sujet von Müller-Putz war, hält er noch Kontakt.

Müller-Putz leitet außerdem das institutseigene Labor für Brain Computer- Interfaces (BCI). Aktuell koordiniert er neben seiner Lehrtätigkeit unter anderem das EU-Projekt „MoreGrasp“ – grasp wie greifen –, das die Weiterentwicklung einer Gedanken-gesteuerten Neuroprothese für Querschnittgelähmte sowie deren Evaluierung in einer Langzeitstudie umfasst. „Gesunden Menschen ist das selten bewusst, aber Greifen ist ein hochkomplexer Vorgang.“ Daher bündelt das seit 2015 laufende Projekt Kompetenzen aus dem klinischen Bereich ebenso wie aus der Medizintechnik: beteiligt sind die Uniklinik Heidelberg, die Universität Glasgow, das Grazer Know Center sowie die Hamburger Medel GmbH und die spanischen BitBrain Technologies. Erste Projektergebnisse präsentierte Müller-Putz im Vorjahr auf der internationalen Brain Computer-Interfaces-Konferenz in Graz.

Suche nach Probanden

Das für drei Jahre anberaumte Forschungsprojekt MoreGrasp hat sich zum Ziel gesetzt, die optimierte End-Anwendung letztlich mit 15 Nutzern zu evaluieren.

Das System selbst konnte in den vergangenen beiden Projektjahren bereits wesentlich verfeinert werden. „Früher haben sich die Teilnehmer nur vorgestellt, dass sie eine Hand- oder Fußbewegung ausführen. Die entsprechenden Hirnsignale wurden an der Kopfhaut detektiert und in Elektroimpulse an die Handmuskulatur umgewandelt“, erzählt Müller-Putz. „Nun versuchen die Probanden, die wirkliche Bewegung – etwa die Hand aufzumachen oder einen Zylindergriff, um ein Glas zu halten – auszuführen. Selbst wenn das aufgrund ihrer Rückenmarkschädigung nicht geht, sind die zugehörigen Hirnsignale unterscheidbar und führen zu einer natürlicheren Steuerung für die Neuroprothese.“

Auch die elektrische Stimulation der Muskeln konnte verbessert werden. „Bisher konnte die Prothese nur rudimentäre Bewegungsmuster generieren: Hand auf oder Hand zu.“ Ein Durchbruch wurde im Bereich der Signalweitergabe an den Muskel per Multi-Elektrodenarray erzielt: Wird eine (Dreh-)Bewegung ausgeführt, verändert sich die Position der Haut in Bezug auf den darunter liegenden Muskel; die Elektroden sitzen somit nicht mehr über dem idealen Ansatzpunkt. Dadurch kann es passieren, dass sich der Griff lockert und das erfasste Glas aus der Hand fällt. „Diese Ungenauigkeit können wir nun herausrechnen und die Elektroden virtuell entsprechend verschieben.“

Mit EEG-Headset im Warenhaus

Detektiert werden die Hirnsignale nicht-invasiv über eine Elektroden-besetzte Haube an der Schädeloberfläche und werden danach von einem kleinen, leichten Gerät verstärkt. Das verwendete EEG-Headset ähnelt einer Badekappe mit feinen heraushängenden Kabeln – ein gewöhnungsbedürftiger Anblick für die Menschen in der Umgebung. „Aber vielleicht kommt einmal ein Industriedesigner, der die Haube ,verhübschen‘ möchte“, so Müller-Putz. Wie das EEGHeadset auf uninformierte Beobachtende wirkt, hat er vorab selbst ausprobiert: Er setzte die Haube für einen halben Tag auf und ist damit durch Graz gegangen – auch in das größte innerstädtische Warenhaus. Im Schlepptau hatte er eine mit Fotoapparat ausgerüstete Kollegin. „Einige Leute haben schon komisch geschaut. Aber eigentlich hat ja heute schon fast jeder Zweite Schnüre aus dem Ohr hängen und das gilt auch als normal.“

Die Übertragung der verstärkten Hirnsignale via Funktioneller Elektrostimulation (FES) an Hand und Arm geschieht mit einer mobilen Rechnereinheit, die am Rollstuhl unauffällig positioniert ist. Auch hier konnte durch MoreGrasp die Nutzerfreundlichkeit erhöht werden. Derzeit gibt es für das System funktionierende Prototypen, wobei sämtliche Komponenten drahtlos miteinander kommunizieren und die Nutzer nur ein Tablet bedienen müssen – ein Stück Ingenieursarbeit, auf das Müller-Putz besonders stolz ist.

Wesentlich dabei ist die individuelle Adaptierung, denn jeder Mensch verfügt über eigene EEG-Muster und benötigt eine persönlich angepasste Elektrostimulation am Unterarm. Um diese zu optimieren, muss trainiert werden – und genau dafür wurde im Rahmen von MoreGrasp sogar ein eigenes Computerspiel entwickelt. Lernen darf auch Spaß machen. Geforscht wird unter Mithilfe von Querschnittgelähmten und – wie so oft im universitären Kontext – von Freiwilligen – meist Studenten. Dabei hat sich gezeigt, dass die Betroffenen klarere Hirnsignale aussenden. „Die Motivation, sich zu konzentrieren, ist bei ihnen möglicherweise höher“, vermutet Müller-Putz.

„Nicht alles ein Drama“

Seine Kinder, acht und elf Jahre alt, finden die Arbeit des Vaters „cool“. Er selbst hatte es sich immer zum Ziel gesetzt, sinnvoll und anwendernah zu forschen – und nach diesen Kriterien wählt er auch die Themen für die Projekte seiner Studierenden aus. Das Wesentlichste, das er im Laufe der engen Zusammenarbeit mit Querschnittgelähmten gelernt hat: „nicht alles Unangenehme,was man erlebt, ist ein Drama“.

Im Umgang mit Betroffenen musste er zunächst eine gewisse Scheu ablegen. „Ich habe mich gefragt, ob ich einfach so sagen kann: ,gehen wir in die Küche‘ oder ob ich da ,rollen‘ sagen muss.“ Schließlich ist er zur Erkenntnis gekommen: „Ich setze mich hin, um auf Augenhöhe kommunizieren zu können. Ansonsten benehme ich mich ganz normal.“

Am Ziel fühlt sich der 44-jährige Oberösterreicher, der erst kürzlich den Ludwig-Guttman-Preis der Deutschsprachigen Medizinischen Gesellschaft für Paraplegie gewonnen hat, noch nicht. Nachdem er sich bei seinen Forschungsarbeiten zunächst auf die Hand konzentriert hat, möchte er die Bewegung des gesamten Armes erforschen und steuern können. Ein erster Ansatz dazu ist sein vom Europäischen Forschungsrat (ERC) gefördertes Projekt „Feel your reach“.

Die Arbeit prägt ihn: „Ich kann nicht mehr zuschauen, wenn Leute waghalsige Sprünge machen – weil ich weiß, welche Folgen das haben kann.“ Er kann nicht zuschauen – wohlgemerkt. Denn selbst sucht er den Ausgleich zur beruflichenHerausforderung weiterhin im Sport: beim Mountainbiken und Bergsteigen – und das auch nicht immer auf ganz harmlosen Routen…

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2018