Ver­te­bro­ba­sil­ä­rer Insult – Ver­zö­gerte Diagnostik

10.05.2018 | Medizin


Ein Insult in der hin­te­ren Strom­bahn wird signi­fi­kant spä­ter dia­gnos­ti­ziert und behan­delt als ein Insult im Bereich der vor­de­ren Strom­bahn. Das ergibt eine Ana­lyse der Daten von mehr als 70.000 Pati­en­ten aus dem Öster­rei­chi­schen Schlag­an­fall­re­gis­ter.
Made­leine Rohac

Peter Som­mer von der Neu­ro­lo­gi­schen Abtei­lung der Kran­ken­an­stalt Rudolfs­tif­tung in Wien hat Daten von mehr als 70.000 Pati­en­ten aus den Jah­ren 2003 bis 2015 aus dem Öster­rei­chi­schen Schlag­an­fall­re­gis­ter ana­ly­siert. Fast 12.000 von ihnen haben einen Infarkt im Gebiet der ver­te­bro­ba­sil­ä­ren Gefäß­ver­sor­gung erlit­ten und wur­den signi­fi­kant spä­ter dia­gnos­ti­ziert und behan­delt als Pati­en­ten mit Insul­ten im Bereich der vor­de­ren Strom­bahn. Im prähos­pi­ta­len Bereich – gekenn­zeich­net durch die Onsetto- Door-Time“ (ODT) – ver­lo­ren die Pati­en­ten mit Schlag­an­fall der pos­te­rio­ren Strom­bahn im Durch­schnitt 27 Minu­ten auf die­je­ni­gen mit Schlag­an­fäl­len der vor­de­ren Strom­bahn. Bei der Zeit im Spi­tal waren es 13 Minu­ten. „Diese Ver­zö­ge­run­gen sind kli­nisch rele­vant“, erklärt Som­mer. „Wir konn­ten zei­gen, dass der Out­come der Pati­en­ten – gemes­sen mit der modi­fi­zier­ten Ran­kin-Skala zur Beur­tei­lung neu­ro­lo­gi­scher Defi­zite nach Schlag­an­fall – schlech­ter ist, wenn sie spä­ter kom­men und spä­ter behan­delt werden.“ 

Die Ursa­che für die län­ge­ren Zeit­span­nen sieht Som­mer in der Fehl­in­ter­pre­ta­tion von Sym­pto­men. Zu den Anzei­chen für Schlag­an­fälle der hin­te­ren Strom­bahn zäh­len Gesichts­feld­ein­schrän­kun­gen, koor­di­na­tive Stö­run­gen und Schwin­del. „Der häu­fig prä­kli­nisch ver­wen­dete FAST-Test erkennt nur 60 Pro­zent der Schlag­an­fälle der hin­te­ren Strom­bahn“, erklärt Som­mer. Bezieht man eine ori­en­tie­rende Gesichts­feld­prü­fung und einen Fin­ger-Nase-Ver­such zur Erfas­sung einer Ata­xie mit ein, erhöht sich die Erken­nung auf 80 Pro­zent. Univ. Prof. Wil­fried Lang von der Abtei­lung für Neu­ro­lo­gie, Neu­ro­lo­gi­sche Reha­bi­li­ta­tion und Akut­ger­ia­trie am Kran­ken­haus der Barm­her­zi­gen Brü­der in Wien ergänzt: „Die Gesichts­feld­prü­fung haben wir gemein­sam mit den Ret­tungs­or­ga­ni­sa­tio­nen als zu umständ­lich für den Aus­trian Pre­hos­pi­tal Stroke Scale befun­den.“ Ein schwe­rer Schlag­an­fall der hin­te­ren Strom­bahn sollte den Aus­sa­gen von Lang zufolge mit dem Aus­trian Pre­hos­pi­tal Stroke Scale (APSS) „trotz­dem“ erfasst wer­den. Genau das werde in der pro­spek­ti­ven Eva­lu­ie­rung in Tirol aktu­ell unter­sucht. Danach werde man wis­sen, mit wel­cher Sen­si­ti­vi­tät und Spe­zi­fi­tät Ereig­nisse einer bestimm­ten Gefäß­re­gion zuge­ord­net wer­den könnten. 

Pati­en­ten mit Schlag­an­fäl­len der hin­te­ren Strom­bahn zei­gen ins­ge­samt eine nied­ri­gere Punk­te­zahl mit dem bei der Hos­pi­ta­li­sie­rung ver­wen­de­ten Natio­nal Insti­tu­tes of Health Stroke Scale (NIHSS). Des­we­gen sei es mög­lich, dass Sym­ptome nicht erfasst und kli­ni­sche Defi­zite unter­schätzt wür­den. Dies sei laut Som­mer ein schon häu­fig geäu­ßer­ter Kri­tik­punkt an die­sem Rating. Bei der Triage kommt es eben­falls nicht sel­ten zu Ver­zö­ge­run­gen, weil Pati­en­ten mit Gesichts­feld­ein­schrän­kun­gen zuerst auf den Augen­arzt war­ten oder sol­che mit Schwin­del auf ein HNO-Kon­sil. „Bei die­sen Sym­pto­men auch an den Schlag­an­fall zu den­ken ist wich­tig“, betont Som­mer. Ver­zö­ge­run­gen zu ver­mei­den und Behand­lungs­pfade zu opti­mie­ren sind zen­trale Anlie­gen von bei­den Experten. 

„Unser Bestre­ben ist es, ein Bewer­tungs­in­stru­ment zur Ver­fü­gung zu stel­len, das wirk­lich ganz am Anfang, näm­lich an der Ret­tungs­leit­stelle oder von Ret­tungs­sa­ni­tä­tern, ein­ge­setzt wer­den kann und dabei in der Lage ist, schwere von leich­te­ren Schlag­an­fall-Syn­dro­men zu unter­schei­den“, betont Lang. Beim Aus­trian Pre­hos­pi­tal Stroke Scale han­delt es sich um ein prähos­pi­ta­les Scree­ning-Instru­ment; die defi­ni­tive Dia­gnose kann erst intra­hos­pi­tal nach Bild­ge­bung und neu­ro­lo­gi­scher Unter­su­chung erfol­gen. Der FAST-Test ist für die Unter­schei­dung ‚Schlag­an­fall eher ja oder nein‘ gedacht; der RACE-Scale mehr für die Triage in der Not­fall­auf­nahme. Die darin ent­hal­te­nen Items für Apha­sie und Agno­sie – der soge­nannte Hemi­n­eglect – sind für den peri­phe­ren Ein­satz zu kompliziert. 

Der Aus­trian Pre­hos­pi­tal Stroke Scale (APSS) ver­wen­det den FAST-Test erwei­tert um Fra­gen in Bezug auf die Bein­mo­to­rik und auf einen even­tu­el­len Herd­blick. Bei einem Anruf bei der Leit­stelle wird die anru­fende Per­son gebe­ten, den Pati­en­ten zu einem Lächeln auf­zu­for­dern und zu beob­ach­ten, ob es dabei eine Mund­schiefe gibt (Face). Anschlie­ßend soll der Pati­ent beide Arme heben und dabei wird auf eine Asym­me­trie geach­tet (Arm). In wei­te­rer Folge wie­der­holt der Pati­ent einen ein­fa­chen Satz wie zum Bei­spiel „die Blu­men blü­hen auf der Wiese“, wobei eine even­tu­elle Undeut­lich­keit der Spra­che zu Tage tritt. (Speech). Fer­ner sol­len nach­ein­an­der beide Beine geho­ben und even­tu­elle Sei­ten-Unter­schiede beschrie­ben wer­den (Bein­mo­to­rik). Abschlie­ßend wird gefragt, ob der Pati­ent den Kopf und /​oder den Blick starr nach einer Seite gerich­tet hat und ob er den Blick/​Kopf zur ande­ren Seite bewe­gen kann (Herd­blick). Die Ergeb­nisse wer­den mit unter­schied­li­chen Punk­te­wer­ten ver­se­hen und der mög­li­che Schwe­re­grad des neu­ro­lo­gi­schen Zustands­bil­des ermit­telt. „Retro­spek­tiv hat sich gezeigt, dass auf diese Weise ab einem bestimm­ten Score auf einen arte­ri­el­len Ver­schluss im pro­xi­ma­len Arte­ri­en­ge­biet und damit einen schwe­ren Schlag­an­fall geschlos­sen wer­den kann“, berich­tet Lang. Aktu­ell läuft die pro­spek­tive Eva­lu­ie­rung in Tirol; Nie­der­ös­ter­reich und Wien sol­len fol­gen. Die Wer­tig­keit eines sol­chen prähos­pi­ta­len Rating Instru­ments für die wei­tere Ver­sor­gung schwe­rer Schlag­an­fälle wird aktu­ell im Rah­men einer Stu­die in Kata­lo­nien unter­sucht. Ret­tungs­sa­ni­tä­ter wur­den dort flä­chen­de­ckend in der Anwen­dung des RACE-Scores geschult. Pati­en­ten mit einem auf diese Weise als schwer bewer­te­tem Insult wer­den ent­we­der über eine Stroke Unit oder gleich direkt an ein inter­ven­tio­nel­les Zen­trum geschickt. „Die Ergeb­nisse, wel­cher Weg bes­ser ist, sind noch nicht aus­ge­wer­tet“, erklärt Lang.

Throm­bo­lyse & Thrombektomie 

In Öster­reich erlei­den etwa 25.000 Men­schen pro Jahr einen Schlag­an­fall, 85 Pro­zent davon sind ischä­mi­scher Natur. Die sys­te­mi­sche intra­ve­nöse Throm­bo­lyse, mit rekom­bi­nan­tem Tis­sue-Plas­mi­no­gen- Akti­va­tor (rtPA) als eine eta­blierte Behand­lungs­säule des aku­ten ischä­mi­schen Hirn­in­farkts dient der Wie­der­eröff­nung des Gehirn­ge­fä­ßes in einem Zeit­fens­ter von maximal 4,5 Stun­den nach Beginn der Kli­nik. Zusätz­lich ist die endo­vas­ku­läre mecha­ni­sche Throm­bek­to­mie für große Gefäß­ver­schlüsse im Bereich der Arte­ria cere­bri media und der dista­len Arte­ria caro­tis interna Methode der Wahl. In der hol­län­di­schen MR CLEAN-Stu­die, die 2015 im New Eng­land Jour­nal of Medi­cine publi­ziert wurde, konnte erst­mals die deut­li­che Über­le­gen­heit der endo­vas­ku­lä­ren Throm­bek­to­mie für das pro­xi­male Strom­ge­biet gezeigt werden. 

Die Zeit­spanne vom Ein­set­zen der Sym­ptome bis zum The­ra­pie­start (Onset-to-Tre­at­ment-Time, OTT) sollte für die intra­ve­nöse Throm­bo­lyse bei maximal 4,5 Stun­den, für die mecha­ni­sche Throm­bek­to­mie maximal bei sechs Stun­den lie­gen. Gene­rell gilt: je kür­zer, desto bes­ser. Inner­halb des Zen­trums klappt es meist. „Im Ide­al­fall kom­men Stroke Units auf eine Door-to-Needle-Time (DNT, Zeit von der Ankunft in der Kli­nik bis zum „Set­zen“ der Nadel; Anm.) von unter 30 Minu­ten“, berich­tet Peter Som­mer von der Neu­ro­lo­gi­schen Abtei­lung der Kran­ken­an­stalt Rudolfs­tif­tung in Wien.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2018