Unspezifischer Kreuzschmerz: Neue Leitlinie erstellt

15.08.2018 | Medizin


Unter der Verantwortung des Gesundheitsministeriums mit Unterstützung durch die Projektgruppe Versorgungsforschung der ÖÄK wurde in Zusammenarbeit mit den assoziierten Fachgesellschaften der ÖÄK eine Leitlinie* zum Thema „Unspezifischer Kreuzschmerz“ erstellt. Dieser sollte – um Chronifizierung zu vermeiden – so früh wie möglich vorzugsweise mit nicht-medikamentösen Maßnahmen behandelt werden. Bei Chronifizierung wird eine umfassende multimodale Therapie/Rehabilitation empfohlen.

Die wichtigsten Empfehlungen sind: muskuloskelettale Beschwerden sollten als sich wechselseitig verstärkende Kreisläufe auf mehreren Ebenen (Körper/ Psyche/Soziales) betrachtet werden. Ziel ist es, bedrohliche Erkrankungen mit abwendbarem Verlauf frühestmöglich auszuschließen und durch eine rechtzeitige Behandlung chronische Verläufen vorzubeugen. Primäres Therapieziel ist die Schmerzminderung beziehungsweise Schmerzbekämpfung. Psychosozialen Risikofaktoren und Risikofaktoren am Arbeitsplatz für die Chronifizierung soll frühzeitig entgegengewirkt werden.

Diagnostik

Wenn sich bei Patienten mit akuten Kreuzschmerzen durch die Anamnese und die körperliche Untersuchung beim Erstkontakt kein Hinweis auf einen gefährlichen Verlauf oder andere Ernst zu nehmende Pathologien ergibt, wird empfohlen, keine weiteren diagnostischen Maßnahmen durchzuführen. Die sorgfältige Anamnese umfasst Schmerzcharakteristik, Lokalisation, Ausstrahlung, Beginn, auslösende, verstärkende oder lindernde Maßnahmen, den tageszeitlichen Verlauf, Stärke und Beeinträchtigung bei täglichen Verrichtungen und frühere Episoden. Nachgehen sollte man Hinweisen auf extravertebragene Ursachen sowie Warnhinweisen auf spezifische Ursachen mit dringendem Handlungsbedarf; auch solchen, bei denen eine Verlaufsbeobachtung angezeigt erscheint. Bei extravertebragenen Ursachen ist besonders an abdominelle und viszerale Prozesse, Gefäßveränderungen, gynäkologische, urologische, neurologische, psychosomatische und psychiatrische Ursachen zu denken.

Im Hinblick auf spezifische Ursachen sollte unter Anderem an eine Fraktur/Osteoporose, Infektion, Radikulopathien/Neuropathien, Tumormetastasen, axiale Spondyloarthritis (Morbus Bechterew) gedacht werden. Die körperliche Untersuchung soll durchgeführt werden, um Ernst zu nehmende Pathologien zu erkennen und die Wahrscheinlichkeit von abwendbaren gefährlichen Erkrankungen abzuschätzen.

Die Basisuntersuchung umfasst Inspektion, Palpation, Prüfung auf lokalen Druck- oder Klopfschmerz des Processus spinosus oder der Iliosacralgelenke und die orientierende Beweglichkeitsprüfung: Ante-/Retro-/ Lateralflexion der Lendenwirbelsäule, orientierende Prüfung von Muskelkraft und Sensibilität, eventuell Laseque-Zeichen und Bragard-Test, Untersuchung des sacro-iliacalen Gelenkes, Finger- Boden-Abstand, Schober-Zeichen, Beweglichkeitsprüfung der Hüftgelenke, Patrick-Zeichen sowie Vor- und Rücklaufphänomene. Bei einer neurologischen Begleitsymptomatik wird eine ergänzende Basisuntersuchung empfohlen: Untersuchung der Muskelkraft von Kennmuskeln sowie Kennreflexe und Nervendehnungszeichen. Bei spätestens vier Wochen Schmerzdauer und unzureichendem Therapieerfolg trotz leitliniengerechter Therapie sollen psychosoziale Faktoren durch den koordinierenden Arzt mit einem standardisierten Screening-Instrument abgefragt werden. Dies gilt auch für arbeitsplatzbezogene Risikofaktoren.

Bildgebung

Bei akuten und rezidivierenden Kreuzschmerzen ohne relevanten Hinweis auf gefährliche Verläufe und andere Ernst zu nehmende Pathologien in Anamnese und körperlicher Untersuchung soll vorerst keine bildgebende Diagnostik durchgeführt werden. Allerdings: Bestehen nach vier bis sechs Wochen leitliniengerechter Therapie anhaltende aktivitätseinschränkende oder progrediente Kreuzschmerzen weiterhin, ist die Indikation für eine bildgebende Diagnostik zu überprüfen.

Labor

Bei akuten Kreuzschmerzen ohne relevanten Hinweis auf gefährliche Verläufe oder andere Ernst zu nehmende Pathologien soll keine routinemäßige Laboruntersuchung durchgeführt werden. Bei chronischen Kreuzschmerzen unklarer Ursache und Beginn vor dem 45. Lebensjahr ist bei Vorliegen von mehr als einem weiteren typischen Symptom einer Spondyloarthritis die Bestimmung von HLA B27 diagnostisch sinnvoll. Liegen hingegen Warnhinweise auf spezifische Ursachen vor, sollen je nach Verdachtsdiagnose und Dringlichkeit weitere bildgebende Untersuchungen oder Laboruntersuchungen und/oder Überweisungen an spezielle fachärztliche Behandlungen unmittelbar erfolgen.

Bestehen die Schmerzen trotz leitliniengerechter Therapie länger als zwölf Wochen, weiters bei unzureichendem Behandlungserfolg nach sechs Wochen Schmerzdauer sowie dem Vorliegen von psychosozialen und/oder arbeitsplatzbezogenen Risikofaktoren oder bei chronisch unspezifischen Kreuzschmerzen mit erneuter therapieresistenter Exazerbation wird ein interdisziplinäres Assessment für die weitere Therapieempfehlung vorgeschlagen.

Therapieplanung

Den Patienten wird empfohlen, weiterhin aktiv zu bleiben. Abgeraten wird von Bettruhe, harten Matratzen, Kinesiotaping, medizinischen Hilfsmitteln. In der akuten Phase sollte eine rasche Symptom-adäquate Therapie erfolgen. Diese umfasst nichtmedikamentöse Therapien wie Bewegungstherapie, manuelle Medizin, kombinierte physikalische Therapieformen, bei ausbleibendem Erfolg Akupunktur, bei Chronifizierungsrisiko Entspannungsverfahren (progressive Muskelrelaxation) und medikamentöse Therapie – (siehe Empfehlung 5-1).

Auch die US-amerikanische Leitlinie „Non invasive treatments for acute, subacute and chronic low back pain: a clinical practice guideline from the american college of physicians 2017“ enthält diese Empfehlung zur vorerst nicht-medikamentösen Therapie.

Liegen psychosoziale Risikofaktoren vor, wird Verhaltenstherapie angeraten.

Neben physikalischen Modalitäten in Kombination werden in verschiedenen Phasen Einzelanwendungen oder Kombinationen von Modalitäten wie Interferenzstromtherapie, Kurzwellendiathermie (nur im Ausschluss effektiver Therapiemethoden), Lasertherapie, Heilmassage, Rückenschule, Wärmetherapie (Wärmepackungen), Impulsstrombehandlungen wie TENS, therapeutischer Ultraschall, neuromuskuläre Elektrostimulation (Schwellstrom), Bewegungstherapie und medizinische Trainingstherapie sowie komplexe Balneotherapie empfohlen. Abgeraten wird von Magnetfeldtherapie, perkutaner elektrischer Nervenstimulation (PENS), Traktion mit Gerät. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass dies nicht die Indizierung bei spezifischen Formen von Kreuzschmerz betrifft; hier können diese Verfahren sehr wohl angezeigt sein. Auch Yoga und Tai Chi werden empfohlen.

Eine medikamentöse Therapie unterstützt im akuten Stadium nichtmedikamentöse Maßnahmen sowie in der chronischen Phase die multimodalen Behandlungsprogramme bei nicht tolerabler schmerzbedingter funktioneller Beeinträchtigung. Zu bedenken sind relevante Risiken mit zum Teil auch erheblichen gesundheitlichen Folgen besonders bei Langzeitanwendung. Deshalb wird empfohlen, Nutzen und Risiken einer medikamentösen Behandlung sorgfältig abzuwägen. 

NSAR sollten zur Behandlung von unspezifischen Kreuzschmerzen in der niedrigsten wirksamen Dosierung und so kurz wie möglich angewendet werden. Sie können parenteral, i. v. verabreicht werden, wobei die orale Gabe zu bevorzugen ist. Bei Risiken für gastrointestinale Komplikationen sollen prophylaktisch Protonenpumpenhemmer, Misoprostol oder der H2-Blocker Famotidin gegeben werden. COX2- Hemmer werden empfohlen, wenn NSAR kontraindiziert sind oder nicht vertragen werden. Metamizol soll in der niedrigsten wirksamen Dosierung und so kurz wie möglich angewendet werden, wenn NSAR kontraindiziert sind. Vom Einsatz von Paracetamol wird abgeraten. Opioid-Analgetika können akuten unspezifischen Kreuzschmerzen bei fehlendem Ansprechen oder Vorliegen von Kontraindikationen gegen Nichtopioid-Analgetika angewendet werden. Sie sind eine Therapieoption bei chronisch unspezifischen Kreuzschmerzen für vier bis zwölf Wochen, sollen aber regelmäßig evaluiert werden. Zur Langzeitbehandlung sollten sie nur im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes angewendet werden, solange eine Wirksamkeit gegeben ist. Transdermale Opioide sollten für die Behandlung von akuten und subakuten nicht-spezifischen Kreuzschmerzen nicht zum Einsatz kommen. Empfohlen werden Muskelrelaxantien bis maximal zwei Wochen Therapiedauer, wenn andere Verfahren sich als therapieresistent erwiesen haben. Antidepressiva sollen nur bei therapieresistenten chronischen Rückenschmerzen oder psychischen Komorbiditäten zum Einsatz kommen. Nicht empfohlen werden Antiepileptika. Topisch applizierbare Medikamente in Form von Capsaicin- Pflastern und Capsaicin-Cremes werden empfohlen, nicht aber topisch applizierbare NSAR. Intravenös applizierbare Schmerzmittel, Lokalanästhetika, Glukokortikoide und Mischinfusionen können zur Behandlung nicht spezifischer Kreuzschmerzen angewendet werden, intramuskulär oder subkutan applizierbare hingegen nicht. Die therapeutische Lokalanästhesie kann zur Behandlung von unspezifischen Kreuzschmerzen verwendet werden. Bildgebend gezielte perkutane Therapieverfahren können für die Diagnostik und Therapie von unspezifischen Kreuzschmerzen angewendet werden, interventionelle Schmerztherapie (Radiofrequenzverfahren) können nach einer akribischen und kritischen Testung angewendet werden. Von operativen Therapieverfahren wird abgeraten.

Für die Prävention von unspezifischen Kreuzschmerzen wird körperliche Aktivität und Bewegung empfohlen. Dabei sollte Edukation nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell erfolgen und Maßnahmen am Arbeitsplatz gesetzt werden.

Bei chronifizierten Stadien (mindestens drei Monate ununterbrochene Schmerzdauer und erhebliche schmerzrelevante psychische Komorbiditäten) sind multimodale Therapieprogramme und medizinische Rehabilitation angezeigt, wenn weniger intensive evidenzbasierte Therapieverfahren unzureichend wirksam waren. Anmerkung: Multimodale Therapieprogramme umfassen schmerzmedizinische Behandlung (physikalische Therapiemodalitäten, manuelle Therapie, medikamentöse Therapie), intensive Information und Schulung auf Basis eines biopsychosozialen Krankheitsmodells unter Bezug auf die individuelle Problematik, belastungsdosierte Steigerung der körperlichen Aktivität, Körperwahrnehmungstraining, Schmerz-psychotherapeutische Behandlungsmaßnahmen, Stärkung der eigenen Ressourcen im Umgang mit Schmerz und Beeinträchtigung, Erlernen von Entspannungs- und Stressbewältigungstechniken, Genusstraining, störungsorientierte Einzeltherapie, Einbeziehung von relevanten Komorbiditäten in das Therapiekonzept. Gefordert wird in der Leitlinie ein Therapieumfang von 100 Therapiestunden innerhalb von vier bis sechs Wochen. Wohnortnahe medizinische Rehabilitationsmaßnahmen werden bei chronischen und chronisch rezidivierenden Kreuzschmerz mit relevanten Schädigungen, Störungen und/oder Beeinträchtigungen entsprechend der ICF-Klassifikation und entsprechender Rehabilitationsfähigkeit und positiver Rehabilitationsprognose empfohlen, da vor allem die (mangelnde) Kraft der Rückenmuskulatur entscheidend für das Entstehen von Rückenschmerzen ist. Inhalte sind Bewegungstherapie, psychologische Intervention, Entspannungsverfahren, physikalische Modalitäten, Schmerzbewältigung, ergonomische Schulungen, krankheitsspezifische Patientenschulung, Gesundheitsbildung, ernährungstherapeutische Schulung, Leistungen zur sozialen und beruflichen Integration. Die Intervention erfolge durch ein multiprofessionelles Team und sollte mindestens sechs Monate dauern.

*) Die Leitlinie wurde in Zusammenarbeit mit den assoziierten wissenschaftlichen Fachgesellschaften der Österreichischen Ärztekammer unter dem Vorsitz des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz erarbeitet. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe (in alphabetischer Reihenfolge):

• Centre of Excellence for Orthopaedic Painmanagement Speising (CEOPS)
• Österreichische Ärztekammer, Projektgruppe Versorgungsforschung
• Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM)
• Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI)
• Österreichische Gesellschaft für Innere Medizin (ÖGIM)
• Österreichische Gesellschaft für Neurochirurgie (ÖGNC)
• Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN)
• Österreichische Gesellschaft für Neuroradiologie (ÖGNR)
• Österreichische Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie (ÖGO)
• Österreichische Gesellschaft für Physikalische Medizin und Rehabilitation (ÖGPMR)
• Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP)
• Österreichische Gesellschaft für Rheumatologie und Rehabilitation (ÖGR)
• Österreichische Gesellschaft für Unfallchirurgie (ÖGU)
• Österreichische Röntgengesellschaft/AG Osteoradiologie (ÖRG) 

TIPP: unter https://www.bmgf.gv.at/home/Gesundheit/Gesundheitssystem_Qualitaetssicherung/Qualitaetsstandards/Leitlinie_Kreuzschmerz_2018 steht die Leitlinie zum Download zur Verfügung

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2018