Sar­ko­pe­ni­sche Adi­po­si­tas: Ver­steckte Gefahr

25.06.2018 | Medizin


Im Ver­gleich zu Men­schen, die ent­we­der unter Adi­po­si­tas oder unter Sar­ko­pe­nie lei­den, sind bei Men­schen mit sar­ko­pe­ni­scher Adi­po­si­tas vor allem die Funk­ti­ons­ein­schrän­kun­gen stär­ker aus­ge­prägt. Die Betrof­fe­nen wei­sen dar­über hin­aus ein beson­ders hohes Risiko für Herz-/ Kreis­lauf­erkran­kun­gen auf mit einem hohen Sterb­lich­keits­ri­siko.
Irene Mle­kusch

Man unter­schei­det grund­sätz­lich zwi­schen der pri­mä­ren alters­be­ding­ten Sar­ko­pe­nie und einer sekun­dä­ren Sar­ko­pe­nie, wel­che durch Immo­bi­li­tät, Erkran­kun­gen, aber auch durch eine qua­li­ta­tive oder quan­ti­ta­tive Man­gel­er­näh­rung ver­ur­sacht wird. „Eine zu geringe Pro­te­in­zu­fuhr ist die häu­figste Form der Man­gel­er­näh­rung die­ser Pati­en­ten­gruppe“, merkt Prof. Katha­rina Pils, Lei­te­rin des Insti­tuts für Phy­si­ka­li­sche Medi­zin und Reha­bi­li­ta­tion an der Kran­ken­an­stalt Rudolfs­tif­tung in Wien, an. 

Diese alters­be­ding­ten Ver­än­de­run­gen begüns­ti­gen in Ver­bin­dung mit einem inak­ti­ven Lebens­stil, Kom­or­bi­di­tä­ten und gleich­blei­ben­den Ernäh­rungs­ge­wohn­hei­ten im Alter die Ent­ste­hung einer sar­ko­pe­ni­schen Adi­po­si­tas. Pils sieht in der stei­gen­den Zahl an über­ge­wich­ti­gen Men­schen vor allem in Europa und den USA auch einen Trend in Rich­tung sar­ko­pe­ni­sche Adi­po­si­tas. Der­zeit geht man von einer Prä­va­lenz von fünf bis zehn Pro­zent aus. Da aber bis­her keine all­ge­mein­gül­tige Defi­ni­tion der sar­ko­pe­ni­schen Adi­po­si­tas vor­liegt, bleibt eine exakte Abschät­zung der Prä­va­lenz schwie­rig; außer­dem kann ein hoher BMI das Vor­han­den­sein einer Sar­ko­pe­nie ver­schlei­ern. „Frauen wei­sen eine gerin­gere Mus­kel­masse auf als Män­ner“, gibt Univ. Prof. Monika Lech­leit­ner, ärzt­li­che Direk­to­rin des LKH Hoch­zirl, zu beden­ken. Dabei bauen Frauen ab dem 60. Lebens­jahr zirka 0,6 Kilo­gramm Mus­kel­masse pro Dekade ab – über­wie­gend Typ-II-Mus­kel­fa­sern. Män­ner ver­lie­ren durch­schnitt­lich sogar 1,6 Kilo­gramm Mus­kel­masse, bauen aller­dings dabei beide Mus­kel­fa­ser­ty­pen annä­hernd gleich­mä­ßig ab. Gene­ti­sche und alters­be­dingt hor­mo­nelle Ver­än­de­run­gen sind bei bei­den Geschlech­tern relevant. 

Abbau der Muskelmasse 

Die Zunahme von vis­ze­ra­lem Fett­ge­webe und die Abnahme der Mus­kel­masse begüns­ti­gen die Ent­ste­hung eines chro­nisch-unter­schwel­li­gen sys­te­mi­schen Ent­zün­dungs­pro­zes­ses. Das vis­ze­rale Fett­ge­webe pro­du­ziert pro­in­flamm­a­to­ri­sche Zyto­kine und mit zuneh­men­dem Bauch­um­fang, sowie abneh­men­der Mus­kel­masse steigt die Serum­kon­zen­tra­tion von CRP, Inter­leu­kin 1 oder 6. Einen wei­te­ren Bei­trag beim Abbau der Mus­kel­masse bei älte­ren Men­schen leis­ten oxi­da­tiver Stress und Insu­lin­re­sis­tenz. Lech­leit­ner betont die wich­tige Rolle der Mus­ku­la­tur im Ener­gie­haus­halt und Stoff­wech­sel: „Myo­kine und Zyto­kine wer­den aus der Mus­ku­la­tur bei Kon­trak­tion frei­ge­setzt und wei­sen eine sys­te­mi­sche Wir­kung auf den Glu­kose- und Lipid­stoff­wech­sel auf.“ Da adi­pöse Men­schen dazu nei­gen, sich weni­ger zu bewe­gen, wird die mus­ku­läre Leis­tungs­fä­hig­keit wei­ter her­ab­ge­setzt. Die dar­aus resul­tie­rende Ver­rin­ge­rung der Stoff­wech­sel­rate führt wie­derum zu einer Gewichts­zu­nahme, womit sich ein nicht enden wol­len­der Kreis­lauf schließt. „Grund­sätz­lich ist es wich­tig, einen Ver­lust an Mus­kel­masse zu ver­mei­den, das heißt auch im Rah­men einer Gewichts­re­duk­tion durch beglei­tende Bewe­gungs­the­ra­pie und aus­rei­chende Zufuhr von Eiweiß Mus­kel­masse zu erhal­ten“, sagt Lech­leit­ner und fügt hinzu, dass der Ver­lust an Mus­kel­masse bei Gewichts­re­duk­tion auch als wich­ti­ger Fak­tor für den soge­nann­ten „Jo Jo-Effekt“ gilt. 

Für die Dia­gnose „Sar­ko­pe­nie“ ste­hen ver­schie­dene funk­tio­nelle Tests, Unter­su­chungs­me­tho­den oder bild­ge­bende Ver­fah­ren zur Ver­fü­gung. Pils sieht in der Dop­pel­rönt­gen­ab­sorp­tio­me­trie (DXA) ein rela­tiv vali­des Ver­fah­ren. Ein ein­fa­che­res und bil­li­ge­res Ver­fah­ren ist die bio­elek­tri­sche Impe­danz­ana­lyse (BIA), wel­che aber ebenso wie die DXA eher für Ver­laufs­be­ob­ach­tun­gen rele­vant ist, da beide Metho­den nicht zwi­schen intra-und extra­zel­lu­lä­rem Was­ser dif­fe­ren­zie­ren kön­nen und somit die Ergeb­nisse vom Was­ser­haus­halt des Pati­en­ten beein­flusst wer­den. Zur Eru­ie­rung der Mus­kel­masse ist es auch legi­tim, die Tri­zeps-Haut­fal­ten­di­cke, den mitt­le­ren Ober­arm­mus­kel­um­fang oder den Waden­bein­um­fang zu mes­sen. „Vor allem für kli­ni­sche Stu­dien kann die Mus­kel­masse mit­tels bild­ge­ben­der Ver­fah­ren wie CT oder MRT genau defi­niert wer­den“, weiß Lech­leit­ner. Pils merkt an, dass viele Pati­en­ten auch bereits ein CT oder MRT, wel­ches zur Abklä­rung ande­rer Beschwer­den durch­ge­führt wurde, auf­wei­sen kön­nen. Da die Dia­gnose der Sar­ko­pe­nie aber auf einer redu­zier­ten Mus­kel­masse, redu­zier­ten Mus­kel­kraft und beein­träch­tig­ter Mobi­li­tät beruht, emp­feh­len beide Exper­tin­nen stan­dar­di­sierte Funktionstests. 

Funk­ti­ons­ein­schrän­kun­gen

Vor allem die Funk­ti­ons­ein­schrän­kun­gen sind es, die bei Pati­en­ten mit sar­ko­pe­ni­scher Adi­po­si­tas stär­ker aus­ge­prägt sind als bei Men­schen, die ent­we­der unter Adi­po­si­tas oder Sar­ko­pe­nie lei­den. Pils sieht in der Mes­sung der Gang­ge­schwin­dig­keit eine der ein­fachs­ten Mög­lich­kei­ten, eine Sar­ko­pe­nie zu ken­nen: „Der Grenz­wert liegt bei einer Geschwin­dig­keit von 0,8 m/​sec. Wird die­ser unter­schrit­ten sind wei­tere Abklä­rungs­schritte indi­ziert.“ Die Hand­kraft­mes­sung mit einem Hand-Dyna­mo­me­ter dient als Maß für die Mus­kel­kraft, wobei die Faust­schluss­kraft mit der Bein­kraft kor­re­liert. „Die Hand­kraft ist ein wich­ti­ger Indi­ka­tor. Oft sind die Pati­en­ten nicht mehr in der Lage, eine Was­ser­fla­sche zu öff­nen“, berich­tet Pils aus der Pra­xis. Um die kör­per­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit zu ermit­teln, ste­hen auch vali­dierte Test­ver­fah­ren wie die Short Phy­si­cal Per­for­mance Bat­tery zur Ver­fü­gung. Sie besteht aus drei ver­schie­de­nen Übun­gen: einem Gang­ge­schwin­dig­keits-Test, der Stärke-Mes­sung der unte­ren Extre­mi­tät und dem sta­ti­schen Gleich­ge­wicht. Pils emp­fiehlt auch den Ein­satz des Chair Rising Tests. Dabei wird getes­tet, ob der Betref­fende fünf Mal hin­ter­ein­an­der ohne Hilfe der Hände auf­ste­hen kann. „Die­ses Ver­fah­ren gibt einer­seits Auf­schluss über die Kraft des Glu­teus, ande­rer­seits fließt auch die kar­diale Leis­tungs­fä­hig­keit in das Ergeb­nis ein“, weiß Pils. 

Gefahr der Immo­bi­li­tät

Nicht ganz geklärt ist die Frage, ab wel­chem Schwel­len­wert der Mus­kel­mas­sen­ver­lust kli­nisch rele­vant ist und die Gefahr einer Immo­bi­li­tät besteht. Tat­sa­che ist, dass Pati­en­ten mir sar­ko­pe­ni­scher Adi­po­si­tas unbe­dingt ent­spre­chend dia­gnos­ti­ziert wer­den soll­ten, da sie hohen gesund­heit­li­chen Ris­ken aus­ge­setzt sind. „Für Pati­en­ten mit sar­ko­pe­ni­scher Adi­po­si­tas wurde in kli­ni­schen Unter­su­chun­gen ein beson­ders hohes Risiko für Herz-Kreis­lauf­erkran­kun­gen und ein hohes Sterb­lich­keits­ri­siko beschrie­ben“, warnt Lech­leit­ner. Das Risiko eine Insu­lin­re­sis­tenz und/​oder ein meta­bo­li­sches Syn­drom zu ent­wi­ckeln ist eben­falls erhöht. Die Koexis­tenz einer Sar­ko­pe­nie und eines meta­bo­li­schen Syn­droms sor­gen wie­derum für ein erhöh­tes Risiko an Typ 2‑Diabetes, Hyper­to­nie und Hyper­li­pi­dä­mie zu erkran­ken. Pils macht dar­auf auf­merk­sam, dass das Sturz- und Frak­tur­ri­siko älte­rer Men­schen mit sar­ko­pe­ni­scher Adi­po­si­tas ebenso zu einer erhöh­ten Mor­bi­di­tät und Mor­ta­li­tät führt. 

Somit ist die sar­ko­pe­ni­sche Adi­po­si­tas ein kom­ple­xes Krank­heits­bild, das einer mul­ti­pro­fes­sio­nel­len Behand­lung bedarf. Je frü­her das Krank­heits­bild erkannt und the­ra­peu­ti­sche Maß­nah­men ein­ge­lei­tet wer­den, umso bes­ser lässt sich der Ver­lauf posi­tiv beein­flus­sen. „Bei der sar­ko­pe­ni­schen Adi­po­si­tas kommt der Bewe­gungs­the­ra­pie mit Aus­dauer und Wider­stands­trai­ning eine zen­trale Bedeu­tung zu“, erklärt Lech­leit­ner. Man­gel­er­näh­rung sollte ver­mie­den und für eine aus­rei­chende Zufuhr von Pro­te­inen und Vit­amin D gesorgt wer­den. Medi­ka­mente, die den Mus­kel­ab­bau begüns­ti­gen wie bei­spiels­weise Glu­ko­kor­ti­ko­ide, soll­ten – sofern dies aus medi­zi­ni­scher Sicht mög­lich ist – weit­ge­hend redu­ziert oder ganz abge­setzt werden. 

Beim Trai­ning mit älte­ren Men­schen soll­ten fol­gende Aspekte berück­sich­tigt wer­den: die indi­vi­du­elle Ziel­set­zung, die den jewei­li­gen Inter­es­sen ent­spricht, die indi­vi­du­elle Funk­ti­ons­fä­hig­keit, vor­han­dene Erkran­kun­gen und kör­per­li­che Beschwer­den sowie die sport­li­che Ver­gan­gen­heit und der momen­tane Leis­tungs­sta­tus. Grund­sätz­lich rät Pils dazu, Kraft‑, Aus­dauer- und Balance­trai­ning zu kom­bi­nie­ren – im Opti­mal­fall fünf bis sechs Mal pro Woche. Alter­na­tive Trai­nings­me­tho­den wie Tai Chi oder Pila­tes kön­nen eben­falls zu mehr Beweg­lich­keit bei­tra­gen, wäh­rend gelenk­scho­nende Akti­vi­tä­ten wie Was­ser­gym­nas­tik, Rad­fah­ren, Schwim­men, Tan­zen oder Nor­dic Wal­king zusätz­lich Aus­dauer, Kraft und Gleich­ge­wicht för­dern. „Trai­ning muss nicht teuer sein, denn Bewe­gung lässt sich in jeder Form in den All­tag ein­bauen. Zunächst reicht es ein paar Stu­fen zu stei­gen oder eine Stra­ßen­bahn­hal­te­stelle zu Fuß zu gehen. Wich­tig ist es auch die­ses All­tags­trai­ning lang­sam zu stei­gern“, rät Pils. 

Sar­ko­pe­ni­sche Adi­po­si­tas: die Details 

Wäh­rend des Alte­rungs­pro­zes­ses nimmt phy­sio­lo­gi­scher­weise das Gesamt­fett­ge­webe eher zu und die Fett­ver­tei­lung ver­än­dert sich von sub­ku­ta­nen hin zu intra­ab­do­mi­nel­len Spei­chern und ekto­pi­schen Orten wie Mus­ku­la­tur, Leber und Kno­chen­mark. Gleich­zei­tig ver­liert der Mensch ab dem 40. Lebens­jahr pro Dekade sechs bis acht Pro­zent sei­ner Mus­kel­masse, ab dem 70. Lebens­jahr sogar bis zu 15 Pro­zent. Mit dem Ver­lust an Mus­kel­masse geht ein deut­li­cher Ver­fall der Mus­kel­kraft sowie eine Abnahme der Mus­kel­qua­li­tät ein­her, wel­che durch eine Ver­rin­ge­rung der Anzahl und Größe der Mus­kel­fa­sern – über­wie­gend Typ-IIFa­sern, sowie durch eine Abnahme der Mus­kel­ei­weiß­syn­these und eine Dys­funk­tion der Mito­chon­drien bedingt ist. Auf zel­lu­lä­rer Ebene kommt es im Rah­men der Sar­ko­pe­nie zu einem Ver­lust der Inner­va­tion und Anpas­sungs­fä­hig­keit der Anteile an lang­sa­men und schnel­len Motor Units, aber auch zu einer Abnahme der alpha-Motoneuronen.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 12 /​25.06.2018