Myopie im Kindesalter: Langfristig kurzsichtig

15.12.2018 | Medizin


Nahezu jeder zweite über 25-Jährige in Europa ist kurzsichtig – Tendenz exponentiell steigend. Die genetische Disposition spielt nur eine sekundäre Rolle. Den Hauptgrund für diese Entwicklung sehen Experten in der Entgleisung von Lebensstil und Lebenswandel in Kombination mit vermehrter Naharbeit und vermehrter Exposition gegenüber künstlichem Licht.
Lisa Türk

Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Myopie zu jenen fünf Augenerkrankungen, deren Eindämmung hohe Priorität hat. So sind in Asien mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Statistiken zufolge kurzsichtig. In Europa sind knapp 50 Prozent im Alter von 25 Jahren betroffen – Tendenz exponentiell steigend. „In asiatischen Ländern, vor allem China und Korea, geht die Myopieprogression weit über jene Zahlen hinaus, die man sich von einer genetischen Disposition erwarten würde“, sagt Univ. Prof. Ursula Schmidt-Erfurth, Vorstand der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie in Wien. Die genetische Disposition spiele eine sekundäre Rolle. Vielmehr seien es exogene Faktoren, die großen Einfluss auf die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit hätten – vor allem bei Kindern und Jugendlichen.

Bildungseliten betroffen

Der größte Effekt auf die Myopieentwicklung lässt sich Studien zufolge für ein hochentwickeltes kompetitives Bildungssystem nachweisen. Zahlreiche Untersuchungen weisen darauf hin, dass speziell vermehrte Naharbeit – ob nun vor Buch oder Bildschirm – eine eindeutige Korrelation zwischen Auftreten und Fortschreitungsgeschwindigkeit der Myopie nach sich zieht. „Auch eine vermehrte Exposition gegenüber künstlichem Licht geht mit einem gesteigerten Erkrankungsrisiko respektive einer schnelleren Progression bei bereits bestehender Myopie einher“, betont Univ. Prof. Herbert Reitsamer, Vorstand der Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie in Salzburg. Dies erklärt auch die stark ansteigende Kurzsichtigkeit bei Kindern ab Schuleintritt. Bereits eine niedrige Form der Myopie erhöhe das Risiko für ernstzunehmende Folgeerkrankungen wie Netzhautablösung, Makuladegeneration, Katarakt und Glaukom. „Myopie ist als Risikofaktor wesentlich aggressiver als beispielsweise Hypertonie im Zusammenhang mit Insult oder Myokardinfarkt“, so Reitsamer. Priv. Doz. Gerald Schmidinger an der Wiener Universitätsklinik für Augenheilkunde und Optometrie weist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Korrelation zwischen erstmaligem Auftreten einer Myopie und der erreichten Altersmyopie hin. „Je früher ein Kind kurzsichtig wird, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit einer späteren hohen Myopie von minus sechs Dioptrien und mehr“, unterstreicht der Experte.

Protektionsmaßnahmen

Studien zufolge ist die Myopierate bei Menschen, die auf eine jahrelange Bildungskarriere zurückblicken, höher als bei jenen mit einer kurzen schulischen Bildung. Dieser Zusammenhang bereitet Experten nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus volkswirtschaftlicher Sicht große Sorgen. Denn etwa acht bis zwölf Prozent der hoch myopen Menschen zwischen 19 und 25 Jahren haben ein erhöhtes Risiko, noch vor der Pensionierung dadurch beeinträchtigt zu werden. Den Aussagen von Schmidt-Erfurth zufolge stellt vor allem die Zeit, die man im Freien verbringt, einen Schlüsselfaktor in der gesunden Entwicklung des Auges dar. So haben Wissenschaftler im Rahmen nationaler Studien, die in europäischen Ländern durchgeführt wurden, nachgewiesen, dass Stadtkinder eine wesentlich höhere Myopieentwicklung vorweisen als Landkinder. „Dabei geht es gar nicht so sehr um die Zeit vor dem Bildschirm, sondern eher darum, dass sich Kinder, die am Land leben, erfahrungsgemäß öfter im Freien und somit bei einem viel breiter gefächerten Spektrum von Lichtwellenlänge aufhalten“, resümiert Schmidt-Erfurth. In Städten hingegen hätten sich Freizeit- und Lernverhalten an die Umweltgegebenheiten angepasst. Für Kinder, die im urbanen Raum aufwachsen, bieten sich oftmals nicht die geeigneten Bewegungsmöglichkeiten im Freien; die Zeit vor dem Schulheft oder dem Bildschirm überwiegt in den meisten Fällen. „Man sollte aber nicht immer nur in die Nähe schauen, sondern auch einmal in die Ferne. Denn genau dieses Distanzspiel aus Nah und Fern fördert ein gesundes Augenwachstum“, erklärt Schmidt-Erfurth.

Ansätze zur Eindämmung

Was allfällige Behandlungsoptionen betrifft, unterstreicht Schmidt-Erfurth, dass es „keine Therapie im herkömmlichen Sinn“ gebe. Denn das Problem liege ihres Erachtens vielmehr in einer „Entgleisung von Lebensstil und Lebenswandel“ begründet. „Bei der Myopie handelt es sich nicht um eine Krankheit, deren Auslöser man suchen muss. Sie resultiert aus Lebensumständen, für die das Auge nicht gemacht ist“, erläutert die Expertin. Schmidinger wiederum betont, dass vor allem im Volksschulalter im Rahmen von (augen-)ärztlichen Kontrollen auf die etwaige Entwicklung einer Myopie geachtet werden sollte; besonders bei – aber eben nicht ausschließlich – genetisch vorbelasteten Kindern. Generell lasse es sich nicht verhindern, dass ein junger Mensch kurzsichtig werde. „Progredienz beziehungsweise Reduktion sind allerdings beeinflussbar“, betont der Experte. Mithilfe von niedrig dosierten Atropin-Augentropfen (0,01 Prozent) wird beispielsweise eine Lähmung des Ziliarmuskels verursacht. Diese Behandlung stellt jedoch einen Eingriff in das Wachstum des Auges dar und sollte vorab ausreichend reflektiert werden. Weitere Behandlungsoptionen sind periphere Bifokallinsen sowie Orthokeratologie-Linsen.

Bei der steigenden Zahl an Kindern und Jugendlichen, die von Myopie betroffen sind, gehe es vor allem darum, der Thematik insgesamt eine höhere Aufmerksamkeit beizumessen. Das gesamte Umfeld des Kindes, des Jugendlichen, müsste in die Problematik integriert werden. Allgemeinärzte, Pädiater, Ophtalmologen und Arbeitsmediziner können allenfalls als Informations- und Wissensvermittler fungieren und somit einen wichtigen Beitrag zu einer Bewusstseinssteigerung leisten. Im Rahmen der 1999 ins Leben gerufenen Initiative „Vision 2020“, hat sich auch die Weltgesundheitsorganisation zum Ziel gesetzt, die Ursachen für Erblindung – darunter auch Kurzsichtigkeit – global anzugehen und einzudämmen.

Was Reitsamer ausdrücklich betont: Kinder und Jugendliche dürften wegen der möglichen Gefahr der Myopie „keinesfalls davon abgeschreckt werden, sich zu bilden.“ Auch Reitsamer unterstreicht die Wichtigkeit, Zeit im Freien zu verbringen. So hätten Studien ergeben, dass Kinder, die sich (protektiv) ein bis zwei Stunden pro Tag an der frischen Luft aufhalten, keinerlei negative Effekte durch langes Lernen aufweisen. Sein Resümee: „Man kann alles machen – mit dem notwendigen Maß und Ziel.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2018