Malnutrition im Alter : Makronährstoffe fehlen

10.03.2018 | Medizin


Bis zu 15 Prozent der Senioren, die noch zuhause leben, sind mangelernährt; in Pflegeheimen sind es bis zu 85 Prozent der Bewohner. Bei der klassischen Mangelernährung im Alter handelt es sich meist um die Makronährstoff-Malnutrition. Die häufigsten Ursachen für Malnutrition sind Multimorbidität und Demenz.
Von Marlene Weinzierl

Schätzungen zufolge sind zwischen acht und 15 Prozent der alten Menschen, die zu Hause leben, mangelernährt. „In der Praxis zählen wir zu alten oder hochbetagten Menschen Personen, die zumindest älter als 80 Jahre sind“, sagt Univ. Prof. Peter Fasching von der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie im Wiener Wilhelminenspital. Die geriatrische Medizin und Studien zum Thema umfassen in der Regel aber auch junge Senioren, also alle Patienten über 65 Jahre. Jüngere Senioren neigen zwar häufiger zu Übergewicht mit qualitativer Mangelernährung; mit steigendem Lebensalter jedoch nimmt das Körpergewicht durch Stoffwechselumstellungen generell ab und auch das Risiko für eine quantitative Mangelernährung steigt. Mögliche Ursachen sind chronische Entzündungsprozesse oder Erkrankungen.

In vielen Fällen aber stecken banalere Gründe dahinter: Senioren fehlt oft schlicht und einfach der Appetit oder sie haben aufgrund von Zahnverlust Schwierigkeiten beim Kauen, weiß Univ. Prof. Regina Roller-Wirnsberger von der Universitätsklinik für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Graz. „Alte Menschen, die zu Hause leben, haben häufig weniger Zugang zu Nahrung“, schildert die Expertin. Eine wesentliche Rolle dabei spielen das soziale Umfeld und der finanzielle Status. Mindestrentner weisen demnach – so Roller-Wirnsberger – ein erhöhtes Risiko für Malnutrition auf. So konnte kürzlich in einer Schweizer Studie ein klarer Zusammenhang zwischen Mangelernährung und den Nahrungsmitteln, die bei den Betroffenen im Kühlschrank vorgefundenen wurden, nachgewiesen werden. So wurden bei Mangelernährten oftmals vergammelte, abgelaufene Lebensmittel im Kühlschrank aufgefunden.

Bei der klassischen Mangelernährung im Alter sei „eigentlich vorrangig“ von einer Makronährstoff-Malnutrition die Rede, erklärt die Expertin. Sie betrifft die Gesamtkalorien-Zufuhr, aber auch einzelne Makronährstoffe wie Fette, Kohlenhydrate, Ballaststoffe und insbesondere Eiweiß. Letzteres ist speziell für die Immunregulation notwendig. „Fehlt Eiweiß, sind die Betroffenen anfälliger für Infekte. Sie haben auch eine erhöhte sekundäre Morbidität und Mortalität im Rahmen von anderen Grunderkrankungen“, macht Roller-Wirnsberger aufmerksam. Und Fasching ergänzt: „Ein Serumalbumin von unter 30 Gramm pro Deziliter kann ein Hinweis auf einen chronischen Proteinmangel sein. Allerdings können Nieren- oder Lebererkrankungen das auch überlagern.“ Doch wenn die Gesamtkalorien-Zufuhr unter 1.000 Kilokalorien pro Tag sinkt, führt dies ohne gezielte Substitution über längere Zeit fast zwingend zu einem Vitamin- oder Spurenelement- Mangel, allen voran Zink, Selen oder Eisen. Als nahezu „klassisch“ bei chronisch Kranken kann der Mangel an Vitamin D oder Vitamin B bezeichnet werden, was wiederum zu Osteoporose führen oder sich negativ auf die kognitive Funktion auswirken kann.

Die Auswirkungen auf den muskuloskelettalen Bereich sind ebenfalls beträchtlich: Es kommt zu einer Verschlechterung der Lebensqualität, weil die Autonomie und Mobilität der Betroffenen durch Instabilität und Sturzneigung zum Teil stark eingeschränkt sind. Wird nicht rechtzeitig interveniert, führt Mangelernährung „in vielen Fällen“ (Roller-Wirnsberger) zu Sarkopenie sowie zu nachfolgender Gebrechlichkeit (Frailty).

Umgekehrt steigt mit steigendem Pflegebedarf auch das Risiko für Mangelernährung. In Österreich gibt es kein durchgängiges Ernährungsscreening im niedergelassenen Bereich und nur Daten aus vielen kleinen Studien, wie Roller- Wirnsberger betont. Für Krankenhäuser hingegen liegen genauere Daten vor. „An der KAGes führen wir regelmäßig Screenings zum Ernährungsstatus aller Patienten durch“, berichtet die Expertin. So etwa kommt das Grazer Mangelernährungs- Screening (GMS) im Spitalsbereich zum Einsatz. Darüber hinaus gibt es die Initiative „NutritionDay“, im Rahmen derer unter der Leitung von Univ. Prof. Michael Hiesmayr von der MedUni Wien Daten zur Ernährungssituation in Österreichs Spitälern erhoben werden. Dabei habe sich für Österreich wie auch international gezeigt, dass die meisten mangelernährten Senioren mit knapp 50 Prozent an Abteilungen für Akutgeriatrie, aber auch an Abteilungen für Innere Medizin vorzufinden sind.

Im Krankenhaus oder wenn die Patienten nach Unfällen oder einer Operation rasch wieder nach Hause entlassen werden, ist eine zwischenzeitliche Optimierung der Substratzufuhr wichtig, da Hochbetagte in dieser Zeit ein besonders hohes Risiko tragen, massiv Substrat- und Muskelmasse zu verlieren, gibt Fasching zu bedenken. „Andernfalls geht dem Betroffenen in der Rehabilitationsphase die Kraft ab und muss mühsam wieder aufgebaut werden.“ Nahrungssupplemente wie Nährfläschchen mit Proteinkonzentraten werden laut Fasching von den österreichischen Krankenkassen nur im Einzelfall genehmigt. Erfahrungen in der Schweiz zeigen jedoch: Wenn Nahrungssupplemente gezielt eingesetzt werden, erzielt man nach schweren Erkrankungen auch bessere Rehabilitationserfolge. Außerdem könnten die Akut-Wiederaufnahmeraten im Spital zum Teil reduziert werden, wie Fasching ausführt.

Ein häufiger Grund für Aufnahmen in Pflegeheimen sind Multimorbidität und Demenz – eine Patientengruppe, bei der überproportional häufig Malnutrition auftritt, weil die Menschen vergessen zu essen oder im fortgeschrittenen Stadium ihrer Erkrankung Schluckstörungen haben. Da viele Betroffene erst aufgenommen werden, wenn sie bereits in einem schlechten Zustand sind, kann die Mangelernährungsrate in Pflegeheimen bis zu 85 Prozent betragen, sagt Roller- Wirnsberger.

Umgekehrt sei es so, dass „die Qualität der Nahrungsversorgung in Österreichs Langzeit-Pflegeeinrichtungen sehr unterschiedlich“ ist. Patienten mit Demenz oder Dysphagie etwa benötigen eine spezielle Form der Ernährung oder Nahrungszubereitung. Diese kann zwar ärztlich angeordnet, aber aus politischer Sicht nicht „verschrieben“ werden, weil der Faktor Ernährung nicht als Teil eines Krankheitsbildes von Seiten der Sozialversicherungsträger anerkannt wird, wie Roller-Wirnsberger erklärt. Außerdem müsse das Bewusstsein der Ärzte gestärkt und die Ernährungsmedizin automatisch ein Teil des ärztlichen Handelns werden – unabhängig davon, in welcher Einrichtung oder Disziplin der Arzt tätig ist. Eine Berücksichtigung in allen Ausbildungscurricula sowie der postgradualen Weiterbildung sei dringend nötig, so die Expertin.

Der Hausarzt kann frühzeitig eine wichtige Screeningfunktion übernehmen, indem er ältere, multimorbide Patienten regelmäßig fragt, „wie es denn mit dem Essen und dem Appetit aussieht“, wie Roller-Wirnsberger unterstreicht. Ganz entscheidend sei, dass Körpergröße und -gewicht des Patienten in fixen Abständen erhoben werden, denn: „Die Patienten selbst machen das nicht. Oder sie haben keine geeichten Waagen zuhause. Studien haben gezeigt, dass Patienten bei der Frage nach ihrem Gewicht den Wert von vor acht Jahren angeben.“ Wenn der Hausarzt eine Mangelernährung feststellt, ist sie in der Regel bereits manifest und benötigt ein komplexes Management. Das gelingt nur, wenn der Patient vom Hausarzt, Facharzt oder Diätologen und allenfalls dem Apotheker gemeinsam betreut wird, denn, so Roller- Wirnsberger: „Ernährungsmedizinische Intervention braucht eine entsprechende Ausbildung und ist immer Teamarbeit. In den Bundesländern haben wir das Problem, dass eine unterschiedliche Versorgung mit Diätologen im ambulanten Bereich besteht. Was aber jeder Arzt machen sollte, ist, in seinem Umfeld die nächstzuständige Ansprechperson oder Institution ausfindig zu machen.“

Hinweise auf Malnutrition

Wird ein Gewichtsverlust von mehr als zehn Prozent des Körpergewichts in sechs Monaten oder fünf Prozent in drei Monaten beobachtet, so ist das ein Hinweis auf Mangelernährung. Bei Erwachsenen gilt generell ein Body Mass Index (BMI) von 18,5 als Untergrenze für das Normalgewicht, beim alten Menschen sollte der BMI jedoch nicht kleiner als 22 sein.

Besonders gefährdet sind Patienten mit:
• Ess- und Schluckstörungen
• Herzinsuffizienz
• chronisch konsumierenden Erkrankungen (zB solide Karzinome, COPD)
• hämatologischen Grunderkrankungen
• kognitiver Dysfunktion, Demenz
• Multimorbidität

Monitoring:
• Verliert der Patient unwillkürlich und unabsichtlich an Gewicht?
• Wie ist der Allgemeinzustand des Patienten?
• Wie steht es um die Mobilität des Patienten?
• Kann eine (chronische) Erkrankung ausgeschlossen werden? (Hyperthyreose, entgleister Diabetes mellitus, Karzinom, schwere Herzerkrankung, schwere Depression)

Für das Screening von geriatrischen Patienten im ambulanten Bereich eignen sich beispielsweise das Malnutrition Universal Screening Tool (MUST), der Short Nutritional Assessment Questionnaire (SNAQ) oder das Mini Nutritional Assessment Screening (MNA-Screening).

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2018