Konservative Orthopädie: Auf die Details achten

10.10.2018 | Medizin


Etwa jeder dritte Patient kommt mit Problemen des Bewegungsapparates in die Praxis. Unersetzlich dabei ist die klinisch-manuelle Diagnostik, bei der kleine und kleinste Details zu beachten sind.
Brigitte Scholz

Mit der Bezeichnung Zervikalsyndrom werden vorwiegend Nackenschmerzen mit einer Vielzahl an Symptomen beschrieben“, erklärt Univ. Prof. Hans Tilscher, der die konservative Orthopädie gegründet hat und die Abteilung für konservative Orthopädie und Rehabilitation am Orthopädischen Spital Speising in Wien geleitet hat. Die Ursachen für ein Zervikalsyndrom liegen hauptsächlich in den nozizeptiven Afferenzen von segmentalen Funktionsstörungen, weniger in morphologischen, mehrheitlich in degenerativen Veränderungen der Bandscheiben beziehungsweise der Wirbelverbindungen, führt er weiter aus.

Für ihn beginnt die klinische Untersuchung ab dem Zeitpunkt, wenn der Patient in die Ordination kommt. Dazu gehören das Gangbild, allenfalls die Schonhaltung, verschiedene Formen des Hinkens, der Gesichtsausdruck, der Händedruck. Beschwerden im Nackenbereich, die in den Kopf ausstrahlen, Schwindel verursachen und zwischen den Schulterblättern bis in den Arm ausstrahlen, sind Teil der Schmerz-topik. Patienten sollten mit dem Zeigefinger dort hinzeigen, wo es weh tut. Weiters sollte nach kritischen Details gefragt werden: Tritt der Schmerz in Ruhe oder bei Bewegung auf? Tut Kälte oder Wärme gut? Was verstärkt den Schmerz? Ist der Schwindel bewegungsabhängig.

Als „unersetzlich“ bezeichnet Tilscher die klinisch-manuelle Diagnostik. Kleine und kleinste Details seien dabei zu beachten. Klagt beispielsweise ein Kind mit nach links geneigtem und gedrehtem Kopf über Schmerzen rechts, lässt das auf einen akuten rheumatischen Schiefhals – eine Entzündung zwischen C2 und C3 – schließen. Kommt ein Erwachsener mit dieser Haltung, korrigiert sie aber und klagt über Schmerzen im Arm, lässt das eine Nervenwurzelkompression vermuten. Hat ein Patient einen links geneigten und rechts gedrehten Kopf, handelt es sich um einen spastischen Schiefhals. Eine exakte Strukturanalyse, erweitert durch bildgebende Verfahren wie Röntgen oder MRI, die die Befunde der klinischen Untersuchung bestätigen oder widerlegen, rundet das Diagnosebild ab.

Etwa jeder dritte Patient kommt mit Problemen des Bewegungsapparats in die Praxis, weiß Tilscher. „Diese Menschen benötigen meist nicht-operative Behandlungen“ und „der Allgemeinmediziner muss einen Patienten, der mit Kreuzschmerzen in die Praxis kommt, angreifen, um begreifen zu können.“

Aufgrund der meist vielfältigen Entstehungsursachen eines Schmerzbildes können und müssen verschiedene Therapiemethoden kombiniert werden. „Auswahl, Dosierung und Kombination sind Aufgaben, die persönliche Erfahrung, theoretisches Wissen, technisches Können und darüber hinaus Eigenschaften verlangen, die an das Wort ‚Heilkunst‘ erinnern“, so der Experte. Ein Patient, der sich nicht rühren, bücken oder den Kopf drehen kann, soll vorerst für einige Zeit in Ruhestellung gebracht werden. Beim Akutschmerz kommen Schmerzmedikamente oder die therapeutische Lokalanästhesie zur Anwendung. Physikalische Maßnahmen wie Galvanisation oder eine Kältetherapie können ebenfalls eingesetzt werden“. Die klinischen Untersuchungsergebnisse indizieren bei subakuten beziehungsweise chronischen Beschwerden die Reizsetzung über die pathogenetischen Führungsstrukturen, um die Schmerzhemmung zu aktivieren. Die Schmerztherapie erfordere außer den Behandlungen regelmäßige präventive und rehabilitative Maßnahmen, um betroffene Körperregionen vor statischen, dynamischen und psychischen Fehlbelastungen zu schützen.

Im Fehlzeitenreport 2016 (WIFO 2016) werden Krankheiten des Muskel-Skelett- Systems als eine der zwei bedeutendsten Krankheitsgruppen angeführt. Zusammen verursachen diese Erkrankungen rund die Hälfte aller Krankenstandsfälle und 40 Prozent aller Krankenstandstage. Schmerzen im Bewegungsapparat sind somit unter den häufigsten Gründen für Krankenstände, Spitalsaufenthalte und Frühpensionierungen. Tilscher abschließend: „Die Auswirkungen dieser Beschwerden sind enorm. Wirbelsäulenprobleme und ihre Folgen sind für den Staat ein finanzielles Problem.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2018