Wenn das Sozialverhalten stört

10.04.2018 | Medizin


Störungen des Sozialverhaltens galten lange Zeit als „Stiefkind“ in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. So war man sich lange nicht im Klaren darüber, ob es sich dabei „nur“ um schlechte Erziehung oder tatsächlich um eine Krankheit handelt.

Christina Schaar

Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer“ – so beschrieb Sokrates (469 bis 399 v.Chr.) die Situation in seiner Zeit. Und heute? Immer wieder fallen junge Menschen – teilweise auch Kinder – durch dissoziales und delinquentes Sozialverhalten auf. Sind sie nur schlecht erzogen oder verbirgt sich dahinter tatsächlich eine Erkrankung? Eine Vortragsreihe bei den diesjährigen Ärztetagen Grado Ende Mai befasst sich detailliert mit dem Thema „Störungen des Sozialverhaltens“.

Immerhin weisen zwei bis vier Prozent der Volksschüler, vier bis acht Prozent der Zehn- bis Zwölfjährigen sowie sechs bis zwölf Prozent der Jugendlichen Störungen in ihrem Sozialverhalten auf. „Diese Kinder und Jugendlichen werden durch hohe Aggressivität und antisoziales Verhalten auffällig“, erklärt Christian Kienbacher vom Ambulatorium für Kinder- und Jugendpsychiatrie des SOS-Kinderdorfes Wien, der das Seminar bei den Ärztetagen in Grado leitet.

Nach Angsterkrankungen (13 Prozent) und somatoformen Störungen (neun Prozent) sind Störungen des Sozialverhaltens die drittgrößte Erkrankungsgruppe (acht Prozent). Lange war die psychiatrische Identität von Störungen des Sozialverhaltens unklar. Kinder und Jugendliche mit externalisierenden, aggressiven Störungen werden rascher zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie geschickt als zurückgezogene, depressive und schüchterne. „Das Bewusstsein, bei diesen Menschen von psychiatrischer und klinisch psychologischer Seite genauer hinzuschauen, ist in den letzten zehn Jahren mehr geworden“, unterstreicht Kienbacher. Da die betroffenen Kinder kein Regelbewusstsein besitzen und ständig durch delinquente Handlungen auffallen, kommt es meist recht bald zu Problemen in der Schule, oft schon im Kindergarten. „Wenn man sich die Kinderbevölkerung ansieht, so sind es gar nicht so wenige“, erzählt Kienbacher aus seiner Erfahrung.

Die Ursache dafür liegt nicht immer nur in der Familie oder bei Freunden – eine gewisse Anlage muss auch vorhanden sein. Kienbacher veranschaulicht dies an einem Beispiel: Ein sehr ängstliches, vom Temperament eher schüchternes und zurückhaltendes Kind wird sich weniger von Freunden angesprochen fühlen, mit diesen in eine Tiefgarage zu gehen und Autos aufzubrechen. Auch wenn dieses Kind das gerne tun würde: Sein Temperament lässt es nicht zu.

„Heiße“ Phase der Entwicklung

Entscheidend ist die genaue Differenzierung, ob der Betroffene sich aktuell in einer „heißen“ Phase seiner Entwicklung befindet. So sind gewisse Handlungen wie zum Beispiel Sachbeschädigungen und Raufen eher bei Jugendlichen vorzufinden. Oder ob derjenige dauernd durch dissoziale und delinquente Handlungen auffällt oder ob es sich bei ihm tatsächlich um eine Erkrankung handelt. Auffallend ist, dass diese Menschen gegenüber Strafandrohungen weitgehend resistent sind. Droht man einem durchschnittlichen Kind bei wiederholtem dissozialem Handeln mit einer Konsequenz, reagiert es darauf. „Kinder mit einer Störung des Sozialverhaltens sind komplett bestrafungsresistent“, betont Kienbacher.

Verhaltensauffälligkeiten

Zu den Kernsymptomen von Störungen des Sozialverhaltens zählen wiederholt aggressives Verhalten, geringes Regelbewusstsein, Dissozialität und Delinquenz. Dissoziale Kernsymptome zeigen sich unter anderem durch wohl überlegtes Ärgern von anderen, für eigene Fehler andere verantwortlich machen, häufigen Streit, Wutausbrüche, aktive Ablehnung von elterlichen Regeln und sozialen Normen, häufiges Schule schwänzen und geringe Frustrationstoleranz. Ein Beispiel: Ein Kind wirft das Turnsackerl des Mitschülers in das WC, da ihm dieses den Kugelschreiber nicht leihen wollte.

Bei delinquenten Kernsymptomen beginnen die Betroffenen unter anderem oft mit Schlägereien, benutzen Waffen, bedrohen andere und schüchtern sie ein, stehlen, zerstören fremdes Eigentum, verüben Einbrüche und sind anfällig für Gewaltbereite Gruppen. Insgesamt zeigt sich bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen neben einem mangelnden Bewusstsein für soziale Regeln und einem mangelnden Schuldbewusstsein wiederholt und durchgängig ein schweres dissoziales, aggressives und aufsässiges Verhalten für einen Zeitraums von mindestens sechs Monaten.

15 bis 20 Prozent der Patienten von Kienbacher im Ambulatorium für Kinder- und Jugendpsychiatrie kommen vom SOS-Kinderdorf Wien, wo insgesamt etwa 160 Kinder fremd untergebracht sind. Die restlichen Patienten kommen von der Wiener Bevölkerung; hier ist das Jugendamt zweitgrößter Zuweiser. Den Schulen, die auch oft an das Ambulatorium zuweisen, fehle es an Ressourcen, um die Konflikte unter den Kindern positiv zu klären, berichtet Kienbacher aus der Praxis. Es würden auch immer häufiger Suspendierungen ausgesprochen. „Wir haben mittlerweile schon Kinder in der ersten Klasse Volksschule, die vierzehn Tage suspendiert werden.“ Studien zufolge kommt es durch Schul-gesteuerte Maßnahmen viel seltener zu Mobbing- Handlungen (Bullying in der Schule) und auch Aggressionen bei den Schülern werden nachweislich reduziert.

Multimodales Therapiekonzept

Als therapeutisch wirkungsvoll haben sich positive Verstärker (Verstärkerpläne) erwiesen: etwa das Lob bei pro-sozialem Verhalten, das die Kinder und Jugendlichen dabei unterstützt, langfristige tragfähige Beziehungen aufzubauen. Besonders bieten sich Sportvereine dafür an: Hier können Jugendliche positive Gruppenerfahrungen sammeln, erleben hier auch Frustration und erhalten für pro-soziales Verhalten positives Feedback. Gefordert ist ein multimodales Therapiekonzept mit Interventionen in den Bereichen Patient, Familie und soziale Umgebung. Eine nur auf das Kind oder den Jugendlichen fokussierte Therapie reicht nicht aus. Einen großen Stellenwert hat nach Aussagen von Kienbacher die Psychotherapie. Bei einer schweren Symptomatik oder einer komorbiden Störung wie ADHS kann eine medikamentöse Behandlung erforderlich sein.

Als „absolut nicht zielführend“ bezeichnet Kienbacher Formate, bei denen Risikokinder im Fernsehen in bestimmten Sendungen „vorgeführt werden“. Denn: „Für die Betroffenen könnten wesentlich bessere und wichtigere Dinge getan werden.“ 

Störungen des Sozialverhaltens:

Kernsymptome
• wiederholt aggressives Verhalten
• geringes Regelbewusstsein
• Delinquenz
• Dissozialität

Dissoziale Kernsymptome
• wohl überlegtes Ärgern von anderen
• für eigene Fehler andere verantwortlich machen
• häufiger Streit
• Wutausbrüche
• aktive Ablehnung von elterlichen Regeln und sozialen Normen
• häufiges Schule schwänzen
• geringe Frustrationstoleranz

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2018