Interview Fritz Hartl: Interessensneutrale Expertise

15.08.2018 | Medizin


Eine absolute Neuerung bei der Erstellung der Leitlinie „Unspezifischer Kreuzschmerz 2018“ sieht Fritz Hartl, ÖÄK-Referent für Leitlinien, Patientensicherheit, HTA und Guidelines International Network, durch die gewählte Herangehensweise gegeben. Warum das so ist, erklärt er im Gespräch mit der ÖÄZ.

Was war der Anlass für die gewählte Methodik bei der Erstellung dieser Leitlinie? Politische Gremien benötigen häufig medizinische Expertise als Grundlage von Versorgungsentscheidungen. Wenn von einzelnen Ärzten oder Ärztegruppen Expertise bereitgestellt wird, die manchmal einseitig interessensgeleitet ist, kann dies zu unbefriedigenden Ergebnissen führen. Die Koordinierung der assoziierten wissenschaftlichen Fachgesellschaften durch die Projektgruppe Versorgungsforschung der Österreichischen Ärztekammer stellt dem Bundesministerium eine weitgehend unabhängige Expertise zur Verfügung. So liegt nun nach einem eineinhalb Jahre dauernden Prozess die erste Leitlinie, die auf diese Weise zustande gekommen ist, vor.

Welche Bedeutung haben in dieser Leitlinie Klassen der Evidenz? Der Umstand, dass der Nachweis der Wirksamkeit auf einem ‚hohen Level‘ externer Evidenz fehlt, bedeutet nicht automatisch die Wirkungslosigkeit einer diagnostischen oder therapeutischen Handlung. Verfahren, für die in dieser Leitlinie keine Empfehlung abgegeben wird, können trotzdem angewendet werden, wenn sie dem behandelnden Arzt angezeigt erscheinen. Nur Verfahren, die nachgewiesenermaßen unwirksam sind, sollten nicht zum Einsatz kommen.

Welche Probleme sehen Sie generell bei der Bewertung durch Evidenzlevel? Für viele pharmakologische Methoden ist die meist geforderte sogenannte hochwertige Evidenz nachgewiesen, bedingt durch die Möglichkeit der vollständigen Verblindung. Im Gegensatz dazu werden Nachweise für bewährte diagnostische oder therapeutische Verfahren, deren Wirksamkeit zum Beispiel ‚nur‘ durch Expertenmeinung belegt ist, als ‚geringerwertige‘ Evidenz abgewertet.

Es sind meist Verfahren, die sich nicht verblinden lassen, weil sie mit physikalischen Rezeptoren vom Patienten wahrgenommen werden oder für deren Wirksamkeitsnachweis nicht ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Es stellt sich die Frage, warum solcher Druck auf die politisch Verantwortlichen entwickelt wird, Wirksamkeitsnachweismethoden zu fordern, die neu auf den Markt kommende Pharmaprodukte bevorzugen.

Wie spiegelt sich das in der Leitlinie wider? Es finden sich weiterhin Verfahren, für die lediglich die Empfehlung ‚kann gemacht werden‘ ausgesprochen wurde, obwohl diese gemäß einhelliger Expertenmeinung hoch wirksam sind. Damit zeigt sich, dass das grundsätzliche Problem des Methoden-Monopolismus in Bezug auf die Bewertung von wissenschaftlicher Evidenz weiterhin ungelöst ist.

Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf? Es bleibt zu hoffen, dass sich auch im Bereich der Bewertung von Gesundheitsverfahren ein Methoden-Pluralismus durchsetzt, damit die Methode der Sache und nicht die Sache der Methodik angepasst wird. Auch gilt es zu verhindern, Methoden, die für viele Menschen sehr hilfreich sind und sich vor allem durch eine sehr niedrige ‚number needed to harm‘-Relation auszeichnen, nicht durch Methoden-bedingte Empfehlungsgrade zu benachteiligen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2018