Chimärismus in der Transfusionsmedizin: Zwei in eins

25.10.2018 | Medizin


Durch die frühe Übertragung in der Fetalphase und die Toleranzbildung können problemlos zwei Blutgruppen in einem Individuum existieren, ohne dass Antikörper gebildet werden. Während Chimärismus im Tierreich weit verbreitet ist, kommt dies bei Menschen äußerst selten vor – etwa nach Bluttransfusionen, Stammzelltransplantationen oder Organtransplantationen.
Laura Scherber

Die Existenz von zwei oder mehr Zygoten in einem Organismus – Chimärismus – ist ein weit verbreitetes Phänomen im Tierreich, besonders bei Mehrlingsgeburten. Bei Menschen entstehen Chimären hingegen sehr selten.

Grundsätzlich unterscheidet man zwei Formen des Chimärismus: den spontanen, sich während der Fetalphase entwickelnden und den artifiziellen, durch Organ- oder Stammzelltransplantationen hervorgerufenen Chimärismus. Bei der spontanen Form gibt es eine weitere Differenzierung in transienten und permanenten Chimärismus. „Der transiente Chimärismus entsteht durch die transplazentare Passage von Blutzellen zwischen der Mutter und dem Fötus, während der permanente Chimärismus komplexer ist. Dieser kann unterteilt werden in den Blutchimärismus und in die Dispermie“, erläutert Univ. Prof. Wolfgang Mayr, medizinischer Berater beim Blutspendewesen des Österreichischen Roten Kreuzes.

Der Blutchimärismus kann bei dizygoten Zwillingen auftreten, indem laut Mayr „hämatopoetische Stammzellen durch intrauterine Blutgefäßanastomosen in den anderen Fötus übertreten“. Durch die frühe Übertragung entwickelt jede Chimäre die Toleranz für die genetische Linie der anderen und sieht diese Zellen daher nicht als fremd an. Jede Chimäre enthält für den Rest ihres Lebens eigene Zellen und häufig auch Zellen des anderen Zwillings. Eine potentielle Folge ist das Vorhandensein von zwei Blutgruppen in jeder der beiden Chimären, häufig in unterschiedlichen Konzentrationen. Da sich schätzungsweise nur etwa ein Drittel der Chimären hinsichtlich ihrer Blutgruppen unterscheiden, wird ein vorhandener Blutchimärismus häufig nicht entdeckt. Neben der Bestimmung mittels Blutuntersuchung kann ein Chimärismus auch über Proben der Mundschleimhaut, Augenbrauen, Haare oder Nägel diagnostiziert werden.

Die zweite permanente Form des Chimärismus, die Dispermie, tritt auf, wenn gleichzeitig zwei mütterliche Kerne (zum Beispiel eine Eizelle und ein Polkörperchen) durch zwei Spermien befruchtet werden, worauf die beiden Zygoten zu einer einzigen Zygote verschmelzen und sich das Zellmaterial komplett vermischt. Erkennbar ist dies beispielsweise anhand von unterschiedlichen Hautfarben bei ein und demselben Individuum.

Ein weiteres Phänomen, das in Zusammenhang mit dem Chimärismus häufig diskutiert wird und von diesem zu differenzieren ist, ist der Mosaizismus, der wie der Chimärismus auch mit mehr als einer genetisch unterscheidbaren Zellpopulation assoziiert ist. Mayr dazu: „Mosaike besitzen unterscheidbare Zelllinien, die aus einer einzigen Zygote stammen.“ Im Gegensatz zum Chimärismus ist beim Mosaizismus daher nur eine befruchtete Eizelle vorhanden, wobei die verschiedenen Zelllinien durch alle Formen der somatischen Mutation beziehungsweise durch Fehler bei der Teilung der befruchteten Eizelle hervorgerufen werden; ebenso gehen auch Teile der ursprünglichen Zelle verloren. Eine mögliche Folge ist das Vorhandensein von Rhesus-positiven und Rhesus-negativen Erythrozyten in einem einzigen Individuum.

Der spontane Chimärismus hat grundsätzlich keinen Krankheitswert, da die Chimären durch das Vorhandensein von beiden Zelllinien gesundheitlich nicht beeinträchtigt sind. Durch die frühe Übertragung in der Fetalphase und die daraufhin einsetzende Toleranzbildung können problemlos zwei Blutgruppen in einem Individuum existieren, ohne dass Antikörper gegen die ursprünglich fremden Zellen gebildet werden. Dem gegenüber steht der artifizielle Chimärismus, der durch Bluttransfusionen, Stammzelltransplantationen oder Organtransplantationen entstehen kann und in der Transfusionsmedizin von großer klinischer Relevanz ist.

Artifizieller Chimärismus

Bei der Transplantation von Stammzellen hat der Empfänger kurzzeitig zwei blutbildende Systeme in seinem Körper, die sich gegenseitig bekämpfen. Dieser Chimärismus ist auf die Dauer nicht aufrecht zu erhalten, da eine Toleranzbildung wie bei der spontanen Form des Chimärismus nur in der Fetalphase möglich ist. In den meisten Fällen müssen die auftretenden Immunreaktionen daher durch Immunsuppressiva in die richtige Bahn gelenkt werden. „Viele Krankheiten, darunter die akute lymphatische Leukämie, bei denen früher Stammzelltransplantationen eingesetzt wurden, können heute auch ohne gut behandelt werden“, erklärt Univ. Prof. Dieter Schwartz von der Universitätsklinik für Blutgruppenserologie und Transfusionsmedizin an der MedUni Wien. Angeborene Stoffwechselstörungen oder Enzymdefekte sind hingegen Diagnosen, bei denen Stammzelltransplantationen weiterhin indiziert sind.

Die Entscheidung für oder gegen eine Organtransplantation erfolgt auf der Basis des HLA-Systems (humanes Leukozytenantigen- System). Laut Schwartz könnte man hier „theoretisch so weit gehen, alle Gene zu sequenzieren, um die bestmögliche Kompatibilität zwischen Spender und Empfänger zu erreichen“, was sich in der Praxis als unmöglich erweist. Während bei einer Nierentransplantation wegen der Dialyse mehr Zeit für die Auswahl eines passenden Spenderorgans zur Verfügung steht, muss bei Herztransplantationen aufgrund der Dringlichkeit unter Umständen eine schlechtere HLA-Kompatibilität in Kauf genommen werden. Die sich daraus ergebenden Unverträglichkeitsreaktionen müssen in diesem Fall durch einen höheren Einsatz von Immunsuppressiva unter Kontrolle gebracht werden. Trotz aller Erfolge bedeutet für Schwartz die Transplantation „die Therapie der letzten Möglichkeit“.

Bluttransfusion: selten Chimären

Bei einer Bluttransfusion entsteht in der Regel keine Chimäre. Ausnahmen können bei Personen auftreten, deren Immunsystem zum Zeitpunkt der Transfusion stark geschwächt ist wie zum Beispiel bei Frühgeborenen, Menschen, die an HIV leiden sowie nach einer Chemotherapie. Dies ist besonders dann der Fall, wenn mittransfundierte fremde Stammzellen vom eigenen Immunsystem nicht sofort eliminiert werden können. In diesem Fall entsteht die lebensbedrohliche Graft-versus-Host-Reaktion (Graft-versus- Host-Disease; GvHD), bei der das eigene Immunsystem gegen das des Spenders ankämpft. „In ganz seltenen Fällen kann Chimärismus auch bei immunkompetenten Personen auftreten, wenn das Blut des Spenders und des Empfängers so ähnlich ist, dass keine Antikörper gegen die fremden Stammzellen gebildet werden“, erklärt Schwartz. Das ist auch der Grund dafür, warum in der Regel im Familiensetting nicht transfundiert wird. Während diese Reaktionen eher selten auftreten, kommt es im Gegensatz dazu viel häufiger zu leichten allergischen Reaktionen, die sich aufgrund der Angstreaktionen des Patienten, wegen eines zu großen Temperaturunterschiedes des Blutes aufgrund zu schneller Transfusion oder aufgrund von im Plasma des Spenders vorhandenen Nahrungsmittelbestandteile entwickeln. Wie Schwartz jedoch betont, sind nicht Nebenwirkungen das größte Risiko bei einer Bluttransfusion, sondern vielmehr, dass „die Transfusion nicht rechtzeitig eingeleitet wird“.  

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2018