Effizienzstudie über Sozialversicherung: Reform ohne Reform

10.09.2017 | Politik


Insgesamt vier verschiedene Modelle für die künftige Struktur der Sozialversicherung hat die damit beauftragte London School of Economics erarbeitet. Drei davon sehen eine teilweise Zusammenlegung der Träger vor, während die von den zuständigen Ministern Stöger und Rendi-Wagner präferierte vierte Variante lediglich eine verstärkte Kooperation unter Beibehaltung der jetzigen Struktur vorsieht.
Von Agnes M. Mühlgassner

Harmonisierung der Leistungen – das ist nach Ansicht von Univ. Prof. Elias Mossialos von der London School of Economics die Grundvoraussetzung für eine Reform der Sozialversicherung. Der mit der Studie über die Effizienz der Sozialversicherung im Dezember 2016 von Sozialminister Stöger beauftragte Experte präsentierte im Rahmen einer Pressekonferenz zunächst jedoch einige – teils bekannte – Fakten über das österreichische Gesundheitswesen:

• Es gibt zu viele Verwaltungsebenen.

• Die Gesundheitsausgaben liegen mit 10,4 Prozent des BIP nur etwas höher als der EU-Durchschnitt mit 9,9 Prozent.

• Der größte Teil der öffentlichen Gelder geht in die Spitäler.

• Rund 20 Prozent des Gesamtbudgets der Sozialversicherungen fließen in Pharmazeutika.

• Gesundheit: Die Österreicher leben zwar im Vergleich mit anderen europäischen Ländern länger, sind aber in den letzten Lebensjahren häufiger krank.

• Qualitätssicherung: Die Qualität im System müsse laut Mossialos besser überwacht werden. Dafür müssten Indikatoren entwickelt werden.

• Selbstbehalte: „Kostenbeiträge sind eine Bestrafung von kranken Menschen“. Mossialos plädiert für eine Beschränkung: bei Menschen mit niedrigem Einkommen auf maximal 1,5 Prozent, bei mittlerem Einkommen zwei Prozent, bei hohem Einkommen nicht mehr als 2,5 Prozent. Wenn etwa ein Medikament nicht effizient ist, sollte der Selbstbehalt höher sein.

• Verwaltungskosten: „Die sind nicht das größte Problem“. Mit 3,7 Prozent der Gesundheitsausgaben liegt Österreich hinter Japan an zweiter Stelle. Er empfiehlt Österreich, sich diesbezüglich „in Richtung Japan zu bewegen“. Zehn Prozent Einsparung brächten hier weitere 46 Millionen Euro.

• Spitäler: In Österreich gibt es doppelt so viele Spitalsaufnahmen wie in den Niederlanden. („Sie haben das österreichische Paradoxon: irrsinnig viele Spitalsaufnahmen und Sie halten die Kosten effizient“, so Mossialos). Eine Verringerung der Kosten um zehn Prozent im Spitalsbereich brächte theoretisch Einsparungen in der Höhe von 1,2 Milliarden Euro. Abzüglich der Investitionskosten für den Ausbau des niedergelassenen Bereichs oder den Ausbau der Pflege („Sie müssen in diese Kosten investieren“) könnten tatsächlich 360 bis 480 Millionen Euro eingespart werden. In der Folge würden durch den Ausbau des niedergelassenen Bereichs die Spitäler entlastet werden.

• Niedergelassener Bereich: Der Primärversorgungsbereich ist im EU-Vergleich eher unterentwickelt. Mossialos schlägt Anreize für Ärzte vor, die bereit sind, Ordinationen in entlegenen Gebieten zu eröffnen – etwa in Form eines garantierten Einkommens für eine bestimmte Zeit.

• Medikamente: Derzeit gibt es kein einheitliches Beschaffungssystem in den Spitälern. Das vermutete Einsparungspotential liegt zwischen 14 und 28 Millionen Euro. Obwohl der Generika- Anteil schon jetzt bei 52 Prozent liegt, könnte eine weitere Steigerung in diesem Bereich nochmals 65 Millionen Euro bringen.

• Betrug und Irrtum: Den Schätzungen des Experten zufolge liegt der Anteil bei rund einem Prozent, was etwa 2,64 Millionen Euro entspricht. „Den gesamten Betrug kann man nicht ausschalten“, betont Mossialos. Mit einer eigenen Einrichtung gegen Betrug könnte man hier – so der konservative Ansatz – eine rund 30-prozentige Reduktion erreichen. Laut Studie kann demnach – wenn alle Effizienzpotentiale ausgeschöpft werden – ein Betrag zwischen 692 und 845 Millionen Euro eingespart werden. Und kann für Innovationen, neue Geräte und Anreize, dass Ärzte sich in ländlichen Gebieten niederlassen, eingesetzt werden. „Es ist genug Geld da“, so Mossialos. Fazit des Studienautors: Veränderungen sind notwendig; eine Effizienzverbesserung und Maßnahmen, damit die Menschen länger gesünder leben. Man komme in Österreich sehr einfach zu Gesundheitsleistungen; die Menschen seien mit der Gesundheitsversorgung „sehr, sehr zufrieden“, weswegen die Studienautoren „auch kein britisches System vorschlagen“. Und Mossialos warnt: „Zerstören Sie nicht ein System. Hier in Österreich haben Sie einen tollen Zugang zum System. Das sollten Sie schützen.“

Die vier vorgeschlagenen Modelle:

Modell 1: Je ein bundesweiter Träger für die Unfall-, und Pensionsversicherung; ein Krankenversicherungsträger für unselbstständig Beschäftigte (GKKs, BVA, VAEB, BKKs und KFAs) und ein Krankenversicherungsträger für selbstständig Erwerbstätige (SVA und SVB).

Modell 2: Ein bundesweiter Pensionsversicherungsträger; ein Krankenversicherungsträger für selbstständig Erwerbstätige; ein Krankenversicherungsträger für unselbstständig Beschäftigte (ausgenommen öffentlich Bedienstete: BVA, VAEB und KFAs) und ein gemeinsamer Unfallund Krankenversicherungsträger für öffentlich Bedienstete.

Modell 3: Ein bundesweiter Pensionsversicherungsträger; ein Kranken- und Unfallversicherungsträger, der aus neun Landesträgern besteht.

Modell 4: Verbesserung des derzeitigen Sozialversicherungssystems durch mehr Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenversicherungsträgern; Erhöhung der Koordination zwischen den Trägern durch die Einrichtung von gemeinsamen Servicezentren.

Mossialos selbst hat keine Empfehlung für eines der vorgeschlagenen Modelle abgegeben: „Es ist keine einfache Entscheidung. Das sollte umsichtig diskutiert werden.“ Vor einer allfälligen Zusammenlegung von Trägern müssten jedenfalls die Leistungen harmonisiert werden, denn „sonst funktioniert das nicht“. In einem zweiten Schritt müsse dann das Vertragssystem analysiert werden. Modell 4 behalte die gleiche Struktur bei, „aber ermutigt dazu, freiwillig zusammenzuarbeiten“. Modell 1 bis 3 seien „drastische Maßnahmen und wesentlich pragmatischer“. Auch die zu erwartende Größenordnung einer solchen Leistungsharmonisierung hat die London School of Economics berechnet. Bei einer Harmonisierung von bestimmten Leistungen (wie etwa Heilbehelfe und Hilfsmittel, Zahnersatz, Psychotherapie, Physiotherapie und Logopädie) ist mit jährlichen Mehrkosten von rund 171 Millionen Euro zu rechnen. Bei einer Harmonisierung bestimmter Leistungen aller Krankenkassen auf 70 Prozent der höchsten Leistungen wären das 390 Millionen Euro. Sozialminister Alois Stöger erklärte unmittelbar nach Präsentation der Studienergebnisse, dass es um die „Beseitigungvon Ungerechtigkeiten“ gehe. Die Leistungen müssten für alle Österreicher gleich sein. Wegen der „schnellen Umsetzbarkeit“ präferiert er Modell 4: Die Zusammenarbeit innerhalb der Träger müsse verbessert werden; bei Medikamenten solle es eine gemeinsame Ausschreibung für die Krankenanstalten geben – auch staatsübergreifend. Ebenso möchte Stöger „in den nächsten Wochen“ ein Sozialversicherungsstrukturgesetz vorlegen. Zehn Prozent der Verwaltungskosten der Sozialversicherungen sollen eingespart werden; diese 120 Millionen Euro sollen in Service und Leistungen investiert werden. Auch plant Stöger, die allgemeinen Selbstbehalte „schrittweise“ abzuschaffen. Ebenso wie Stöger ist auch Gesundheitsministerin Pamela Rendi-Wagner für Modell 4. Ihr Resümee aus der Studie: „Ja, wir haben ein gutes System. Aber es gibt Handlungsfelder, wo wir besser werden können und wo wir besser werden müssen.“ Die ihrer Ansicht nach zentralen Punkte: 1) die Qualität im Spitalswesen, 2) die Stärkung der ambulanten Versorgung durch Entlastung der Spitäler und 3) mehr gezielte Intervention zur Prävention und Gesundheitsförderung. Im Mittelpunkt stünden die Menschen und sie in Gesundheit zu halten, so die Ministerin. Und weiter: „Ärzte, Pfleger und Therapeuten – hier müssen wir ansetzen. Sie sind das Rückgrat der Gesundheitsversorgung.“ Was den Qualitäts- Standard in Spitälern betrifft, ortet Rendi-Wagner „Aufholbedarf“. Es müsse künftig einheitliche Qualitätstandards in allen österreichischen Spitälern geben. Diese sollen künftig bundesweit einheitlich vorgeben werden; Rendi-Wagner kündigt die Schaffung einer unabhängigen Bundesinstituts für Qualitätssicherung in Gesundheit und Pflege an. Auch soll es künftig ein Krankenanstaltengesetz anstelle von bisher zehn (neun Landesgesetze, ein Bundesgesetz) geben. Den ersten Schritt zur Entlastung der Spitäler sieht Rendi-Wagner mit dem Beschluss des Primärversorgungsgesetzes bereits getan. Neben dem Bekenntnis zur Stärkung der Hausärzte kündigt sie auch den Ausbau von fachärztlichen Zentren an, wo mehrere Fachärzte unter einem Dach tätig sein sollen. „Wir müssen Krankheiten vorbeugen, nicht nur therapieren“ – so eine weitere Analyse der Ministerin, die künftig vor allem bei der Kinder- und Jugendgesundheit ansetzen will. Ein entsprechendes Maßnahmenpaket diesbezüglich – Stichwort Kariesprophylaxe und die Aufnahme der Meningokokken B Impfung ins Gratis-Kinderimpfprogramm – soll folgen.

Nachhaltigkeit gefragt

Es ist nicht das erste Mal, dass das österreichische Gesundheitswesen einer tiefergehenden Analyse unterzogen wurde. Und – einmal mehr – wurden längst bekannte Fakten über unser Gesundheitssystem und dessen vermeintliche Schwächen zu Tage befördert.

Jedes System kann immer verbessert werden. Bei aller Kritik sollte man trotzdem nicht vergessen, dass Österreich ein im internationalen Vergleich absolut herzeigbares Gesundheitswesen hat, um das uns viele beneiden. Nicht umsonst warnt Studienautor Mossialos davor, dieses System zu zerstören. Im Gegenteil: Er betonte bei der Präsentation der Studie den „tollen Zugang zum System“, den wir schützen sollten.

Die von ihm angeregte Leistungsharmonisierung beginnt nun beziehungsweise hat schon vor einiger Zeit – zumindest in Ansätzen – unter dem neuen Hauptverbandschef begonnen. Eines ist dabei für die Ärztekammer völlig klar: Eine Nivellierung nach unten kommt nicht in Frage.

Im Gesundheitsbereich kommt es nicht aufs Sparen an, wie uns Ökonomen gerne weismachen wollen. Es geht um den effizienten Einsatz der Mittel – und davon wird man, wenn man sich die Demographie und auch den medizinischen Fortschritt anschaut, jedenfalls mehr brauchen. Es geht darum, Kinder von Anfang an gesund zu erhalten. Es geht insgesamt um Nachhaltigkeit in der Gesundheitspolitik.

Ein entsprechendes Modell werden wir demnächst präsentieren.

Ao. Univ.-Prof. Thomas Szekeres
ÖÄK-Präsident


Verhandlungen zwischen Ärztekammern und Krankenversicherungen

Ganz konkrete Empfehlungen gibt es auch für die Vertragsverhandlungen zwischen Ärztekammer und Krankenversicherungen. „Kurzfristige politische Handlungsoptionen“ dabei sind:

• Die Bundesschiedskommission könnte die Frist der Vertragsbeendigung von drei auf sechs Monate verlängern. Ein externer Schlichter sollte danach angerufen werden zur Erleichterung weiterer Gespräche. Falls eine Einigung nicht möglich ist würde das Gesundheitsministerium den Vertrag anhand der Empfehlungen des Schlichters festlegen.

• Wenn im Gesamtvertrag über bestimmte Bedingungen keine Einigung erzielt werden kann, sollten die Krankenversicherungsträger entsprechende Einzelverträge abschließen können – beispielsweise bei der Besetzung von freien Stellen mit Vertragsärzten.

• Können die im RSG angestrebten Ziele nicht umgesetzt werden, soll eine unabhängige Kommission eingesetzt werden und Empfehlungen zur Ärztezahl und zu Ordinationsstandorten aussprechen. Diese Empfehlungen sollen als Grundlage für Vertragsverhandlungen dienen.

Erste Reaktionen

Das von Alois Stöger und Pamela Rendi-Wagner bevorzugte Modell, wonach die derzeitige Struktur beibehalten werden soll, die Systeme aber harmonisiert und effizienter zusammenarbeiten sollen, ist in den Augen von ÖVP-Chef Sebastian Kurz die „denkbar unlogischste Variante“. Die Begründung: „Die Variante, alle machen das gleiche, und trotzdem machen wir 22 Kassen, scheint mir nicht schlüssig.“ Kurz kündigt diesbezüglich einen Vorschlag im ÖVP-Wahlprogramm an.

„Außer Spesen nichts gewesen“ – so kommentiert FPÖ Gesundheitssprecherin Dagmar Belakowitsch die Ergebnisse. Und weiter: „Warum der österreichische Steuerzahler für diese Studie 630.000 Euro springen lassen musste, weiß Auftraggeber SPÖ-Minister Alois Stöger nicht einmal selbst so genau. Der Erkenntnisgewinn ist gleich null.“

Ähnlich hart die Kritik von NEOS-Sozialsprecher Gerald Loacker. Auch für ihn ist der Nutzen der Studie „gleich null“. Die Vielzahl an Lösungsvarianten ohne klare Handlungsanleitung machten die Studie nur zu eine  weiteren Munition für sozialpartnerschaftliche Grabenkämpfe in Rot und Schwarz.

Hauptverbandschef Alexander Biach sieht in der Analyse den vom Hauptverband eingeschlagenen Weg bestätigt. Die begonnene Harmonisierung der Leistungen müsse fortgesetzt werden; auch die weitere Bündelung von Aufgaben der einzelnen Träger sei ein Gebot der Stunde.

An Reformschritten in Richtung Effizienzsteigerung  Kosteneinsparung und Optimierung führt nach Ansicht der Wirtschaftskammer kein Weg vorbei. Wie der Leiter der sozialpolitischen Abteilung, Martin Gleitsmann, erklärte, müsse eine nachhaltige Lösung mit Fokus auf Qualität und Effizienz herausgefiltert werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2017