Nürnberger Ärztekodex: Eine neue Medizinethik

25.03.2017 | Politik



Im „Nürnberger Ärzteprozess“ wurden vor 70 Jahren NS-Ärzte wegen grausamer Versuche an Menschen angeklagt. Die medizinethischen Grundsätze, die als Folge des Prozesses formuliert wurden, gelten als „Nürnberger Kodex“ bis heute als Meilenstein für die Forschung.  Von Marion Huber

Genau 70 Jahre ist es her, dass Ärzte für grausamste Versuche an Menschen, den Missbrauch von ethnischen Gruppen und die Tötung von mHäftlingen im „Nürnberger Ärzteprozess“ (1946/47) auf der Anklagebank gesessen sind. „Was sie getan haben, hat die Grundsätze der Medizin auf das Gröbste verletzt“, so bezeichnet Univ. Prof. Markus Müller, Rektor der MedUni Wien, Anfang März vor Journalisten die „furchtbaren Ausmaße“ dieser Verbrechen. 70 Jahre nach dem Prozess hat die MedUni Wien dazu aufgerufen, dieser Ereignisse zu gedenken, fügt die Leiterin der Bioethikkommission, Christiane Druml von der MedUni Wien, hinzu: „Seit damals sind Bioethik, Menschenwürde und Menschenrechte gemeinsam Grundlage jeder medizinischen Forschung.“

Der Ärzteprozess war das erste von insgesamt zwölf Folgeverfahren des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg. Verhandelt wurde vor allem gegen Ärzte des nationalsozialistischen Regimes, die für ihre Experimente Menschen als „Versuchskaninchen“ missbraucht hatten. Unter den 23 Angeklagten waren 20 Ärzte: Ihnen wurde entweder die Verantwortung oder die direkte Beteiligung an den Medizinverbrechen vorgeworfen. Unfreiwillige medizinische Experimente an KZ-Häftlingen, Massentötungen von psychisch kranken und behinderten Menschen, Sterilisationsversuche – die Liste der Taten ist lang. „Überhaupt haben im Dritten Reich die Menschen-Experimente zugenommen. Sie waren unethisch und rassistisch“, schilderte der Medizinhistoriker Prof. Paul Weindling von der Oxford Brookes University in Großbritannien.

Auch die Wiener Medizin hatte „Licht- und Schattenphasen“, so Müller: auch Vertreter der medizinischen Fakultät in Wien waren an den Verbrechen der NS-Medizin beteiligt. So war etwa der österreichische Internist Wilhelm Beiglböck für die Durchführung der Meerwasserversuche an Sinti und Roma im KZ Dachau verantwortlich. Er wurde im Ärzteprozess zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Der österreichische Internist Hans Eppinger junior beteiligte sich an den Versuchen von Beiglböck. Deswegen wäre auch er in Nürnberg vor Gericht gestanden, nahm sich aber vor dem Prozess das Leben.

Der Anatom Univ. Prof. Eduard Pernkopf (ab 1938 Dekan der Medizinischen Fakultät, von 1943 bis 1945 Rektor der Universität Wien) erstellte die Zeichnungen in seinem Anatomieatlas mithilfe von Präparaten hingerichteter NS-Opfer. Der Atlas „Topographische Anatomie des Menschen, Atlas der regionär-stratigraphischen Präparation“ erschien von 1937 bis 1960 und setzte – damals – neue Maßstäbe in der grafischen Gestaltung anatomischer Lehrmaterialien.

Von den 23 Angeklagten wurden sieben für ihre Verbrechen zum Tod verurteilt – unter ihnen auch der ranghöchste Angeklagte Karl Brandt; andere mussten lange Haftstrafen absitzen. Brandt war ab 1934 der Begleitarzt von Adolf Hitler und ab 1939 der Beauftragte für die Tötungen der Aktion T4 im Rahmen des „Euthanasie“- Programms. Brandt wusste von medizinischen Menschenversuchen in den Konzentrationslagern, förderte sie und regte sie teils selbst an. Der Nürnberger Ärzteprozess wurde offiziell auch als „Vereinigte Staaten vs. Karl Brandt et al.“ bezeichnet.

Zehn ethische Grundsätze

Für Weindling war der Nürnberger Ärzteprozess eine Zäsur: „Der Kernpunkt ist die Entwicklung einer neuen Ethik.“ Im Anschluss an den Prozess formulierte nämlich das Militärgericht zehn Grundsätze „über zulässige medizinische Versuche“. Seit damals gelten sie als „Nürnberger Kodex“ als ethische Richtlinie für medizinische, psychologische und andere Experimente am Menschen. An erster Stelle heißt es darin: „Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. (…)“ Weindling dazu: „Die Prinzipien von damals sind noch heute unerlässlich für die medizinische Forschung und Therapie.“ Sie haben später in weitere medizinische Deklarationen Eingang gefunden unter anderem in jene der UNESCO, in die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes und auch in die Bioethikkonvention des Europarates – wenn auch im Laufe der Zeit Grundsätze verändert und angepasst wurden.

Weil von vielen Schattenseiten der Wiener Medizin die Rede war – noch ein anderer Aspekt: Der in Wien geborene Psychiater Leo Alexander war im Nürnberger Ärzteprozess Berater des US-amerikanischen Chefanklägers Telford Taylor und trug damit maßgeblich zur Formulierung des „Nürnberger Kodex“ bei …

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2017