Michele Marin: Vom Unfallchirurgen zum Hausarzt

10.03.2017 | Politik

Bessere Work-Life-Balance

Nach einem Jahrzehnt als Unfallchirurg wurde Michele Marin Hausarzt im Lungau. Verletzte Skifahrer gehören immer noch zu seinem Winteralltag, aber nun hat er mehr Autonomie über die eigene Zeit. Von Ursula Jungmeier-Scholz

Grün, weiß oder rot war über 15 Jahre hinweg das Gewand des Unfallchirurgen Michele Marin. Grün im OP, weiß auf der Station oder rot im Notarzteinsatz. Daneben war selten Raum für Anderes. „Die beiden Kinder hat meine Frau – mit Unterstützung ihrer Eltern – fast alleine großgezogen“, resümiert Marin. So sah sein Alltag aus, bis er 2011 das Spital in Tamsweg verließ und ein neues Leben als Hausarzt in St. Michael im Lungau begann. „Eineinhalb Jahrzehnte habe ich nahezu durchgehend im Dienst der Allgemeinheit verbracht, jetzt bleiben mir noch 15 Berufsjahre, in denen ich meine Work-Life-Balance vielleicht besser regeln kann.“ Nun hat er mehr Zeit für seine Familie und kommt hin und wieder auch zum Radfahren, Berggehen, Lesen oder Reisen. Aber warum gelingt ihm gerade als Landarzt eine bessere Work-Life-Balance? „Ich kann mir die Arbeit selbst einteilen – das ist schon viel wert“, erklärt Marin.

Wanderjahre

Weder war der Arztberuf für Marin ein lange gehegter Bubentraum noch gab es familiäre Vorbilder dafür. Ursprünglich wollte er Koch werden. Dann arbeitete Marin in seiner Heimatstadt Wien in den Ferien im Haus der Barmherzigkeit und wuchs so in den medizinischen Bereich hinein. Nach dem Studium ging er zum Turnus ins Land Salzburg, wo er seine zukünftige Frau, eine Krankenschwester, kennenlernte. Seit 1995 liegt sein Lebensmittelpunkt nun in ihrer Heimat im Lungau. Nach einer Zeit auf der Salzburger Pädiatrie wäre er gerne Kinderchirurg geworden – aber es gelang ihm nicht, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort einen Ausbildungsplatz zu erlangen.

Den chirurgischen Bereich favorisierte er jedoch weiterhin: „Ich war handwerklich nicht ungeschickt und hatte viel chirurgisch famuliert.“ Als dann in Tamsweg, unweit des Heimatortes seiner Frau, eine Ausbildungsstelle als Unfallchirurg frei wurde, fiel für Marin im Jahr 2001 die Entscheidung über sein zukünftiges Fach. Im selben Jahr begann die Familie mit dem Hausbau in Mariapfarr. Richtig sesshaft wurde Michele Marin trotzdem noch nicht, denn um die Gegenfächer zu absolvieren, musste er erneut auspendeln.

Ein Jahrzehnt lang war Marin dann gerne Unfallchirurg, bis die Stimmung im Krankenhaus kippte. „In der Abteilung wurde es üblich, das Gros der Arbeit auf die Jüngeren zu verteilen, die zwischen OP, Ambulanz, Visite und Bürokratie richtiggehend verbraucht wurden.“ Da begann er, über Alternativen nachzudenken.

„Die erste Stelle für Allgemeinmedizin im Lungau, auf die ich mich hätte bewerben können, habe ich aufgrund finanzieller Bedenken ausgeschlossen – trotz inkludierter Hausapotheke“, erzählt Marin. „Im Nachhinein denke ich mir, ich hätte den Wechsel durchaus damals schon vollziehen können.“

Heute ordiniert Marin in St. Michael im Lungau in Kooperation mit einem zweiten Allgemeinmediziner. So ist zu den Öffnungszeiten der Apotheke immer einer der beiden im Dienst. „Jeder von uns hat einen vollen Kassenvertrag, aber wir teilen uns Personal, Räume und Geräte.“ Die Ordination verfügt sogar über ein eigenes Röntgen und bietet Marin somit die Möglichkeit, kleinere unfallchirurgische Tätigkeiten zu übernehmen – was vor allemwährend der Skisaison sehr gefragt ist.

Standards bleiben

Auch sein Wundmanagement trägt noch die Handschrift des Unfallchirurgen. „Ich habe meine Standards, die ich beibehalte.“ Was Marin an seiner neuen Tätigkeit besonders schätzt, ist die Vielseitigkeit. „Ich bin fachlich breit aufgestellt, verstehe nicht nur etwas von Chirurgie, sondern auch von Orthopädie, Dermatologie, Gastroenterologie und Pädiatrie.“ Die Wartezeit vor der Facharzt-Ausbildungsstelle, die er in diversen Kliniken auf unterschiedlichen Abteilungen verbracht hatte, erwies sich letztlich als perfekte Vorbereitung auf eine damals noch nicht absehbare ärztliche Zukunft.

Als „Neuer“ musste er sich allerdings erst einmal einen Ruf als Allgemeinmediziner erarbeiten. „Die Leute kommen nicht automatisch, weil du die Ordination übernommen hast – da braucht es schon viel Engagement.“ Um präsent zu sein, ging er anfangs nicht mehr als zwei Wochen am Stück auf Urlaub. Und sein Schmerzdiplom hat er lediglich deshalb noch nicht abgeschlossen, weil ihm dazu ein klinisches Praktikum fehlt, für das er derzeit keine Zeit findet. Schließlich versorgt er ja auch noch als Schularzt acht Schulen. „Man muss gerne arbeiten, sonst kann man kein guter Allgemeinmediziner sein“, betont Marin. „Trotzdem sollte man auch ,Nein‘ sagen können, wenn die Arbeit zuviel wird. Das lerne ich gerade.“ Ebenfalls neu für ihn ist die Dankbarkeit der Patienten. „Die kenne ich aus der Klinik kaum. Viele bedanken sich für Kleinigkeiten – und manchmal einfach für die menschliche Zuwendung.“ So mancher ältere Patient bereitet sich sorgfältig auf die regelmäßige ärztliche Visite vor, kocht Kaffee etc. Eine 96-jährige Lungauerin hat Marin schon selbst verfasste Gedichte vorgelesen. Die Zeit dafür nimmt er sich dann auch. So ist es offensichtlich der Mix aus seiner Tätigkeit als Allgemeinmediziner, in die er auch sein Wissen aus anderen Fachbereichen einbringen kann, gepaart mit der strikten Trennung seines Privatlebens von seiner mitunter doch stressigen Tätigkeit als Allgemeinmediziner.

Er achtet bewusst auf sein Privatleben und schirmt es so gut wie möglich vor dem ausufernden Beruf ab. Ein wichtiger Aspekt seiner Lebensqualität besteht darin, seine Praxis nicht im Wohnort zu betreiben. „Im Notfall bin ich in elf Minuten vor Ort, das muss reichen.“ Seine Handynummer gibt er onkologischen Patienten sowie ausgewählten Hochaltrigen. Die Erfahrungen mit dieser Form der Bereitschaft sind durchaus positiv: „Sie rufen wirklich nur in Notfällen an.“

Im Grunde zufrieden

Seit mittlerweile fünf Jahren ist Marin im niedergelassenen Bereich tätig und er bereut den Wechsel nicht. „Ganz selten, in einer melancholischen Stunde vielleicht, aber im Grunde bin ich zufrieden“, resümiert er. Finanziell läuft es besser als erwartet – auch wenn er im Quartal Leistungen im Wert von mehr als 6.000 Euro erbringt, die er aufgrund der Limitierungen der Krankenkasse nicht ausbezahlt bekommt, ein Wermutstropfen der neuen Tätigkeit. „Aber ich weiß: zumindest die Menschen honorieren meine Tätigkeit.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2017