Interview – Thomas Szekeres: „Berechtigte Bedenken und Kritik“

30.06.2017 | Politik

Mit Thomas Szekeres steht künftig wieder ein Spitalsarzt an der Spitze der Österreichischen Ärztekammer. Den Vorwurf der Blockadehaltung der ÖÄK weist er zurück; es gehe vielmehr um berechtigte Bedenken und Kritik. Im Gespräch mit Agnes M. Mühlgassner nimmt er Stellung zur künftigen Primärversorgung, zur Situation von Spitalsärzten, zur mangelnden Wertschätzung von Ärztinnen und Ärzten von Seiten der Politik sowie zur Abwanderung von Jungärzten.

ÖÄZ: Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Standesvertretung in den nächsten Jahren?
Szekeres: Die größte Herausforderung ist, Politik und Sozialversicherung klar zu machen, dass die Ärztekammer bei der Neugestaltung und Veränderung im Gesundheitswesen eine zentrale Rolle einnehmen muss. Im Rahmen der Gesundheitsreform hat man ganz stolz die Ärzteschaft ausgeladen ohne sachliche Begründung. Es macht aber absolut Sinn, dass die im Gesundheitsbereich zentral tätigen Ärztinnen und Ärzte auch bei der Weiterentwicklung des Systems Themenführerschaft übernehmen. So hat sich ja gezeigt, dass die Gesundheitsreform in der angedachten Form nicht umgesetzt werden konnte. Man hat nur die Gremien verdoppelt, die Landes- und Bundesgesundheitskommissionen um Landes- und Bundeszielsteuerungskommissionen erweitert. In der Sache hat das gar nichts gebracht.

Eine ähnliche Situation hat es 2008 gegeben. Mit den Worten „Es reicht“ hat der damalige Vizekanzler Wilhelm Molterer bekanntlich die Koalition beendet und die geplante Gesundheitsreform gekippt …
… das war gut so, weil damals einige Veränderungen angedacht waren, die das Sozialversicherungssystem zum Kippen gebracht hätten. Es gibt immer wieder die Bestrebung, den Gesamtvertrag abzuschaffen, was vollkommen kontraproduktiv ist. Schon jetzt geht die Zahl der Kassenverträge zurück, während die Bevölkerung explosionsartig wächst. Wenn man sich zu einem niederschwelligen Zugang zur Kassenmedizin bekennt, brauchen wir mehr Kassenärzte. Gleichzeitig sehen wir immer mehr Kollegen im Wahlarztsektor, die durchaus eine versorgungsrelevante Position haben.

Es war ein Ziel des Hauptverbandes, den Gesamtvertrag in der derzeitigen Form auszuhebeln.
Ich verstehe nicht, wieso immer wieder der Gesamtvertrag in Diskussion ist – und warum sich der Hauptverband in Wirklichkeit selbst abschaffen will und damit auch das Kassensystem in Frage stellt. Wenn man das macht, so ist das kurzsichtig und kontraproduktiv. Es ist auch schwer umsetzbar, wenn man mit jeder Einrichtung und jeder Ordination einen eigenen Vertrag mit unterschiedlichen Tarifen abschließt. Ein Abgehen vom Gesamtvertrag und Direktverträge sind für uns inakzeptabel.

Der ÖÄK wird immer wieder Blockadehaltung vorgeworfen.
Ich sehe keine Blockadehaltung, sondern berechtigte Bedenken und Kritik. Wenn Sie die einzelnen Themen ansehen, haben wir – im Nachhinein betrachtet – überall recht gehabt: angefangen von ELGA, die nicht so funktioniert wie geplant und im Spitalsbereich keine wirkliche Entlastung, sondern eher eine Belastung darstellt, die Sicherheitslücken hat bis hin zum Mammografie-Screening, das nur geringe Teilnahmefrequenzen hat. Auf Kritik reagiert der Hauptverband beleidigt, anstatt hier nachzubessern, damit wirklich 70 Prozent der Frauen zur Mammografie gehen.

Stichwort Spitalsärzte: Das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz hat zweifellosVerbesserungen für Spitalsärzte gebracht, wird aber von der Politik gerne als Erklärung für lange Wartezeiten auf Spezialuntersuchungen und Operationen verwendet. Nun gibt es ja Bestrebungen von einzelnen Bundesländern, diese strikten Vorgaben wieder aufzuweichen.
Die nunmehrigen Verbesserungen sind eine Vorgabe der EU, die bei uns mehr als zehn Jahre verspätet umgesetzt wurde. Eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 48 Stunden bedeutet ja nicht, dass die Kolleginnen und Kollegen jetzt nicht mehr arbeiten. Es sind noch immer fast zehn Stunden mehr, als im Durchschnitt in Österreich gearbeitet wird und ich glaube, dass es wichtig war, das umzusetzen. In allen Bundesländern ist es zu einer spürbaren Erhöhung der Grundgehälter gekommen. Damit ist das Einkommensniveau bei den angestellten Ärztinnen und Ärzten mit Deutschland und der Schweiz vergleichbar geworden. Die Wartezeiten ergeben sich durch Engpässe der einzelnen Spitalsträger. Man würde in manchen Bereichen mehr Personal benötigen und bessert hier viel zu langsam nach.

Gibt es im Gesundheitswesen Einsparpotential?
Nein. Bei einer wachsenden und älter werdenden Bevölkerung wird es ganz schwer sein, die Kosten zu senken, wenn man das Niveau der medizinischen Versorgung halten möchte. Wir liegen bei den laufenden Gesundheitsausgaben ziemlich konstant bei 10,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und damit unter den Ausgaben der Schweiz, Deutschlands oder skandinavischer Länder. Wir sehen eine rasante Entwicklung in der Diagnostik wie PET-CT und PET-MR, neue Medikamente wie bei der Hepatitis C – all das muss berücksichtigt werden. Das wird nicht gratis sein. Und trotzdem ist es zu keiner Kostenexplosion gekommen, auch wenn es von der Politik oft fälschlicherweise behauptet wird.

Mit dem ärztlichen Nachwuchs in der Allgemeinmedizin sieht es nicht gut aus. Es gibt kaum Interessenten, die Anerkennung der Ausbildungsstätten war anfangs in der Kritik und auch die verpflichtende Finanzierung der Lehrpraxis ist nach wie vor ungeklärt.
Die Anerkennung der Ausbildungsstellen funktioniert in letzter Zeit relativ schnell und die Ausbildungsstellen werden rückwirkend anerkannt. Die Verzögerungen gehen also nicht zu Lasten der Kolleginnen und Kollegen. Das Abarbeiten der Anträge, was komplizierter ist als früher, erfolgt in letzter Zeit zufriedenstellend und wird wenn notwendig noch weiter beschleunigt werden. Die Finanzierung der Lehrpraxis muss kommen. Das ist im Interesse aller. Wenn nicht, wird es auch keine vernünftige Ausbildung geben.

Kritik gibt es auch an der neuen Ausbildungsordnung. Wird man hier nachbessern?
Es gibt relativ wenig Kolleginnen und Kollegen in Ausbildung zur Allgemeinmedizin nach der neuen Ausbildungsordnung. Das muss man beobachten und nachbessern. Ein Grund für das geringe Interesse ist das Berufsbild des Allgemeinmediziners. Es ist ganz wichtig, dass man dem Hausarzt größere Wertschätzung zeigt. Wenn man den Hausarzt sowohl vom Leistungsspektrum als auch vom Honorar her aufwertet, bin ich mir sicher, dass es mehr Kollegen geben wird, die diesen Beruf wählen werden. Auch soll man den wohnortnahen Hausarzt nicht durch Primärversorgungszentren ersetzen, die können maximal eine Ergänzung sein.

Heuer haben sich wieder mehr als 15.000 Interessenten zum Aufnahmetest für das Medizinstudium angemeldet und zeigen damit, dass das Interesse am Beruf ungebrochen ist. Gleichzeitig wird die Tätigkeit als niedergelassener Kassenarzt oder als Spitalsarzt zunehmend uninteressant. Woran liegt das?
Ich sehe ein großes Defizit bei der Wertschätzung. Wenn sich der Hauptverband ein verpflichtendes Mystery Shopping einfallen lässt, braucht man sich nicht wundern, dass die Kollegen nicht in die Kassenmedizin drängen. Und wenn die Spitalserhalter ihren ärztlichen Mitarbeitern nicht die Wertschätzung zeigen, die sie eigentlich verdienen, brauchen sie sich auch nicht wundern, dass die Absolventen des Medizinstudiums ins Ausland abwandern. Denn ein Viertel der Studenten ist aus dem Ausland und geht wieder zurück. Und auch immer mehr österreichische Absolventen gehen ins Ausland – was ja primär nichts Böses ist. Vier von sechs Absolventen fangen nie in Österreich zu arbeiten an. Aber wir hätten gerne, dass die Rahmenbedingungen so verbessert werden, dass die Absolventen gerne hier bleiben. Nachdem weltweit ein Ärztemangel besteht und die Absolventen unseres Studiums weltweit gefragt sind, besonders in Europa, in Deutschland, in der Schweiz, in England, in Skandinavien händeringend Ärzte und Ärztinnen gesucht werden, hat man andere Optionen und fängt nicht unbedingt hier zu arbeiten an, wenn die Rahmenbedingungen, die Ausbildung, die Wertschätzung nicht adäquat sind.

Themenwechsel: Insgesamt wird der Anteil der Frauen in der Medizin immer größer. Was gilt es hier zu tun, damit die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht nur eine Redewendung ist?
Die Ärztezahlen steigen, aber auch die Zahl der Teilbeschäftigten, was vor allem auf die steigende Zahl an Frauen im Beruf zurückzuführen ist.

Laut Ärzteliste sind mittlerweile mehr als 50 Prozent Frauen im ärztlichen Beruf, Tendenz weiter steigend. Es muss für alle nachvollziehbar sein, dass die Kolleginnen Beruf und Familie verbinden können. Dafür wird es notwendig sein, sowohl im niedergelassenen als auch im angestellten Bereich Teilzeitmodelle zu forcieren und die Rahmenbedingungen insgesamt zu verbessern. Bis jetzt ist das System viel zu wenig darauf eingestellt etwa eine Ausbildung in Teilzeit zu absolvieren und, dass es keine Kinderbetreuungsstellen in der Nacht gibt. Hier müssen die Dienstgeber reagieren.

In sechs Bundesländern stehen Spitalsärzte an der Spitze der Landesärztekammer, in zwei Bundesländern sind es niedergelassene Fachärzte und nur noch einer ist niedergelassener Allgemeinmediziner. In der vergangenen Funktionsperiode waren es noch drei niedergelassene Allgemeinmediziner. Hier ist es offensichtlich zu einem Shift gekommen. Und erstmals steht in dieser Funktionsperiode eine Frau an der Spitze einer Landesärztekammer.
Die Spitalsärzte sind natürlich zahlenmäßig mehr. Aber ich würde das nicht so differenzieren, denn ich bin überzeugt, dass auch die angestellten Ärztekammerpräsidenten die niedergelassenen Ärzte ebenso vertreten und umgekehrt. Und ich bin froh, dass erstmals eine Frau Präsidentin geworden ist. Wünschenswert wäre, dass noch mehr Frauen in Spitzenpositionen in den Ärztekammern kommen.

Zur Person

Geboren 1962 in Wien, Promotion 1988 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien. 1994 Facharzt für Klinische Chemie und Labordiagnostik und Habilitation; 2005 Facharzt für Humangenetik. Szekeres ist seit 1997 Oberarzt am Klinischen Institut für medizinische und chemische Labordiagnostik der Medizinischen Universität Wien.

Vorstandsmitglied der Ärztekammer Wien ist er seit 2001; seit 2012 Präsident. Als damaliger Vorsitzender des Betriebsrates des wissenschaftlichen Personals an der Medizinischen Universität Wien führte er 2015 einen Protest gegen geplante Sparmaßnahmen und den Stellenabbau an. In der Folge dieser Proteste wurden die finanziellen Mittel aufgestockt.

Sein wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt in der Krebsforschung; er ist an circa 180 wissenschaftlichen Publikationen in internationalen Zeitschriften beteiligt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 30.06.2017