Im Gespräch: Heinz Fassmann „Gesellschaften verändern sich. Das ist so.“

10.10.2017 | Politik

„Gesellschaften verändern sich. Das ist so.“

Univ. Prof. Heinz Fassmann, Geograph an der Universität Wien und Experte für Migration und Integration, erläutert im ÖÄZ-Interview, was auf die Gesellschaft zukommt. Das Gespräch führte Claus Reitan.

ÖÄZ: Sie sind Wissenschafter und Vorsitzender des Expertenrates für Integration. Welches Bild bieten Gesellschaft und Gegenwart? Was kennzeichnet sie?

Fassmann: Wir leben – wohl unwidersprochen – in einer sehr pluralistischen Gesellschaft. Daher stellt sich die Frage, von welcher Gesellschaft wir jeweils sprechen, denn von einer einheitlichen kann nicht mehr die Rede sein. Warum das so ist? Die normgebenden Institutionen haben an Wirksamkeit verloren. Institutionen wie die Kirche sind schwächer geworden, ebenso die normgebende Kraft der weltanschaulich ausgerichteten Parteien. Die Veränderungen in der Arbeitswelt sind ebenso zu beachten. Die alte Industrie mit ihren standardisierten Produktionsabläufen und einer einheitlichen Arbeiterschaft ist in der Form nicht mehr existent. Und schließlich sind die Veränderungen im Bereich der Medien, Stichwort Facebook, WhatsApp, zu beachten, die eine kommunikative Vielfalt unterstützen. Vielfalt und Differenzierung kennzeichnen die gesellschaftliche Entwicklung. Ich halte mich zurück und bewerte das nicht moralisch, aber ich weise darauf hin, dass mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft diese auch konfliktanfälliger wird.

Hat die Vielfalt an Lebensformen auch mit Individualität zu tun?

Ja, die Individualität ist zu einem bestimmenden Element biographischer Entscheidungen geworden, auch aufgrund der Schwäche der normgebenden Institutionen. Und es gibt dabei die Tendenz, biographische Entscheidungen wie Eheschließung, Geburt von Kindern, aber auch die Mitgliedschaft zu Parteien zu vermeiden oder zu verschieben, weil das zu einer Einschränkung von Freiheitsräumen führen könnte. Diese Beobachtung hat viel für sich, erklärt sie doch Phänomene wie Wechselwähler, Säkularität und das Verschieben des sogenannten Erstgebäralters in die Zeit nach dem 30. Lebensjahr. Wir wollen uns die individuelle Entscheidungsfreiheit behalten. Das kann man auch als übertriebenen betrachten, ist aber so.

Ist der soziale Zusammenhalt gefährdet?

Der soziale Zusammenhalt in einer vielfältigen und individualisierten Gesellschaft ergibt sich jedenfalls nicht automatisch. Der soziale Zusammenhalt hat etwas mit Solidarität und  Emotionalität zu tun und der wahrgenommenen Verpflichtung, füreinander da zu sein. Eine gemeinsam getragene Idee, ein Narrativ, eine nationale Identität unterstützen diese Gemeinsamkeit. Unsere pluralistische Gesellschaft, die auch von Zuwanderung geprägt ist, benötigt dahingehend eine neue Form dieser nationalen Identität, denn sonst löst sich das Band auf, welches Menschen verbindet. Bei der Diskussion über die bedarfsorientierte Mindestsicherung fragen sich manche, warum wird Steuergeld verwendet für jene, die nichts einbezahlt haben und die nicht Teil der gemeinsamen nationalen Identität sind.

Was ist zu tun, um Zusammenhalt zu sichern?

Wir sollten die nationale Identität neu formulieren, ohne in einen primitiven Nationalismus zu verfallen. Wir sollten den Stolz, Österreicher zu sein, mit Inhalten auffüllen. Wir sind ein reiches, ein sicheres Land, mit guten öffentlichen Strukturen, ohne nennenswerte Korruption und einer demokratisch kontrollierten Machtverteilung. Das könnten Elemente unseres Narrativs sein, darüber sollten wir diskutieren, offen und in einer etwas geringer ausgeprägten Kultur der Aufregung, wenn jemand etwas nicht politisch Korrektes sagt.

Worauf hat sich Österreich perspektivisch betrachtet einzustellen? Migration? Diversität?

Darauf ganz sicher, und jedenfalls auf Zuwanderung. Österreich ist ein ausgesprochen attraktives Land. Es bietet hohe Löhne, ein hohes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, gute Universitäten mit einem nahezu freien Zugang und ein System der sozialen Sicherheit, das den Einzelnen nicht fallen lässt. Wir sind attraktiv für Zuwanderer, sowohl für jene innerhalb der Europäischen Union als auch für Bürger aus Drittstaaten.

Kann Zuwanderung problematische Folgen haben?
Wir haben gegenwärtig etwas zu viel an Zuwanderung. In den vergangenen zwei Jahren kam es zur Neuzuwanderung von rund 388.000 Personen, der Wanderungssaldo – Zuzüge minus Wegzüge – der zurückliegenden zwei Kalenderjahre beträgt rund 177.000 Personen. Das sind Zahlen mit Gewicht. Das ist alles erst zu verarbeiten, in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnversorgung. Die Kapazität einer Gesellschaft zur Integration von Neuhinzukommenden ist nicht unbeschränkt. Daher benötigen wir auch eine Rückkehr zu einer berechen- und gestaltbaren Zuwanderung.

Ist Österreich für Zuwanderung und Veränderungen resilient genug?
Ja, im Prinzip schon, denn Gesellschaften sind in der Regel ausgesprochen anpassungsfähig. Sie gehen nicht unter, das ist ein falsches historisches Bild. Gesellschaften verändern sich. Aber das kann gestaltet werden und darauf soll sich Politik auch konzentrieren.

Themenwechsel. Die Bewertungen des Gesundheitswesens bewegen sich zwischen hoher Anerkennung bis zu politischer Kritik. Ihre Einschätzung?

Das Medizinsystem funktioniert, die Qualität der medizinischen Versorgung, der Pflege und der Betreuung ist im Vergleich großartig. Zugleich sehe ich, wie meine Kollegen und Kolleginnen in der medizinischen Grundlagenforschung außerordentlich engagiert sind und forschen. Das Ende des medizinischen Fortschritts ist noch lange nicht erreicht, ebenso wenig das Ende der Lebenserwartung, wahrscheinlich aber auch nicht das Ende der Beanspruchung öffentlicher Haushalte.

ÖÄZ: Persönlich, aber nicht indiskret gefragt: Was ist das Gesündeste an Ihrem Leben?

Die Disziplin. Ich trachte danach, ausreichend zu schlafen und mich maßvoll zu ernähren. Einen disziplinierten Lebenswandel zu führen, ist meine Norm und hoffentlich auch gesund. Disziplin ist übrigens eine unabdingbare Voraussetzung für die Wissenschaft. Erkenntnisse sind nur dann zu erzielen, wenn man diszipliniert an einer Fragestellung arbeitet. Das ist in allen Wissenschaften so.

ÖÄZ: Heilt die Zeit alle Wunden?
Ja, und man sollte es zulassen. In den Ländern des Balkans sind die Folgen zu beobachten, wenn man die Zeit und damit die historischen Konflikte immer wieder aufwärmt. Aus politisch-historischer Perspektive betrachtet wäre es manchmal besser, wenn man die heilende Kraft der Zeit einsetzt. Manchmal ist es aber notwendig, keinen Schlussstrich zu ziehen und die Geschichte der nächsten Generation als Lehrstück mitzugeben.

Zur Person

Heinz Fassmann ist Professor für angewandte Geographie, Raumforschung und Raumordnung am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Er ist Vizerektor für Forschung und Internationales, Vorsitzender des Expertenrates für Integration, der beim Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres angesiedelt ist. Weiters ist Fassmann Direktor des Instituts für Stadt- und Regionalforschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Obmann der Kommission für Migrations- und Integrationsforschung, ebenfalls ÖWA.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2017