Im Gespräch – Rudolf Tasch­ner: Medi­zin­quote ist „Feh­ler im System“

25.02.2017 | Politik

Dass der Wis­sen­schafts­mi­nis­ter nun Demuts-Ges­ten set­zen muss, damit Öster­reich die Quo­ten behal­ten kann, ist kein gutes Zei­chen, so die Ana­lyse von Univ. Prof. Rudolf Tasch­ner. Im Gespräch mit Claus Reitan geht es um Ent­schei­dun­gen in Brüs­sel, seine Ein­stel­lung zu Gesund­heit, zu Reli­gion, Staat und die eigent­li­che Auf­gabe der Bildung.

ÖÄZ: Sie tre­ten als Wis­sen­schaf­ter und als Publi­zist an die Öffent­lich­keit, jüngst mit dem Buch „Woran glau­ben“. Ihre Annä­he­rung an The­men ist unvor­ein­ge­nom­men, das öffent­li­che Gespräch ist jedoch durch­setzt von Annah­men und von Glau­bens­sät­zen. Wie kom­men Sie damit zurecht?
Tasch­ner: Ich bin dafür, dass Men­schen ihre Glau­bens­sätze haben. Ich will nie­man­dem sei­nen Glau­ben neh­men, aber ich will zum Nach­den­ken und zur Erkennt­nis ver­hel­fen, wel­che Glau­bens­sätze jemand in sich trägt. Das ist Auf­klä­rung. Der Ver­such, sich des eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen. Aber ich ver­künde keine Wahrheit.

Leben wir in auf­ge­klär­ten Zei­ten?
Die Frage nach einer zwei­ten Auf­klä­rung hat ihre Ursa­che in der häu­fig vor­ge­brach­ten These, das Bil­dungs­we­sen müsste Kom­pe­ten­zen ver­mit­teln. Damit wer­den Tech­ni­ker des Wis­sens her­an­ge­bil­det. Das erachte ich für ein schlech­tes Zei­chen, denn diese Men­schen bedie­nen sich nicht ihres eige­nen Ver­stan­des, son­dern haben Kom­pe­ten­zen erlernt. Auf­ge­klärt ist jedoch, wer dar­über nach­zu­den­ken ver­mag, was Kom­pe­tenz bedeu­tet. Das muss ver­mit­telt werden.

Ist unsere Zeit zu sehr auf Kom­pe­ten­zen fixiert?
Dem Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ter Hans Ulrich Gum­brecht zufolge war es in den ers­ten Deka­den des 20. Jahr­hun­derts außer­or­dent­lich bedeut­sam, zu wis­sen, wer etwa in den Natur­wis­sen­schaf­ten den Nobel­preis bekommt. Und heute? Gum­brecht sagt zu Recht, heute ist es inter­es­sant, wer gute Patente hat. Elon Musk und sein Tesla sind dafür ein gutes Bei­spiel. Es geht also nicht mehr um die Wis­sen­schaft, son­dern um die Inge­nieur­tech­nik. Das ist in Ord­nung, aber wir dür­fen dar­über nicht unsere Wur­zeln ver­ges­sen oder gar verlieren.

Der Staat ist mit vie­len Anfor­de­run­gen kon­fron­tiert, auch mit Staats­gläu­big­keit. Ande­rer­seits wird es für den Staat schwie­ri­ger, alle Ansprü­che zu erfül­len. Was tun?
Ich bin ein Freund des deut­schen Öko­no­men Wal­ter Eucken, der den Ordo­li­be­ra­lis­mus mit­be­grün­dete. Der Staat hat die poli­ti­schen und die wirt­schaft­li­chen Bedin­gun­gen so zu gestal­ten, dass die­je­ni­gen, die aus­schließ­lich an ihren eige­nen Nut­zen den­ken, damit zugleich dem Gemein­nut­zen die­nen kön­nen. Denn wir müs­sen damit rech­nen, dass jeder an den Eigen­nutz denkt. Der Staat hat den Bür­gern Frei­heit und Sicher­heit zu geben, also Zukunft. Und er muss es ermög­li­chen, Tra­di­tio­nen zu wah­ren. Das sind mei­nes Erach­tens die Kern­auf­ga­ben des Staa­tes. Ich bin, wenn Sie so wol­len, ein Anhän­ger des Rechts­po­si­ti­vis­mus in der Tra­di­tion von Hans Kel­sen, dem Vater unse­rer Bun­des­ver­fas­sung. Dem Staat trete ich übri­gens stets mit Skep­sis gegen­über. Jenen, die stän­dig kri­tisch vom Neo­li­be­ra­lis­mus spre­chen, halte ich ent­ge­gen, dass die Poli­tik der ver­gan­ge­nen Jahre – bis zurück zu US-Prä­si­dent Bill Clin­ton – nicht als neo­li­be­ral, son­dern als extrem eta­tis­tisch zu bezeich­nen ist, wie sich etwa an Grie­chen­land gezeigt hat.

In man­chen Staa­ten tritt jedoch neuer Pro­tek­tio­nis­mus auf, ebenso natio­na­lis­ti­sche Ten­den­zen, Reli­gion und Reli­gio­nen spie­len wie­der eine stär­kere Rolle.
Reli­gion ist etwas Per­sön­li­ches und geht nur den Ein­zel­nen etwas an sowie jene, mit denen die jewei­lige Per­son ihre reli­giö­sen Über­zeu­gun­gen teilt. Das andere ist dann Ideo­lo­gie. Diese erachte ich für gefähr­lich, denn sie führt zu Erstar­rung. Daher muss man sie auf­bre­chen. Das Natio­na­lis­ti­sche wie­derum ist der falsch ange­legte Ver­such, Leo­pold Kohr und seine These des ‚small is beau­tiful‘ aus den sieb­zi­ger Jah­ren zu ver­ste­hen. Rich­tig ist hin­ge­gen, dass es pas­sende Gemein­schafts­grö­ßen gibt und sol­che, die unan­ge­mes­sen sind, dann wird es unüber­sicht­lich. Für die Poli­tik gilt daher, Ent­schei­dun­gen sol­len in der Nähe der Men­schen getrof­fen wer­den, nicht etwa weit weg in Brüs­sel. Um es kon­kret auf­zu­zei­gen: Wie viele junge Men­schen dür­fen hier Medi­zin stu­die­ren? Ent­schei­det das jetzt Öster­reich oder Brüs­sel? Gegen­wär­tig ist es so, dass unser Wis­sen­schafts­mi­nis­ter einige Demuts-Ges­ten set­zen muss, damit wir die Quo­ten zuguns­ten unse­rer Stu­die­ren­den behal­ten kön­nen. Das ist kein gutes Zei­chen. Hier liegt ein Feh­ler im Sys­tem vor, der zu kor­ri­gie­ren ist. Über­dies bestehen zwi­schen den Natio­nen Euro­pas erheb­li­che Unter­schiede, etwa in ihren his­to­ri­schen Wur­zeln und in den Anschau­un­gen der Men­schen, die keine gemein­same Spra­che haben. Es wurde in Euro­pas Poli­tik über­se­hen, dass es diese Viel­falt gibt.

Was cha­rak­te­ri­siert die Gegen­wart? Ver­dich­tung? Beschleu­ni­gung?
Geschichte wie­der­holt sich nicht. An vie­len Ecken und Enden scheint es jedoch aus­zu­fran­sen. Ich spüre ein Zer­fran­sen. Wir müss­ten bei­spiels­weise die Inte­gra­tion etwas anders anle­gen, denn eine Par­al­lel­ge­sell­schaft kön­nen wir uns nicht leis­ten. Das würde die Gesell­schaft und den Staat völ­lig über­for­dern. Also müss­ten wir vor allem den Jun­gen unter den Flücht­lin­gen und den Zuwan­de­rern sagen: Herr­schaf­ten, wenn ihr wirk­lich hier blei­ben wollt, dann müsst ihr euch anstren­gen. Ihr müsst zur Schule gehen, und das bedeu­tet, zu ler­nen. Aus­bil­dung und Bil­dung sind erfor­der­lich, denn die Arbeit, für die man­che Zuwan­de­rer kom­men, ist in Zei­ten einer Wirt­schaft 4.0 hier nicht mehr verfügbar.

Noch­mals zum Per­sön­li­chen: Was ist denn das Gesün­deste an Ihrem Leben?
Kürz­lich war ich wegen Schmer­zen im Knie beim Arzt. Er hat es punk­tiert und dann gemeint, ich hätte doch wis­sen wol­len, worin die Ursa­che für die Schmer­zen lag. Nein, ant­wor­tete ich, das wollte ich nicht. Das Knie ist wie­der gut. Was ich meine: Das Wich­tigste für meine Gesund­heit ist, nicht ängst­lich und über­mä­ßig besorgt zu sein. Bemer­kens­wer­ter­weise glaube ich an die Heil­kraft der Natur. Viel­leicht, weil ich etwas feige bin. Und sonst? Ich schwimme ab und zu ganz gern.

Heilt die Zeit alle Wun­den?

Nar­ben blei­ben. Inter­es­sant ist, wie nach den enor­men Ver­let­zun­gen der gro­ßen Kriege in Europa Frie­den geschlos­sen wurde: Man einigte sich dar­auf, alles zu ver­ges­sen. Natür­lich ver­gisst man nicht, doch es wurde ver­ein­bart, dass das Erlebte und Erlit­tene Geschichte wird. Dass es ein Objekt wird. So, wie India­ner das Kriegs­beil begruben.

Wel­che Mög­lich­kei­ten des Aus­drucks wür­den Sie wäh­len, sollte sich etwas nicht in Worte oder in Zah­len fas­sen las­sen?
Sie mei­nen, dass die Seele zu Wort kommt, ohne dass es Wör­ter gibt? Wenn es keine Worte gibt, gibt es keine Worte. ‚Wovon man nicht spre­chen kann, dar­über muss man schwei­gen‘ – Lud­wig Witt­gen­stein hat den gesam­ten Trac­ta­tus logico-phi­lo­so­phi­cus für die letz­ten Sätze geschrie­ben. Man­che mei­nen, die­ser letzte Satz sei ledig­lich das Aperçu, eine Bemer­kung. Das halte ich für unzu­tref­fend. Was Witt­gen­stein beschreibt, gibt es.

Zur Per­son

Rudolf Tasch­ner, Mathe­ma­ti­ker, ist Pro­fes­sor an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Er setzt sich dafür ein, dass die Mathe­ma­tik mög­lichst vie­len Men­schen zugäng­lich wird. Daher star­tete er das Pro­jekt math.space im Wie­ner Muse­ums­Quar­tier, das seine Ehe­frau Bianca und er betrei­ben (www.math.space.or.at). Jüngste Publi­ka­tion: „Woran glau­ben – 10 Ange­bote für auf­ge­klärte Men­schen“, Brand­stät­ter, Wien, 2016

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 4 /​25.02.2017