Im Gespräch – Kurt Scholz: Ärzte sind Rückgrat der Gemeinschaft

25.04.2017 | Politik

Kurt Scholz – Bildungsexperte und kritischer Zeitzeuge – bemängelt die Kälte de  Erfolgsgesellschaft und das Punktesystem des Bildungswesens. Er hält die Hausärzte für Lebenshelfer und Berater, für einen Kulturfaktor in den Gemeinden. Wie im Übrigen Schulen auch. Sein Rezept für Gesundheit: Freude am Leben und an der Arbeit. Das Gespräch führte Claus Reitan.

ÖÄZ: Sie gelten als kritischer und aufmerksamer Beobachter unserer Gegenwart und Gesellschaft. Was kennzeichnet denn – allgemein gesprochen – Alltag und Lebenslagen?
Scholz: Wenn ich in die Zeitungen blicke, erhalte ich den Eindruck, alles an den gegenwärtigen Umständen sei entsetzlich. Tatsächlich jedoch ereignete sich in Österreichs jüngerer Geschichte ein enormer Sprung nach oben, betrachtet man Lebensqualitätund Lebenserwartung. Andererseits sind die gegenwärtigen Ströme an Migration belastend, sie sind aber im Grunde ein Kompliment an Österreich: Menschen, die zu uns kommen, möchten leben wie wir.

… es entstehen jedoch erhebliche Spannungen.
In meiner Heimatgemeinde in Oberösterreich betreuen einige Freunde von mir Dutzende an Migranten. Ein anderer hingegen, der sich gerade einen neuen und sündteuren Wagen angeschafft hat, meinte mir gegenüber, die Migranten würden uns alles wegnehmen. Hier passt doch einiges nicht zusammen. Das zeugt von einer Spaltung in der Denkweise, die ich nicht nachvollziehen kann.

Kranken wir an Konsumismus? Oder ist es nur habituelle Jammerei? Anders gefragt: Sehen Sie auch eine ständige, beunruhigende Beschleunigung aller Vorgänge, eine Veränderung der Lebensumstände?
Die Veränderungen, die wir erleben, sind dramatischer und tiefergehend, als wir allgemein annehmen. Wir sind begeistert der Europäischen Union beigetreten, erleben jetzt aber ein Europa, das auf hohem Niveau wirtschaftlich stagniert. Die nach Europa strömenden Flüchtlinge und Migranten sind untrennbar mit dem Sicherheitsproblem verbunden. Das stellt uns vor neue moralisch-ethisch Fragen. Nach Österreichs 70-jähriger Erfolgsgeschichte entstehen nun Verlustängste, geht es doch um den Abschied von Vertrautem. Einige Personen greifen das in negativer Art auf, das sind für mich dann die Poseure des sogenannten Volkswillens. Bemerkenswerterweise waren wir solidarischer, als wir alle weniger hatten, siehe die Aufnahme der Ungarn-Flüchtlinge 1956. Wir waren rücksichtsvoller gegenüber jenen, die Zuflucht suchten. Inzwischen wurden wir zu einer kalten Erfolgsgesellschaft. Das bereitet mit Sorgen trotz des guten Gegengewichts durch Kirchen, Religionsgemeinschaften, private Initiativen und die Caritas.

Benötigen wir angesichts der jüngeren Geschichte, der Digitalisierung
und des Internets einen anderen Begriff von Bildung?

Wir haben keinen Bildungsbegriff mehr. Wir haben unsere Vorstellung von Bildung ersetzt durch ein Punktesystem und durch den Glauben an angeblich objektive Rankings. Ich hingegen befinde mich in der historischen Tradition des Wiener Schulwesens. In dessen Mittelpunkt standen nicht die Lösung von standardisierten Tests, sondern das Lachen und das Glück der Kinder. Es kann nicht unser Ziel sein, eine Generation heranzuziehen, die mit großer Geschicklichkeit diese Tests lösen kann und sonst nichts. Mein Menschenbild kennt auch andere Faktoren.

Müssen wir in der Bildungspflicht nachjustieren? Den Kanon an Fächern ändern?
Wir sollten die Schule vom Zwang lösen, etwas auswendig zu lernen und sinnlos Fakten zu sammeln. Das Internet bietet heute mehr an Wissen und an Information als die klassischen Lexika meiner Jugend, Brockhaus und Meyer. Aber was macht ein Ungebildeter mit dem Internet? Der sucht unter Vesuv, und landet bei der Pizzeria Vesuvio. Als nächstes wäre die Schule gut beraten, die Kunst des Zusammenlebens als Wert zu sehen und zu vermitteln. Darin liegt eine Herausforderung. Kinder – mit und ohne Migrationshintergrund, aus höheren und weniger hohen Schichten – sollten es erlernen, zusammen zu leben. Das ist ein unendlich hoher Wert. Die Schule ist, plakativ formuliert, die bedeutsamste Sicherheitseinrichtung des Landes. Wo es die Gesellschaft zerreißt, wie etwa in Frankreich oder in den USA, ist das kaum zu heilen. So betrachtet bin ich über die Art, wie Schule diskutiert wird, recht unglücklich. Das Lernen hat natürlich seinen Stellenwert, man kann nicht nur fröhliche Idioten erziehen. Die Schule muss im Zeichen der Leistung stehen, aber auch in jenem der Liebe. Aber der Ausdruck von der Herzensbildung ist hoffnungslos veraltet. Leider.

Was charakterisiert Ihrer Ansicht nach den Hausarzt?
Dass er für andere mehr ist als Arzt, nämlich Lebensberater, Lebenshelfer, ein Kulturfaktor in seiner Gemeinde. Ärzte sind im Allgemeinen Leser, sie sind Musiker, sie nehmen an Kulturvereinigungen teil und organisieren diese. Ich kenne kaum einen Arzt, der sich lediglich über den Medizinerberuf definiert und daneben nichts mehr erkennt. Die Fähigkeit, vernetzt zu denken, macht die guten Ärzte aus. Diese sind umweltbewusst, sie sindm mit den Zusammenhängen von Arbeit, Familie und veränderten Strukturen konfrontiert. Diese Umstände verschwimmen in der Großstadt, aber am Land ist diese besondere Bedeutung klar. Die Hausarzt-Frage wird daher stets etwas zu eng gestellt. Um eine Parallele zur Schule zu ziehen: In kleinen Orten wurden sie aufgelöst, die Kinder fahren mit einem Bus in den nächstgrößeren Ort. Das ist zweckrational. Aber man hat damit aus dem Ort einen Kulturfaktor herausgenommen, der weit über die Schule hinausreicht. Bei den klassischen Land- und Hausärzten ist das ähnlich. Diese sind das Rückgrat von Gemeinschaft.

Es gilt allerdings als schwierig, manche Arztstellen in ländlichen Regionen zu besetzen: wegen der Honorierung, der Bürokratie, der erforderlichen Ausstattung …
Würde ein Arzt zweckrational handeln, also strikt vernünftig, dann würde er wahrscheinlich eine Facharztausbildung absolvieren und sich in einer Stadt niederlassen. Gegenüber dem Landarzt wäre dies eine Steigerung der Lebensqualität. Auch die leitenden Angestellten der Versicherungen haben so betrachtet eine höhere Lebensqualität. Aber es gibt Hausärzte am Land wie in meiner oberösterreichischen Heimatgemeinde, da ist jemand schon in der dritten Generation Arzt. Wenn ein solcher Arzt beruflich aufhört, fällt in dem Ort eine ganze Aura weg. Die fehlt dann. Sie ist unersetzbar.

Was ist denn das Gesündeste an Ihrem Leben?
Ich versuche immer noch, Freude zu haben und zu arbeiten, freiwillig etwas zu tun. Es ist unbezahlte Arbeit. Ich habe keinen Weinkeller zu pflegen und der Versuch, meine Bücher in Wien und in Oberösterreich zu ordnen, ist aussichtslos. Ich versuche, mit anderen und für andere etwas zu machen. Das strahlt zurück und vermittelt Glück.

Zur Person

Kurt Scholz ist seit 2011 Vorsitzender des Kuratoriums des Zukunftsfonds der Republik Österreich zur Förderung von zeitgeschichtlichen Projekten sowie Mitglied der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft. Der 1948 geborene promovierte Germanist und Historiker war als Lehrer tätig, ab 1975 im Unterrichtsministerium und ab 1984 im Präsidialbüro von Wiens Bürgermeister Helmut Zilk. Als amtsführender Präsident des Stadtschulrates (1992 bis 2001) engagierte er sich für die Gründung der Sir-Karl-Popper-Schule, den Ausbau der politischen Bildung und die Integration von Ausländerkindern. Sein Eintreten für leistungsbezogene Postenvergabe anstelle des Parteienproporz beendete seine Laufbahn in der Schulverwaltung.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2017