Brexit im Gesund­heits­we­sen: Pro­gnose schwierig

10.05.2017 | Politik

Der Brexit kann beson­ders im bri­ti­schen Gesund­heits­we­sen, in dem tra­di­tio­nell viele EU-Aus­län­der arbei­ten, enorme Aus­wir­kun­gen haben. Noch dazu, wo der Natio­nal Health Ser­vice mit Struk­tur­pro­ble­men kämpft wie schon lange nicht. Von Nora Schmitt-Sausen

Der 23. Juni 2016 könnte auch für das öffent­li­che Gesund­heits­we­sen Groß­bri­tan­ni­ens, den Natio­nal Health Ser­vice (NHS), eine Zei­ten­wende ein­läu­ten. Seit dem Tag des ‚Ja‘ der Bri­ten zum EU-Aus­tritt haben viele Akteure im Gesund­heits- und Sozi­al­we­sen große Sor­gen. Zwar ist Gesund­heits­po­li­tik zu aller­erst Auf­gabe der Ein­zel­staa­ten, den­noch reicht der Arm der lang­jäh­ri­gen inter­na­tio­na­len Zusam­men­ar­beit tief in das bri­ti­sche Gesund­heits­we­sen – und die Los­lö­sung aus der euro­päi­schen Umar­mung könnte für die Bri­ten schmerz­haft wer­den, fürch­ten Skep­ti­ker. Der renom­mierte King‘s Fund, eine eng­li­sche Denk­fa­brik, nennt fünf zen­trale Pro­blem­fel­der, mit denen sich der NHS durch den Aus­tritt aus dem Staa­ten­ver­bund wird beschäf­ti­gen müssen:

  • Medi­zi­ni­sches Per­so­nal: Groß­bri­tan­nien setzt in der Medi­zin seit vie­len Jah­ren auf aus­län­di­sche Fach­kräfte, auch weil das König­reich unter einem chro­ni­schen Man­gel an Ärz­ten und Kran­ken­schwes­tern lei­det. Nicht zuletzt dank der Aner­ken­nung von Abschlüs­sen inner­halb der EU arbei­ten im bri­ti­schen Gesund­heits­we­sen beson­ders viele Ärzte und Pfle­ge­kräfte aus euro­päi­schen Län­dern. Der King‘s Fund bezif­fert die Zah­len der EU-Aus­län­der im Gesund­heits­we­sen mit 55.000 von 1,3 Mil­lio­nen Ange­stell­ten, die im NHS tätig sind. Im Sozi­al­we­sen stamm­ten 80.000 Beschäf­tigte aus dem EU-Aus­land. Die Sorge um die Kon­se­quen­zen des Brexit im Per­so­nal-Sek­tor ist der wohl größte Unsi­cher­heits­fak­tor – und gilt als das zwin­gendste Pro­blem, das es zu lösen gilt (siehe Kasten).
  • Gesund­heits­ver­sor­gung für Ein­wan­de­rer und aus­ge­wan­derte bri­ti­sche Staats­bür­ger: Es gab und gibt in Groß­bri­tan­nien eine fort­lau­fende Dis­kus­sion dar­über, dass der NHS durch Ein­wan­de­rer und Besu­cher zusätz­lich stra­pa­ziert wird. EU-Bür­ger, die im United King­dom leben, dür­fen den NHS unter euro­päi­schem Recht genauso nut­zen wie bri­ti­sche Staats­bür­ger. Offi­zi­el­len Sta­tis­ti­ken zu Folge leben der­zeit drei Mil­lio­nen EU-Ein­wan­de­rer im United King­dom, die – so emp­fin­den es einige Bri­ten – mit den Ein­hei­mi­schen um die knap­pen Kapa­zi­tä­ten im NHS kon­kur­rie­ren. Das EU-Recht gilt auch anders­herum: Für 1,2 Mil­lio­nen bri­ti­sche Aus­wan­de­rer, die der­zeit in ande­ren EU-Staa­ten leben. Hier sei laut King‘s Fund die Sorge, dass durch den Brexit die Aus­wan­de­rer nach Groß­bri­tan­nien zurück­keh­ren – und dadurch der Druck auf das bri­ti­sche Gesund­heits- und Sozi­al­sys­tem noch erhöht wird.
  • Regu­la­rien wie Arbeits­zeit­be­stim­mun­gen: Auch im bri­ti­schen Gesund­heits­we­sen gel­ten inzwi­schen viele EU-Regu­la­rien etwa in Bezug auf Arbeits­zei­ten­re­ge­lun­gen oder Stan­dards in der medi­zi­ni­schen Aus­bil­dung. Noch ist nicht sicher, was mit die­sen Regeln gesche­hen wird. Soll­ten die bis­lang gel­ten­den EU-Stan­dards in Tei­len oder ins­ge­samt fal­len, hätte dies etwa enorme Aus­wir­kun­gen auf Arbeitsverträge.
  • Inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit: In den ver­gan­ge­nen Jah­ren ist inner­halb der EU ein Public Health-Netz­werk zusam­men­ge­wach­sen. Die EUStaa­ten tei­len Infor­ma­tio­nen über Krank­hei­ten, haben Früh­warn­sys­teme bei Pan­de­mien und wei­tere Mecha­nis­men der Zusam­men­ar­beit für die Auf­recht­erhal­tung der Gesund­heit der Bevöl­ke­rung in der EU. Auch in der medi­zi­ni­schen For­schung ist die Zusam­men­ar­beit eng, Pro­jekt-bezo­gen und mit Blick auf mul­ti­na­tio­nale For­scher­teams. Der King‘s Fund schreibt, dass die mög­li­chen Aus­wir­kun­gen des Brexit in der Wis­sen­schaft zu gro­ßer Unruhe führ­ten. Es gebe „ernst­hafte Sor­gen“, was der EU-Aus­tritt für Wis­sen­schaft und For­schung in Groß­bri­tan­nien sowie für die Kar­rie­ren von bri­ti­schen For­schern bedeu­ten könnte.
  • Finan­zie­rung: Mehr Geld für den NHS statt Mit­tel­ab­fluss an die EU. Die­ses Ver­spre­chen des „Leave“-Lagers – allen voran von Front­mann Nigel Farage – hatte bei den Brexit-Befür­wor­tern für leuch­tende Augen gesorgt und Stim­men ein­ge­bracht. Mit dem ver­spro­che­nen Stopp des Geld­flus­ses nach Brüs­sel sahen sie ein gro­ßes Pro­blem des NHS gelöst: die Unter­fi­nan­zie­rung. Farage gab sein gro­ßes Ver­spre­chen, nach dem Brexit wöchent­lich 350 Mil­lio­nen Pfund zum NHS umzu­lei­ten, bereits einen Tag nach dem Votum auf und ruderte zurück. Das Finan­zie­rungs­pro­blem des NHS bleibt also auch nach dem Brexit bestehen. Eine der größ­ten offe­nen Fra­gen wird sein, wie sich die bri­ti­sche Wirt­schaft in der Nach-EU-Ära ent­wi­ckelt, da der NHS aus Steu­er­mit­teln finan­ziert wird.

NHS stößt an seine Grenzen

Der per­spek­ti­vi­sche EU-Aus­tritt und die damit ver­bun­dene Unge­wiss­heit tref­fen den NHS zur Unzeit. Denn das bri­ti­sche Gesund­heits­we­sen ist der­zeit – wie­der ein­mal – aus­rei­chend mit sich selbst beschäf­tigt. Die aktu­elle Lage im unter erheb­li­chen Struk­tur­pro­ble­men lei­den­den Sys­tem ist laut bri­ti­schen Medien dra­ma­tisch wie nie zuvor in der fast 70-jäh­ri­gen Geschichte. Seit Mona­ten gibt es regel­mä­ßig Berichte über unhalt­bare Zustände im Gesund­heits­we­sen; vor allem in den staat­li­chen Kran­ken­häu­sern sei die Lage pre­kär. Die Rede ist von über­füll­ten Kli­ni­ken und viel zu lan­gen War­te­zei­ten – selbst in Not­fäl­len. Die Bri­tish Medi­cal Asso­cia­tion beklagt außer­dem, dass Ope­ra­tio­nen aus­fal­len wegen man­geln­der OP-Kapa­zi­tä­ten und Betten.

Die Poli­tik führt seit Mona­ten einen emo­tio­nal hoch auf­ge­la­de­nen Schlag­ab­tausch über die Lage im NHS. Labour-Par­tei­chef Jeremy Cor­byn und Pre­mier­mi­nis­te­rin The­resa May von der regie­ren­den Par­tei der Kon­ser­va­ti­ven lie­fer­ten sich im bri­ti­schen Par­la­ment hit­zige Wort­ge­fechte. Wäh­rend Cor­byn in teils dras­ti­scher Spra­che los­pol­terte, betonte May, dass die Regie­rung inner­halb der der­zeit mög­li­chen wirt­schaft­li­chen Spiel­räume tue, was sie könne, um den NHS zu sta­bi­li­sie­ren. Erst kürz­lich hat das Gesund­heits­mi­nis­te­rium für den NHS zusätz­li­che Mit­tel frei­ge­ge­ben. Im Zuge der Wirt­schafts­krise waren die Zuwen­dun­gen für den Gesund­heits­dienst in eini­gen Jah­ren gekürzt worden.

Das Neben­ein­an­der von hohem Finanz­be­darf, struk­tu­rel­len Defi­zi­ten und einem wach­sen­den Ver­sor­gungs­be­darf inner­halb der Bevöl­ke­rung – nicht zuletzt wegen des demo­gra­phi­schen Wan­dels – zwingt die Regie­rung zum Han­deln: Wei­tere Refor­men für den NHS Eng­land sind ange­kün­digt. Die „Sus­taina­bi­lity Trans­for­ma­tion Plans“ sind aber höchst umstrit­ten. Sie beinhal­ten etwa die Schlie­ßung von über­wie­gend klei­nen Kran­ken­häu­sern und von Not­auf­nah­men. Das auf diese Weise ein­ge­sparte Geld möchte die Regie­rung etwa in den Aus­bau der ambu­lan­ten Ver­sor­gung inves­tie­ren; feh­lende Kapa­zi­tä­ten in der ambu­lan­ten Ver­sor­gung von vor allem älte­ren Men­schen ist ein wei­te­rer zen­tra­ler Punkt der aktu­el­len Debatte. Geg­ner des Vor­sto­ßes sehen in den Plä­nen einen Schritt zur Pri­va­ti­sie­rung des bri­ti­schen Gesundheitssystems.

Laut­starke Kri­ti­ker wie die Bri­tish Medi­cal Asso­cia­tion (BMA) bemän­geln außer­dem den wei­te­ren Weg­fall von Bet­ten durch die Reform­pläne der Regie­rung und beto­nen, dass die Kapa­zi­täts­pro­bleme bereits jetzt mas­siv seien. Auch mit Blick auf die aktu­elle Finan­zie­rung fin­det der Chef der Bri­tish Medi­cal Asso­cia­tion, Mark Por­ter, in einem ver­öf­fent­li­chen State­ment deut­li­che Worte: „Die­ses Bud­get tut nichts, um das klaf­fende Loch in den NHS-Finan­zen zu schlie­ßen. Es gilt, eine Lücke von 30 Mil­li­ar­den Pfund zu fül­len und wir soll­ten die bri­ti­schen Gesund­heits­aus­ga­ben um min­des­tens 10,3 Mil­li­ar­den Pfund erhö­hen, um im Gleich­klang mit ande­ren füh­ren­den euro­päi­schen Volks­wirt­schaf­ten zu sein.“ Por­ter sagt, der NHS und das bri­ti­sche Sozi­al­we­sen befän­den sich an einem „brea­king point“ und seien von der Par­tei­po­li­tik zu lange im Stich gelas­sen wor­den. „Wir brau­chen Poli­ti­ker von allen Sei­ten, um gemein­sam an einer lang­fris­ti­gen Lösung der Her­aus­for­de­run­gen zu arbei­ten, mit denen sich die Gesund­heits­ver­sor­gung und das Sozi­al­sys­tem kon­fron­tiert sehen.“ Die Bri­tish Medi­cal Asso­cia­tion malt bereits seit gerau­mer Zeit ein düs­te­res Bild der Lage in Groß­bri­tan­nien: Viele Kran­ken­häu­ser, ambu­lante Ein­rich­tun­gen, Ärzte und Pfle­ge­kräfte seien kurz davor, in die Knie zu gehen. Groß­bri­tan­ni­ens Pati­en­ten seien zuneh­mend ver­zwei­felt, weil sie nicht aus­rei­chend ver­sorgt würden.

Mas­sen­pro­test in Lon­don

Auch in der Bevöl­ke­rung gärt es. Die Bür­ger sor­gen sich ein­mal mehr um die Zukunft ihrer Gesund­heits­ver­sor­gung. Denn: Pro­teste sind in Groß­bri­tan­nien nichts Neues – immer wie­der gehen die Men­schen wegen des schlech­ten Zustands des öffent­li­chen Gesund­heits­we­sens auf die Straße.

Erst unlängst – im März 2017 – war es wie­der soweit: Nach bri­ti­schen Medi­en­be­rich­ten zogen allein in Lon­don meh­rere 10.000 Men­schen durch die Stra­ßen, um für den Erhalt des NHS und eine sta­bile Finan­zie­rung zu pro­tes­tie­ren. Die Schil­der der Demons­tran­ten tru­gen klare Bot­schaf­ten: „Ret­tet den NHS“. „Schluss mit dem Spar­kurs“. „Ermor­det nicht den NHS“. „Men­schen vor Pro­fit – Ret­tet unse­ren NHS.“ Zu den Pro­tes­ten hat­ten unter ande­rem Gewerk­schaf­ten und Medi­zin­or­ga­ni­sa­tio­nen auf­ge­ru­fen. Wei­tere Groß­kund­ge­bun­gen sind bereits angekündigt.

Unge­wiss­heit, Ärz­te­man­gel, Mit­tel­knapp­heit, Ver­sor­gungs­eng­pässe, Demons­tra­tio­nen: Es sind schwie­rige Zei­ten für den NHS – mit und ohne Brexit.

Brexit: Ärzte dro­hen mit Abwanderung

Der Man­gel an Ärz­ten und Kran­ken­schwes­tern ist seit Jah­ren ein chro­ni­sches Pro­blem des NHS – und die Lage hat sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren noch ver­schärft. Zu die­sem Ergeb­nis kommt zumin­dest eine von der BBC erho­bene Befra­gung aus dem Jahr 2016. Dem­nach ist die Zahl der unbe­setz­ten Arzt­stel­len in Eng­land, Wales und Nord­ir­land zwi­schen 2013 und 2015 um 60 Pro­zent gestie­gen. Vor allem der Man­gel an All­ge­mein­me­di­zi­nern ist groß – was den Druck auf die Not­auf­nah­men wei­ter erhöht.

Öl ins Feuer goss in die­ser unru­hi­gen Zeit eine Ver­öf­fent­li­chung der Bri­tish Medi­cal Asso­cia­tion (BMA) im Feber die­ses Jah­res. Eine von der Orga­ni­sa­tion in Auf­trag gege­bene Stu­die brachte im Rah­men einer Umfrage unter 1.193 euro­päi­schen Ärz­ten, die aktu­ell im NHS arbei­ten, ein alar­mie­ren­des Ergeb­nis zu Tage: Mehr als vier von zehn erwä­gen, Groß­bri­tan­nien wegen des Brexit-Votums zu ver­las­sen – nicht zuletzt, weil sie sich von der bri­ti­schen Regie­rung nicht mehr will­kom­men fühlen.

Nach Anga­ben der Bri­tish Medi­cal Asso­cia­tion prak­ti­zie­ren aktu­ell 10.000 aus­län­di­sche Ärzte, die im euro­päi­schen Wirt­schafts­raum aus­ge­bil­det sind, im NHS. Das sind sie­ben Pro­zent des medi­zi­ni­schen Per­so­nals von Groß­bri­tan­nien. Ähn­li­che nega­tive Aus­wir­kun­gen befürch­ten Skep­ti­ker mit Blick auf die vie­len aus­län­di­schen Pfle­ge­kräfte, die im NHS und in der Pflege arbeiten.

Die Bri­tish Medi­cal Asso­cia­tion for­dert von der bri­ti­schen Regie­rung mit Blick auf die Beschäf­ti­gung von euro­päi­schen Ärz­ten auch nach dem Brexit lang­fris­tige Sta­bi­li­tät und Fle­xi­bi­li­tät. Das NHS könne es sich nicht leis­ten, fast die Hälfte der euro­päi­schen Ärzte zu ver­lie­ren; es würde die ohne­hin schwie­rige Lage im NHS noch verschlechtern.

Die Regie­rung hatte nach dem Votum ver­si­chert, dass aus­län­di­sche Arbeits­kräfte wei­ter eine große Rolle im NHS spie­len wer­den. Und: Unab­hän­gig von allen Aus­tritts­sze­na­rien und der Unsi­cher­heit, wie sich das ‚Nein‘ auf das NHS aus­wir­ken wird, setzt die Regie­rung bei der Lösung sei­ner Sys­tem­pro­bleme auch aktu­ell wei­ter auf Hilfe aus dem EU-Aus­land: Zu Jah­res­be­ginn gab Gesund­heits­mi­nis­ter Jeremy Hunt (Kon­ser­va­tive Par­tei) bekannt, dass der NHS Hun­derte All­ge­mein­me­di­zi­ner aus dem EU-Raum – unter ande­rem aus Grie­chen­land, Polen und Litauen – anstel­len will, um der Res­sour­cen­knapp­heit des NHS gegenzusteuern.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2017