All­ge­mein­me­di­zin der Zukunft: Viel­falt statt Einfalt

15.08.2017 | Politik

Die bis­lang größte Erhe­bung der Berufs­mo­ti­va­tion zur All­ge­mein­me­di­zin unter Stu­die­ren­den und Jung­ärz­ten zeigt: Die Bedeu­tung der All­ge­mein­me­di­zin in Zukunft wird – so deren Ein­schät­zung – zuneh­men. Aller­dings stu­fen die Befrag­ten die Wert­schät­zung des All­ge­mein­me­di­zi­ners durch die Poli­tik als gering ein. Von Agnes M. Mühlgassner

Was Medi­zin­stu­die­rende und Jung­ärzte an der Tätig­keit als All­ge­mein­me­di­zi­ner schät­zen und auch, was sie abhält, die­sen Beruf zu ergrei­fen, das haben Univ. Ass. Ste­pha­nie Pog­gen­burg und Univ. Ass. Alex­an­der Avian vom Insti­tut für All­ge­mein­me­di­zin und Evi­denz­ba­sierte Ver­sor­gungs­for­schung der Med­Uni Graz erho­ben. Von den Tur­nus­ärz­ten sind es immer­hin 16 Pro­zent, die sich vor­stel­len kön­nen, All­ge­mein­me­di­zi­ner zu wer­den; bei den Stu­den­ten hin­ge­gen sind es gerade ein­mal zwei Prozent.

Die beson­dere Arzt-Pati­en­ten-Bezie­hung, das breite Pati­en­ten­spek­trum, die fami­li­en­me­di­zi­ni­schen Aspekte und als Haus­arzt pri­mä­rer Ansprech­part­ner der Pati­en­ten zu sein – diese Gründe spre­chen nach Ansicht von mehr als zwei Drit­tel der Befrag­ten für die Tätig­keit als All­ge­mein­me­di­zi­ner. Was dage­gen spricht: zu wenig Zeit für die Pati­en­ten als Kas­sen-All­ge­mein­me­di­zi­ner, die zahl­rei­chen Vor­ga­ben der Kran­ken­kas­sen, die laut Stu­die man­gelnde Abrech­nungs­mög­lich­keit von Leis­tun­gen im Ver­gleich zu Fach­ärz­ten und das ins­ge­samt im Ver­gleich dazu wesent­lich nied­ri­gere Einkommen.

Der Fra­ge­bo­gen zur „Berufs­mo­ti­va­tion All­ge­mein­me­di­zin“ wurde an 10.045 Stu­den­ten der Human­me­di­zin in Öster­reich, 17.559 Stu­den­ten der Human­me­di­zin in Deutsch­land sowie an 6.948 Tur­nus­ärz­tin­nen und Tur­nus­ärzte in Öster­reich geschickt. Ins­ge­samt sind 4.724 Ant­wor­ten ein­ge­langt, was einem Rück­lauf von 13,7 Pro­zent entspricht.

Wenn Stu­die­rende und Tur­nus­ärzte frei wäh­len könn­ten, wie sie arbei­ten wol­len, fiele die Ant­wort (Mehr­fach­nen­nun­gen mög­lich) fol­gen­der­ma­ßen aus: Nie­der­ge­las­sen möch­ten gerne 68 Pro­zent (Stu­den­ten) und 72 Pro­zent (Tur­nus­ärzte) tätig sein; als Arzt im Kran­ken­haus sehen sich 65 Pro­zent (Stu­den­ten) bezie­hungs­weise 53 Pro­zent (Tur­nus­ärzte). Geht man wei­ter ins Detail und fragt nach, wie kon­kret diese Tätig­keit als nie­der­ge­las­se­ner Arzt aus­se­hen soll, zeigt sich fol­gen­des Bild: Selbst­stän­dig in einer Gemein­schafts­pra­xis wol­len 71 Pro­zent (Stu­den­ten) bezie­hungs­weise 78 Pro­zent (Tur­nus­ärzte) tätig sein; selbst­stän­dig in einer Ein­zel­pra­xis 49 Pro­zent (Stu­den­ten und Tur­nus­ärzte); in einem PHC ange­stellt zu sein kön­nen sich 59 Pro­zent (Stu­den­ten) bezie­hungs­weise 52 Pro­zent (Tur­nus­ärzte) vor­stel­len; auch die Anstel­lung in einer Ordi­na­tion ist für Stu­den­ten (28 Pro­zent) und Tur­nus­ärzte (32 Pro­zent) vorstellbar.

Geht es um den Ort der Tätig­keit, so wird das Arbei­ten in der Stadt nach wie vor einer Tätig­keit am Land vor­ge­zo­gen. Dem­nach kön­nen sich 65 Pro­zent der befrag­ten Medi­zin­stu­den­ten und Tur­nus­ärzte vor­stel­len, künf­tig in einer Stadt zu arbei­ten. Als Land­arzt sehen sich ledig­lich 51 Pro­zent der Tur­nus­ärzte und 44 Pro­zent der Studenten.

Wäh­rend die Befrag­ten mei­nen, bei Pati­en­ten (75 Pro­zent Tur­nus­ärzte und 85 Pro­zent Stu­den­ten) und in der Gesell­schaft (47 Pro­zent sowie 58 Pro­zent) ganz gene­rell hohes Anse­hen zu genie­ßen, sieht es in puncto poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger völ­lig anders aus. Hier glau­ben nur neun Pro­zent der Stu­den­ten und fünf Pro­zent der Tur­nus­ärzte, dass Haus­ärzte ein hohes Anse­hen haben. Und eng damit in Zusam­men­hang sehen die Befrag­ten auch einen wei­te­ren Aspekt. Dem­nach glau­ben nur fünf Pro­zent der Tur­nus­ärzte und vier Pro­zent der Medi­zin­stu­den­ten, dass das öster­rei­chi­sche Gesund­heits­we­sen es attrak­tiv macht, den Beruf des All­ge­mein­me­di­zi­ners zu ergrei­fen. Zutiefst über­zeugt sind die Befrag­ten jedoch, dass die Bedeu­tung der All­ge­mein­me­di­zin in Zukunft zuneh­men wird: das sagen 57 Pro­zent der Tur­nus­ärzte und 60 Pro­zent der Medi­zin­stu­den­ten. Auf die Tätig­keit als Haus­arzt gut vor­be­rei­tet füh­len sich ledig­lich 15 Pro­zent der Stu­den­ten; von den Tur­nus­ärz­ten sind es gar nur sechs Prozent.

Drin­gen­der Handlungsbedarf

„Wir neh­men die­ser Ergeb­nisse, wie sich unsere jun­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen ihre beruf­li­che Zukunft vor­stel­len, ernst“, betonte Kuri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte in der ÖÄK, Johan­nes Stein­hart. Er sieht drin­gen­den Hand­lungs­be­darf – noch dazu, wo in den nächs­ten zehn Jah­ren rund 57 Pro­zent der nie­der­ge­las­se­nen All­ge­mein­me­di­zi­ner mit einem Kas­sen­ver­trag in Pen­sion gehen wer­den. Und Stein­hart appel­lierte an die poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen, „keine Poli­tik gegen diese Vor­stel­lun­gen“ der Jun­gen zu machen. Er, Stein­hart, wolle einen mehr­stu­fi­gen Kom­mu­ni­ka­ti­ons­pro­zess mit allen Ver­ant­wort­li­chen im Gesund­heits­be­reich ansto­ßen: mit dem Gesund­heits- und Bil­dungs­mi­nis­te­rium ebenso wie mit dem Haupt­ver­band, den Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tä­ten und der Hoch­schü­ler­schaft. „Es geht nicht nur um die Zukunft unser jun­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, es geht darum, die künf­tige medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung sicher­zu­stel­len“, betonte Stein­hart. Und er kün­digte wei­tere, fun­dierte Erhe­bun­gen und Befra­gun­gen zu die­sem Thema an: „Ich lade alle poli­ti­schen Ent­schei­dungs­trä­ger und Ver­ant­wort­li­chen im Gesund­heits­be­reich ein, sich aktiv an die­sem Pro­zess zu beteiligen.“

Für den Obmann der Bun­des­sek­tion Tur­nus­ärzte in der ÖÄK, Karl­heinz Korn­häusl, stel­len die Ergeb­nisse der Befra­gung ein „unüber­hör­ba­res Plä­doyer für die Viel­falt“ dar. „Unsere jun­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen kön­nen sich ihre ärzt­li­che Tätig­keit in viel­fäl­ti­gen For­men vor­stel­len. Für viele ist nach wie vor die selbst­stän­dige Arbeit in einer Ein­zelor­di­na­tion nach wie vor gut vor­stell­bar, für andere ist es die selbst­stän­dige Arbeit in einer Grup­pen­pra­xis im Team oder aber auch als Spi­tals­arzt.“ Nach Ansicht von Korn­häusl soll­ten nicht Struk­tu­ren „ver­ord­net“ son­dern die Viel­falt „geför­dert“ werden.

Unbe­frie­di­gend ist für den Tur­nus­ärz­te­ver­tre­ter der ÖÄK auch die Tat­sa­che, dass nun zwar die Lehr­pra­xis ver­pflich­tend vor­ge­se­hen ist, die Finan­zie­rung jedoch nach wie vor unge­klärt ist. „Vor­arl­berg zeigt uns, wie es gehen kann. Es ist hoch an der Zeit, dass sich die Poli­tik hier zu einer von der öffent­li­chen Hand finan­zier­ten pra­xis-ori­en­tier­ten Aus­bil­dung der künf­ti­gen All­ge­mein­me­di­zi­ner bekennt.“

Ängste neh­men

Seit 35 Jah­ren ist Edgar Wut­scher All­ge­mein­me­di­zi­ner in Söl­den in Tirol. Der Obmann der Bun­des­sek­tion All­ge­mein­me­di­zin in der ÖÄK sieht ange­sichts der vor­lie­gen­den Stu­di­en­ergeb­nisse die größte Her­aus­for­de­rung darin, den jun­gen Kol­le­gen „die Ängste vor einer Tätig­keit als All­ge­mein­me­di­zi­ner zu neh­men“. Und ange­sichts der zuneh­men­den Femi­ni­sie­rung der ärzt­li­chen Tätig­keit im All­ge­mei­nen seien die Arbeits­mög­lich­kei­ten spe­zi­ell dar­auf aus­zu­rich­ten, dass für Frauen die Ver­ein­bar­keit von Beruf und Fami­lie mög­lich ist.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 15–16 /​15.08.2017