Viktor Frankl: Der Mensch hinter dem Arzt

25.10.2017 | Medizin


In der von ihm begründeten Logotherapie hat der renommierte Wiener Psychiater Univ. Prof. Viktor Frankl versucht, den Menschen bei der Suche nach dem Sinn ihres Lebens zu helfen. Kürzlich jährte sich sein 20. Todestag. Von Christina Schaar

Er habe Viktor Frankl über Bücher kennengelernt, und das schon in der Mittelschule. Später habe er dann dessen Vorlesungen an der Wiener Poliklinik besucht, erzählt Univ. Prof. Alfried Längle. Der Psychotherapeut und Vorsitzende der Internationalen Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (GLE) reiste im April 1982 zu einem Weltkongress über Logotherapie,nachdem Viktor Frankl seine Teilnahme wegen einer Operation kurzfristig absagen musste. In der Folge bat Frankl Längle, im Rahmen einer Vorlesung über den Kongress zu referieren – daraus entwickelte sich in der Folge ein intensiver Kontakt.

Erste Ausbildungen in Logotherapie

Etwa ein halbes Jahr danach eröffnete Frankl zusammen mit seiner Tochter Gabriele und seiner früheren Assistentin ein Institut in Wien Hietzing. Längle wurde angeboten, mitzuarbeiten, was er auch gerne tat. In den Räumlichkeiten dieses Instituts fanden die ersten Ausbildungen in Logotherapie und Existenzanalyse statt. „Zehn Jahre lang haben wir zumindest täglich telefoniert“, berichtet Längle über diese Zeit. Darüber hinaus verband die beiden auch eine freundschaftliche Beziehung. Im Kollegenkreis sprach Frankl von Längle als seiner „rechten Hand“ – und er sah in ihm auch seinen besten Freund. Da sich auch die Familien sehr gut verstanden, kam es zu regelmäßigen Treffen – und unter anderem auch zu zahlreichen gemeinsamen Ausflügen auf die Rax. Wenn Frankl auch sehr diszipliniert war, konnte er auch mit sich selbst sehr unzufrieden sein. So hat Längle ihn etwa an einem Sonntag Nachmittag besucht und Frankl war schlecht gelaunt – als ob er mit dem falschen Fuß aufgestanden wäre. Woraufhin er zu Längle meinte: „Nach diesem Tag, ich muss schon sagen und wie gründlich ich auch alles mache, am liebsten würde ich bei mir kündigen, wenn ich nur könnte.“

Frankl litt sehr darunter, wenn Menschen in ihrer Würde nicht mit Respekt, sondern nur funktional oder sachlich behandelt wurden. „Sein wirklich großes Anliegen im Rahmen der Psychotherapie war es, gegen diesen Reduktionismus aufzutreten“, betont Längle. Frankls großer Wunsch war es, den Menschen in seiner Gesamtheit zu betrachten. Mit Hilfe der Logotherapie wollte er ein Menschenbild schaffen, in dem der Arzt den Menschen vom Geistigen her sieht: das Geistige ist das ganz Persönliche, das Individuelle, das der Mensch in seinem Leben und seinem Leiden empfindet (zum Beispiel vor oder nach einer Operation oder im Zuge einer Krebserkrankung). Besonders in diesem Bereich hat Frankl sehr stark mitgefühlt; speziell dann, wenn sich Menschen in dieser Suche allein gefühlt haben. Nicht von ungefähr kommt es daher, dass eines seiner Bücher den Titel „Der leidende Mensch“ trägt. „Frankl war wirklich Vorreiter: den Blick hinter die Krankheit auf die Person zu werfen“, betont Univ. Prof. Alexander Batthyany vom Viktor-Frankl-Institut in Wien. Diese Haltung stellte in der damaligen Zeit eine kleine Revolution dar. Schon in seinen frühen Publikationen vor dem Zweiten Weltkrieg mahnte er, dass man die Person nicht vergessen dürfe; sie sei mehr als nur irgendein psychophysischer Mechanismus. Batthyany erläutert dies an folgendem Beispiel: Es braucht nicht sehr viel Zeit, um einem Menschen zuzeigen, dass man ihn als Menschen wahr und ernst nimmt. Dafür reicht die Art der Begegnung und die Nennung mit Namen. „Ich glaube, kein Mensch – auch Frankl nicht – verlangt vom Arzt, dass er quasi nebenbei noch zum Psychotherapeuten wird“, erklärt Batthyany, Vielmehr müsse der Arzt auch Mensch bleiben und sobald er sich so verhalte, begegnet er dem Menschen ganz anders. Batthyany weiter: „Um die Würde eines anderen Menschen anzuerkennen, bedarf es nicht vieler Worte oder langer Reden, auch nicht großen Zeitaufwands, sondern es geht um die Form der Begegnung.“

„Ärztliche Seelsorge“

Der Titel von Viktor Frankls erstem Buch „Ärztliche Seelsorge“ hat mit religiöser Seelsorge nichts zu tun, wie Batthyany betont. „Das war ihm sehr wichtig und das ist uns heute auch sehr wichtig“, betont Batthyany. Wenn Ärzte etwa einen Patienten mit einer unheilbaren Krankheit haben oder mit dem Leid eines Patienten konfrontiert sind, wo man als Arzt nicht mehr unmittelbar helfen kann – in solchen Situationen könne man nicht einfach sagen: „Hier ist sozusagen ‚Dienstschluss‘, ich bin nicht mehr zuständig.“ Genau hier beginnt das, was Frankl als „ärztliche Seelsorge“ bezeichnete.

Es war der Wunsch von Viktor Frankl, dass die Ärzte auch für die Seele ihrer Patienten Sorge tragen sollten und nicht alles an Seelsorger delegieren, wobei sich Frankl jedoch in keinerlei Konkurrenz zur religiösen Seelsorge sah. Heutzutage würde man seine Haltung als „medizinische Psychologie“ bezeichnen. „Frankl hat die Religion so ernst genommen, dass er gesagt hat, dass er als Psychiater für sie nicht zuständig ist. Er hat genau dort Halt gemacht, wo die Religion anfängt“, erklärt Batthyany. Er wandelte die Frage der Theodizee in eine Frage der Anthropodizee um: nicht, warum Gott Leid zulässt, sondern er setzte sich mit der Frage auseinander, wie der Mensch mit dem Leiden umgeht.

Nach der Rückkehr aus dem letzten Konzentrationslager machte sich Frankl in Wien sehr bald auf die Suche nach seiner Frau und seiner Mutter. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nicht, dass beide schon gestorben waren. Als er vom Tod der beiden erfuhr, kam es zum Zusammenbruch. In einem Brief an einen Freund schreibt er, dass er nur aus einem Grund am Leben bleibe: Er habe das Gefühl, sein Werk vollenden zu müssen – das Buch „Ärztliche Seelsorge“ rekonstruieren zu müssen. Er hatte es vor der Deportation verfasst und in seinen Mantel eingenäht. Als er damals jedoch in Auschwitz angekommen war, wurde ihm der Mantel so wie alle anderen Kleidungsstücke abgenommen und das Buch ging verloren. Ein Freund von Frankl in Wien besaß jedoch Kohledurchschlag dieses Manuskripts; es beinhaltet die komplette Logotherapie. „Dieses Manuskript existiert noch heute“, berichtet Batthyany.

„Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie“ – ein ursprünglich von Friedrich Nietzsche stammender Ausspruch, den Frankl sprachlich etwas abgeändert hat. Batthyany dazu: „Das Leben hat immer einen Sinn, wenn es auch im Augenblick vielleicht nicht danach aussieht. Wenn das Leben aber immer einen Sinn hat, so haben wir auch immer eineVerantwortung dafür, diesen Sinn zu erfüllen. Wir sind immer irgendwie gewollt und gebraucht. Sinnangebote bleiben – bis zuletzt.“

Das Problem unserer Zeit sieht Batthyany jedoch in der primären Beschäftigung des Menschen mit sich selbst – im Glauben, glücklicher zu werden, wenn er sich noch mehr mit sich selbst beschäftigt. So könne er sein Potential nie erfüllen. Aber: „Der Mensch wird erst wirklich Mensch, wenn er über sich hinauswächst und sich vom Leben ansprechen lässt.“ Das bedeutet konkret: Sich zu öffnen für das, was sich dem Menschen jetzt gerade zeigt und man wird sehen, wieviel man kann. „Das ist Sinn. Sinn bedeutet: Aufgaben in der Welt zu erfüllen und bis zuletzt hat der Mensch Möglichkeit, Sinn zu erfüllen“, so Batthyany abschließend.

Tipp: Weitere Informationen zum Leben und Werk von Viktor E. Frankl gibt es unter www.viktorfrankl.org

Zur Person

26.3.1905 in Wien geboren.

1921: erster Vortrag „Über den Sinn des Lebens“

1926: Er bezeichnet in einem öffentlichen Vortrag die von ihm begründete „Dritte Wiener Schule der Psychotherapie“ als Logotherapie.

1928-1929: Er organisiert als Medizinstudent Jugend-Beratungsstellen (Sonderaktion 1931 zur Zeit der Zeugnisverteilung; erstmals seit vielen Jahren gab es keinen Suizid unter Schülern)

1933-1937:
Im sogenannten Selbstmörderinnenpavillon des Psychiatrischen Krankenhauses in Wien sammelt er Erfahrungen bei der Betreuunug von 12.000 schwerst depressiven Patientinnen.

1937: Eröffnung einer Privatpraxis für Neurologie und Psychiatrie

1940-1942:
Als Leiter der Neurologischen Station am Rothschild-Spital sabotiert er die Ausführung der Euthanasiegesetze des NS-Regimes.

1942-1945: Die Familie Frankl wird – ausgenommen seine Schwester – ins Konzentrationslager deportiert.

27.04.1945: Befreiung aus dem letzten Lager

1946: Frankl habilitiert sich mit der „Ärztlichen Seelsorge“ und wird Vorstand der Wiener Neurologischen Poliklinik. Sein Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen“ wird in der englischen Fassung als „Man‘s Search for Meaning“ in den USA ein Bestseller.

1955: Professur an der Wiener Universität, Gastprofessuren sowie 29 Ehrendoktorate an Universitäten im In- und Ausland

1970: In San Diego (Kalifornien) wird an der „United States International University“ eine Professur für Logotherapie geschaffen.

1988: Anlässlich des Gedenkens zum 50. Jahrestag des Einmarsches von Hitler in Österreich hält Frankl auf dem Wiener Rathausplatz eine Rede, in der er sich gegen die Kollektivschuld ausspricht.

2.9.1997: Tod durch Herzversagen.

Die 39 Bücher von Viktor Frankl sind bisher in 45 Sprachen erschienen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2017