Psychoneuroimmunologie: Krank durch Kränkung

10.02.2017 | Medizin

In der Tatsache, dass es für den Begriff „Kränkung“ keine wissenschaftliche Definition gibt, liegt nach Ansicht von Experten einer der Gründe, warum Kränkungen in der Medizin zu wenig Beachtung finden. Sie plädieren dafür, dass ein größeres Bewusstsein für Kränkungen und deren Auswirkungen entwickelt wird. Von Marlene Weinzierl

Es wäre wichtig, dass die Medizin ein größeres Bewusstsein für Kränkungen entwickelt und erkennt, dass sie eine psychologische Supermacht sind“, sagt der Psychiater Univ. Prof. Reinhard Haller vom Krankenhaus Stiftung Maria Ebene in Vorarlberg. Das Erleben von ständigen oft nur subjektiv merkbaren Kränkungen ist mit chronischem Stress gleichzusetzen – sagt Univ. Doz. Monika Graninger von der III. Medizinischen Abteilung für Innere Medizin und Psychosomatik am Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Wien: „Anders als bei einer direkten Alarmsituation wie plötzlicher Wut verläuft der Prozess des Gekränkt-Seins schleichend, arbeitet im Unterbewusstsein weiter und fördert im Immunsystem chronische Entzündungsreaktionen.“ Dadurch würde beispielsweise der Regenerationsprozess während des Schlafens gestört und Teufelskreise über chronisch überhöhte Hormonspiegel wie zum Beispiel von Cortisol fortgesetzt. Von einer direkten Beeinflussung des Immunsystems durch den chronischen Prozess des Kränkens sei daher auszugehen.

Auswirkungen von psychosozialem Stress

Seit langem ist bekannt, dass biologische Prozesse bei chronischen Entzündungskrankheiten wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Rheumatoide Arthritis oder Multiple Sklerose auch die Psyche eines Menschen beeinflussen, erklärt Graninger. „Das chronische Geschehen ist oft die Ursache für Depressionen und Angststörungen – und zwar auf biologischer Ebene und nicht aus einem ‚nur‘ psychogenen Mechanismus heraus“, so die Expertin. Die Psychoneuroimmunologie interessiert sich daher auch für den umgekehrten Weg. Dabei konnte in zahlreichen Tierstudien herausgefunden werden, dass psychosozialer Stress eine messbare Wirkung auf das Immunsystem hat. Beispielsweise erkrankten Mäuse, die emotional und sozial gestresst wurden – man hatte sie von ihrer Gruppe isoliert – bei Umgebungskeimen an einer Pneumonie. Dies war bei den Mäusen in der Kontrollgruppe, die innerhalb ihrer Sozietät belassen wurden, nicht der Fall. Das hat man bisher damit erklärt, dass das Gehirn mit dem Immunsystem über den Sympathikus und die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse direkt verbunden ist und Wechselwirkungen in beide Richtungen zulässt, wie Graninger ausführt. Eine direkte Rückkopplung von proinflammatorischen Zytokinen zum Gehirn erfolge aber auch, wenn die Produkte der aktivierten Entzündungszellen als Folge von Stressreaktionen Blut-Hirn-Schranke passieren, im Zentralnervensystem die Zellen des Immunsystems aktivieren, die dann zu direkten Interaktionen mit den Neuronen führen.

Graninger dazu: „Es ist daher ganz wichtig, das Bewusstsein in der Medizin dahingehend zu öffnen, dass vor allem chronische somatische Erkrankungen untrennbar auch mit psychosozialen Faktoren verbunden sind und vice versa. Der Mensch muss in seiner Ganzheit betrachtet werden – letztlich ist das Gehirn auch der Sitz unserer Psyche.“ Im Humanmodell gibt es vergleichsweise noch wenige Studien, doch man konnte auch beim Menschen bereits direkte Zusammenhänge zwischen psychosozialen Faktoren und konventioneller immunologischer Abwehrkraft (Graninger) feststellen: Personen, bei denen mittels Fragebögen eruiert wurde, dass sie sich einsam fühlten, wiesen im Vergleich zu Personen, die das nicht waren, eine höhere Gen-Aktivität für Zytokine im peripheren Blut sowie eine höhere Infektionsrate auf.

Laut den Experten ist daher davon auszugehen, dass auch Kränkungen in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielen. Für den Begriff der Kränkung gibt es keine wissenschaftliche Definition (siehe Kasten). Er findet weder in den Lehrzielkatalogen noch in den internationalen Diagnose Klassifikationssystemen (ICD, DSM) Berücksichtigung. Dies sei nach Ansicht von Haller „einer der Gründe, warum Kränkungen in der Medizin und in der Psychotherapie viel zu wenig beachtet werden. Man sucht eher nach stärkeren Störungen, sprich Traumen. Psychotraumen zu benennen und zu therapieren ist ausnehmend wichtig. Doch in sehr vielen Fällen leiden die Patienten einfach unter Kränkungen.“ Die entscheidende Frage für Ärzte sei in diesen Fällen jene nach der Bewältigungsstrategie, betont Graninger. Der Arzt kann seinen Patienten durch Nachfragen im Gespräch „abholen“ und ihn gegebenenfalls mit einer medikamentösen Therapie mit Entzündungshemmung und Immunmodulation im Rahmen einer psychoedukativen Begleitung beim Umgang mit Kränkungen und dem Erwerb von emotionalen Kompetenzen unterstützen (siehe Kasten). In der Regel gingen jedoch aufgrund der beschriebenen Interaktionen zwischen Gehirn und Immunsystem mit der Therapie der somatischen Erkrankung auch Besserungen psychischer Natur einher, so die Expertin abschließend.

Kränkung: Ursachen und Folgen

Was ist Kränkung?
Der Begriff Kränkung lässt sich laut Univ. Prof. Reinhard Haller am besten mit einer „nachhaltigen Erschütterung des Selbst und seiner Werte“ beschreiben. Sie ist keine Reaktion, sondern eine Interaktion und nie von kurzer Dauer, sondern ein längerer sozialer Prozess, der letztlich immer auf das Selbstwertgefühl geht. Kränkung trifft immer eine sensible Stelle (einen inneren Wert, eine nicht verheilte Wunde) und besitzt in der Regel einen „wahren Kern“ – je größer dieser ist, desto tiefer ist die Kränkung. Sie passiert oft unbewusst, doch Menschen können sich auch gekränkt „fühlen“, ohne tatsächlich gekränkt worden zu sein.

Wovon hängt Resilienz ab?
Als Faustregel gilt: Umso wichtiger eine Person für jemanden ist, desto eher kann man von ihr gekränkt werden. Generell variiert die psychische Widerstandsfähigkeit von Mensch zu Mensch stark. Manche Personen sind von Natur aus vulnerabel bis hochsensibel, manche sind aufgrund der Erziehung und Lebenserfahrung mehr oder weniger kränkbar. Eine starke Empfindlichkeit gegenüber Kritik mit einer erhöhten Kränkbarkeit weisen narzisstische Persönlichkeiten auf. Da Resilienz aber zum großen Teil davon abhängt, ob sie im Laufe des Lebens erlernt wurde, lässt sich der Umgang mit Kränkungen bis zu einem gewissen Grad trainieren.

Welche Folgen haben Kränkungen?
Nicht aufgearbeitete Kränkungen können zu Selbstwertzweifeln und delinquentem Verhalten führen. Auf physischer Ebene äußern sich Kränkungen oft in Hypertonie und Herzrhythmus- oder Stoffwechselstörungen. In vielen Fällen sind sie auch Ursache von Suchterkrankungen (Alkohol, Drogen), Neurosen, depressiven Erschöpfungen, Burnout oder Verbitterungsstörungen. Univ. Prof. Reinhard Haller: „Im Jahr 2003 hat Prof. Michael Linden den Begriff der Posttraumatischen Verbitterungsstörung (PTED, Posttraumatic Embitterment Disorder) vorgeschlagen. Es handelt sich dabei im Prinzip um eine schwer heilbare Kränkung. Nach Linden haben viele kleine Kränkungen denselben Effekt wie ein großes Trauma und führen zum selben psychischen Zustand.“ In der Psychiatrie und Psychotherapie weit verbreitet, wurde dieser Begriff „leider noch nicht in die großen Diagnoseschemata aufgenommen“, so Haller.

Kränkungen in der Allgemeinmedizin

Kränkungen sind sehr häufig und in der Pathogenese enorm wichtig. Das Problem: Sie kommen selten zur Sprache. Dabei wären sie „auch in der Hausarztpraxis ein therapeutisch dankbares Thema“, meint Univ. Prof. Reinhard Haller. „Ich habe in meinen 40 Jahren als Psychiater die Erfahrung gemacht, dass, wenn man über Kränkungen zu sprechen beginnt, es von den Patienten immer wahnsinnig dankbar aufgenommen wird. Ein Problem, das dem Arzt wie eine Kleinigkeit erscheint, ist für Betroffene oft ein Riesenproblem.“ Herrscht beispielsweise in der Beziehung eines Patienten eisiges Schweigen, ist das keine dramatische Krankheit. Doch für den Patienten kann es sich um eine enorme Belastung handeln, die sich in einem psychischen oder physischen Leiden manifestiert. Allein dadurch, dass die Kränkung beim Patienten angesprochen wird, verliert das Thema an Brisanz, wie Haller unterstreicht. Der Patient fühle sich ernst genommen und man hat eine gute therapeutische Ausgangsbasis.

Fragen, die der Arzt stellen kann:

  • Haben Sie Sorgen, kränkt Sie etwas?
  • Was berührt es bei Ihnen?
  • Welche inneren Werte wurden getroffen (Einstellung zu Familie, Beruf,…)?
  • Wie könnte man damit umgehen?
  • Welche Motive stecken hinter der Kränkung?

Fallbeispiele

  • Ein 18-jähriger Amokläufer in Deutschland gab als Grund für seinen Amoklauf an, dass bei einer Klassenfahrt sieben (!) Jahre zuvor niemand ein Doppelzimmer mit ihm teilen wollte.
  • Ein suizidaler Patient, der sich in höchster Not an Univ. Prof. Reinhard Haller wandte, wollte nicht mehr weiterleben, weil er nach 30 Jahren Betriebszugehörigkeit bei Bonuszahlungen in der Höhe von 250 Euro übergangen worden war.

Die Fragen erlauben dem Patienten, sein Problem zu formulieren und helfen ihm dabei, Distanz zu seinen Kränkungen zu schaffen und mehr Gelassenheit zu entwickeln. Hilfreich ist dabei das Heranführen des Patienten an einen positiven Blickwinkel, der seine persönliche Weiterentwicklung in den Vordergrund stellt: Förderung der Empathiefähigkeit; Verbesserung der Fremdkenntnisse („Das hätte ich von der Person nie gedacht“); eventuell das Entstehen kultureller Werke (Bilder, Literatur, Musik) durch eine künstlerische Aufarbeitung.

„Es braucht nicht immer die große Psychoanalyse – mit einem guten ärztlichen Gespräch kann man schon sehr viel bewirken“, weiß Haller aus der Praxis. Unter Umständen sei eine psychoedukative Betreuung über mehrere Wochen hinweg notwendig, berichtet Graninger. Die Grundlagen hierfür können im Rahmen der drei PSY-Diplome der Österreichischen Ärztekammer (Psychosoziale Medizin, Psychosomatische Medizin, Psychotherapeutische Medizin) erlernt werden. Inhalte sind unter anderem die Simultandiagnostik (Erkennen von Zusammenhängen zwischen belastenden psychosozialen Faktoren und somatischer Erkrankung) und die Bewertung der psychosozialen Faktoren als Trigger der somatischen Erkrankung zur Berücksichtigung bei der Therapiewahl.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2017