Psychiatrie: Depressionen sind kein Schicksal

25.11.2017 | Medizin


Der vielfach geäußerten Meinung, wonach die Depression einfach zum Alter gehört, widersprechen Experten heftig. Wenn auch persönliche Verluste und Erkrankungen zunehmen, ist eine Depression bei einem alten Menschen nicht schicksalshaft. Sie soll im Alter ebenso effektiv behandelt werden wie beispielsweise eine kardiovaskuläre Erkrankung. Von Marlene Weinzierl

Zehn bis 15 Prozent der älteren Menschen weisen Anzeichen einer Depression auf. Bei Patienten mit chronischen organischen Erkrankungen wie zum Beispiel Diabetes mellitus oder Schilddrüsendysfunktionen sind etwa doppelt so viele Menschen betroffen, weiß Univ. Prof. Gerhard Schüßler von der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie in Innsbruck. Diese Personen tragen auch ein erhöhtes Risiko für die Chronifizierung von Depressionen; auch kommen Rückfälle häufiger vor. Meist handelt es sich um milde bis mittelschwere Verlaufsformen der Depression; immerhin zwei Prozent der Betroffenen leiden im Alter unter schweren Depressionen.

Entgegen anders lautenden Meinungen sind Frauen nicht häufiger von Depressionen betroffen als Männer, betont Univ. Prof. Siegfried Kasper von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien. Ab dem 60. Lebensjahr nehmen sich Männer dreimal so häufig das Leben wie Frauen, ab dem 70. Lebensjahr viermal so oft. „Und Suizid ist immer Ausdruck einer Depression“, verdeutlicht Kasper. Bei Männern zeigt die Depression allerdings meist eine andere Ausprägung als bei Frauen: „Männer werden laut und machen Ärger, während die Frau eher Hilfe in Anspruch nimmt“, so der Experte. Das Problem dabei ist, dass Aggressionen oft nicht mit einer depressiven Erkrankung in Zusammenhang gebracht werden.

Suizidprophylaxe beim Allgemeinmediziner

Den Aussagen von Kasper zufolge ist daher wichtig, dass Allgemeinmediziner eine Art „Suizidprophylaxe“ betreiben und den Patienten im Verdachtsfall darauf ansprechen. „Besonders alte Menschen haben meist große Schwierigkeiten, psychische Probleme einzugestehen“, gibt Schüßler zu bedenken. Auch werde bei jüngeren Patienten die eigentliche depressive Verstimmung für gewöhnlich stärker in den Vordergrundgerückt, während die Beschwerden bei alten Patienten eher einer generellen körperlichen oder sozialen Situation zugeordnet werden. Dazu Kasper: „Die häufige Annahme, dass die Depression einfach zum Alter dazugehört, ist einFehlschluss. Persönliche Verluste und Erkrankungen nehmen zwar zu, abereine Depression ist nicht schicksalshaft. Sie kann und soll genauso wie beispielsweise kardiovaskuläre Erkrankungen auch beim alten Menschen effektiv behandelt werden.“

In der Regel zeigen alte Menschen bei der Depression dieselben klinischen Symptome wie jüngere Patienten. Wesentliches Merkmal ist die depressive Verstimmung. Gedächtnisstörungen, Ängste, innere Unruhe und sozialer Rückzug zählen ebenso dazu; darüber hinaus berichten ältere Patienten oft von übermäßiger Müdigkeit. Die Verweigerung von Nahrungsaufnahme oder Medikamenten- Einnahme sowie Gewichtsverlust sind weitere Kernsymptome, die besondersbei älteren Patienten ernste Hinweise auf eine Depression darstellen. Dem zweiten Kardinalsymptom, den depressiven Antriebsstörungen, kommt man vor allem bei männlichen Patienten sehr oft nur mit Fragen wie „Sind Sie noch so vital wie früher? Haben Sie noch genug Schwung?“ auf die Spur.

Organische Erkrankungen können Depressionen hervorrufen oder verschlechtern; umgekehrt werden Depressionen oft über unerklärliche Beschwerden aller Art (Somatisierung) präsentiert. Besonders Männer klagen oft über Kopfschmerzen oder Rückenschmerzen, die mit einer Depression in Zusammenhang stehen können. Die wichtigste Aufgabe des Allgemeinmediziners laut Schüßler: zu erkennen, ob sich hinter der Präsentation der somatischen Symptome psychische – speziell depressive – Beschwerden verbergen. Neben der körperlichen Untersuchung und einem Blutbild zur Abklärung möglicher Defizite (Entzündungsparameter, Schilddrüsenwerte, Vitamine und Folsäure) sollten bei alten Menschen – falls möglich – Angehörige in die Anamnese und Therapie einbezogen werden, da sie den Betroffenen unterstützen, für die nötige Compliance sorgen und auf Unverträglichkeiten achten können. „Alte Menschen brauchen ein Behandlungsnetzwerk, weil sie es allein oft nicht mehr schaffen“, so Schüßler.

Zu den Komorbiditäten bei Depressionen zählen häufig auch dementielle Erkrankungen. „Die Abgrenzung ist zum Teil schwierig, weil man zwischen der depressiven Pseudodemenz und den klassischen Demenzen vaskulärer Ursache oder Alzheimer-Demenz unterscheiden muss“, betont Schüßler. Bei einer depressiven Pseudodemenz wird das Gedächtnis schlechter; die Patienten sind depressiv und erscheinen dement, obwohl sie es nicht sind. Wird die Depression adäquat behandelt, verschwinden aber auch die pseudo-dementiellen Störungen wieder. Ganz im Gegensatz zum Patienten mit M. Alzheimer: Dieser leidet an einer beginnenden dementiellen Erkrankung und wird deshalb zunehmend aggressiv. Schüßler dazu: „Hier sollen nur bei strenger Indikationsstellung Antidepressiva zum Einsatz kommen, da diese ein Risikofaktor für die Progredienz der Demenzerkrankung zu sein scheinen.“

„Bei bis zu 70-Jährigen sind Wirkung und Indikation von Antidepressiva vergleichbar mit jenen bei jüngeren Patienten“, erklärt Schüßler. Jedoch gibt es kaum Studien für Personen über 65 Jahren. Schüßler weiter: „Üblich und auch für ältere Patienten einigermaßen abgesichert ist der Einsatz von SSRIs und SNRIs.“ SSRIs werden von den meisten Patienten gut vertragen. Gibt es keine gröberen Einschränkungen, können dieselben Dosen wie bei jüngeren Patienten verabreicht werden.

Polypharmazie vermeiden

Wenn es darum geht, Komorbiditäten zu beachten und Polypharmazie zu vermeiden, nimmt der Hausarzt eine besondere Position ein – über 70-Jährige nehmen in der Regel fünf bis zehn Medikamente oder auch noch mehr ein. „Schon ab fünf Medikamenten kann man über Wechsel- und Nebenwirkungen keine pharmakologische Einschätzung abgeben“, unterstreicht Schüßler. Die Forderung, die er daran anschließt: immer nur ein Medikament zu verschreiben – und niemals schlagartig absetzen, sondern immer langsam ausschleichen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2017