Porträt: Freiwilliges isoliertes Jahr

15.12.2017 | Medizin


Medizinische Forschung bei bis zu minus 80 Grad – unter diesen Bedingungen wird die Ärztin Carmen Possnig ein Jahr lang im Auftrag der ESA in der Antarktisstation „Concordia“ an ihren Crewkollegen medizinische Tests durchführen.
Von Ursula Jungmeier-Scholz

Majestätische Königspinguine, bizarre Eisberge in gleißendem Sonnenlicht und aus dem Meer ragende Walfluken gehören zu den lockenden Bildern der Antarktis. Die 28-jährige Ärztin Carmen Possnig arbeitet seit Ende November ein Jahr lang im Auftrag der Europäischen Raumfahrtorganisation ESA in der französisch-italienischen Station „Concordia“ im Landesinneren der Ost-Antarktis und untersucht die Auswirkung von Isolation und Hypoxie auf den Menschen. Und sie erlebt dabei auch die weniger präsentablen Seiten des Landes um den Südpol: vier Monate in absoluter Dunkelheit, Außentemperaturen von bis zu minus 80 Grad Celsius und keine Möglichkeit, vorzeitig nach Hause zu kommen. Aber das macht nichts, denn Possnig schätzt Extreme und braucht neue eindrucksvolle Erfahrungen wie andere Menschen ihr Bier nach Feierabend. Die größte Angst von Possnig, wenn sie an das kommende Jahr denkt, ist, „dass mir langweilig werden könnte“. Davor sollen die junge Klagenfurter Ärztin, die gerade erst in Wien ihren Turnus beendet hat, neben ihrem eisernen Willen vier Forschungsprojekte  bewahren, die sie im Auftrag verschiedener Universitäten durchführen wird.

Vom All in die Antarktis

Diesen vier Forschungsprojekten verdankt Possnig, dass sie überhaupt auf den ungewöhnlichen Job aufmerksam geworden ist. Sie sind nämlich – wie schon Possnigs Diplomarbeit am Institut für Physiologie der MedUni Graz – mit der Raumfahrt assoziiert. In ihrer Diplomarbeit hatte sie sich dem Fitnesstraining für Astronauten auf Langzeitflügen gewidmet – zur Steigerung der orthostatischen Toleranzzeit. Dabei stieß Possnig zufällig auf die Stellenausschreibung für das Antarktis-Projekt: Alljährlich finanziert die ESA nämlich einem Arzt ein Jahr Forschung in der Concordia. Heuer hat Possnig das Rennen gemacht – von 150 Kandidaten.

Zum einen wird sie die Auswirkung der Höhe auf den Körper untersuchen, denn die Concordia, 13 Flugstunden von Neuseeland entfernt und tausend Kilometer im Landesinneren der Ost-Antarktis, liegt auf 3.250 Metern Seehöhe. Sauerstoffgehalt und Luftdruck dort entsprechen allerdings einer Seehöhe von 4.000 Metern über dem Äquator. Das 13-köpfige Kernteam – darunter nur zwei Frauen –, das auch den antarktischen Winter vor Ort verbringen wird (im Südsommer bevölkern knapp 60 Forscher und Techniker die Station), besteht aus lauter Antarktis- Neulingen. „Studien über die Adaption in den ersten paar Tagen gibt es bereits einige, ich aber werde den Anpassungsprozess mittels Blutuntersuchungen und regelmäßiger medizinischer Tests erstmals über ein ganzes Jahr hinweg verfolgen.“

Ebenso kontinuierlich wird sie Stuhlproben der Crew-Mitglieder nehmen, um das Darm-Mikrobiom zu analysieren. „Spannend werden die Fragen: Wenn wir dort alle das Gleiche essen, reagiert unser Darm auch gleich darauf? Und lässt sich ein Zusammenhang zwischen Darmbesiedelung und Psyche nachweisen?“ Possnigs dritte Langzeitstudie ist der Immunologie und der Reaktion der Individuen auf die nahezu sterile Umgebung gewidmet. Dabei soll sie klären, ob die Aktivität der Immunzellen in diesem Ambiente heruntergefahren oder gar gesteigert wird.

Für das vierte Forschungsvorhaben wird zurzeit vor Ort gerade ein Nachbau des Cockpits der Sojus-Kapsel fertiggestellt. Darin sollen die Crew-Mitglieder der Concordia mittels Computertest allmonatlich beweisen, wie fit sie sind, um ein Andockmanöver an die Raumstation ISS durchzuführen, trotz Ermüdung, Isolation und Sauerstoffmangels.

Selbst wenn ihre Forschung primär auf Bedingungen im Weltraum ausgerichtet ist und die Planung von Langzeitflügen ins All verbessern soll, erwartet sich Possnig auch einen irdischen Nutzen davon: „Das neue Wissen über Hypoxie beispielsweise wird auch in die Behandlung von COPD-Patienten, Frühgeborenen und Extrembergsteigern einfließen.“

So viel zu entdecken

„Die Liebe zum All ist vermutlich durch Science Fiction-Filme entstanden“, resümiert Possnig. „Aber ich habe auch von klein auf gerne den Sternenhimmel beobachtet und war oft mit meiner großen Schwester in der Klagenfurter Sternwarte. Während auf der Erde nahezu alles erforscht ist, gibt es im All noch unendlich viel zu entdecken.“ Astrophysik und Astronomie hätten sie durchaus als Studienfächer interessiert. Dass es dann doch Medizin geworden ist, liegt wohl auch am Beruf ihres Vaters, des Internisten Kurt Possnig, der den ärztlichen Dienst der GKK Kärnten leitet. „Er hat am Familientisch oft spannende Fälle geschildert – und wir mussten die richtige Diagnose herausfinden. Zwar hat er mir vom Arztberuf abgeraten, aber offensichtlich nicht eindringlich genug“, erzählt Carmen Possnig verschmitzt. Zunächst wollte sie sich ja der Augenheilkunde widmen und nach Afrika in die Entwicklungshilfe gehen. Beides würde sie auch heute noch reizen – die Ophthalmologie ebenso wie Afrika. Gleichzeitig übt die Forschung eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Daher freut sie sich besonders auf das eigene Labor in der Concordia. Allerdings wird letztlich nicht jede Probe von ihr selbst analysiert werden; das Gros wird einfach tiefgefroren (sprich: im Freien gelagert) – und erst nach der Rückkehr in verschiedenen Labors untersucht.

Schwer zu stressen

Auf Eis gelegt wird bei diesem speziellen Auslandseinsatz auch das bisherige Leben von Possnig – Kontakt nach außen gibt es nur via Skype. Dafür steht ihr viel Kontakt nach innen bevor. „Ich bin auch neugierig, wie ich selbst auf Kälte, Dunkelheit und Isolation reagieren werde.“ Vorab hat die Crew nicht nur ein Höhentraining am Mont Blanc absolviert, sondern auch ein intensives Teambuilding. Schließlich kann man nicht während des Einsatzes einfach heimfliegen, wenn die Situation unerträglich wird. „Aber ich bin schwer zu stressen“, betont Possnig. So sah es auch der Psychologe bei ihrem Eignungsgespräch. Er meinte, sie sei dafür geboren, in die Antarktis zu gehen. Wohl werden ihr wahrscheinlich Sonne, Bäume undfrisches Essen fehlen, gibt Possnig zu, aber dafür wartet die Chance, eigenständig zu forschen.

Auch für die Freizeit ist gesorgt: Possnig freut sich schon auf das Klavier in der Station. Während  sie sich vor der Abreise noch im Klettern geübt hat, wird sie ihre sportlichen Aktivitäten in der Antarktis größtenteils in das stationseigene Fitnessstudio verlegen. Außerdem ist ein Mitglied der Crew ausgebildeter Yogalehrer und kann Anleitung zu professioneller Entspannung bieten. Neben Sport und Musik zählt Lesen zu den Lieblingsbeschäftigungen von Possnig und so hat sie in die drei Alukisten mit ihrer persönlichen Habe, die vorausgeschickt wurden, auch Lesestoff gepackt. „Science Fiction mag ich immer noch, aber mittlerweile auch Klassiker wie Graham Greene.“

Welches berufliche Ziel sie nach ihrer Rückkehr anvisieren wird, weiß Possnig noch nicht. „Aber ich habe schließlich ein ganzes Jahr lang reichlich Zeit, um darüber nachzudenken.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2017