Stand­punkt – Vize-Präs. Karl Forst­ner: Gestör­tes Ver­hält­nis zur Wahrheit

25.11.2016 | Standpunkt

© G. Zeitler

Zumin­dest zur Jah­res­zeit könnte es pas­sen. Denn was sich nun lang­sam aus dem Nebel der Gesund­heits­ka­pi­tel des aktu­ell pak­tier­ten Finanz­aus­gleichs gestalt­haft her­aus­löst, lässt die düs­ter­kalte Zukunft ahnen. Und viel­leicht ist der Zustand der Repu­blik bereits dort ange­kom­men, dass es nicht mehr anders geht. Dann wäre es aber schön lang­sam Zeit, den Men­schen die­ses Lan­des rei­nen Wein ein­zu­schen­ken. Aber Fehl­an­zeige – ganz im Gegen­teil. Die Poli­tik fei­ert, den „Durch­bruch“ geschafft zu haben. Zynis­mus und resi­gna­tive Selbst­iro­nie vor­aus­ge­setzt, ver­dient dies viel­leicht sogar Bewunderung.

Wie unsere Poli­tik die rat­ten­fraß­ar­ti­gen Ver­luste, die zuneh­men­den Defi­zite in unse­rem Gesund­heits­sys­tem offen­sicht­lich aus­blen­det, das hat auch wirk­lich etwas. Zuneh­mend lange War­te­lis­ten für Ope­ra­tio­nen und Bild­ge­bung, Gang­bet­ten in Spi­tä­lern, Ver­lust von Kas­sen­stel­len, Rekru­tie­rungs­pro­bleme in Kran­ken­häu­sern und der Exodus von Jung­ärz­ten – einige Bei­spiele, die ober­fläch­lich salopp negiert werden.

In den Reak­tio­nen gegen­über Kri­tik eta­bliert sich immer mehr ein auto­ri­tä­rer Ton und Stil. Macht­be­rauscht phan­ta­siert etwa der Gesund­heits­spre­cher einer Regie­rungs­par­tei von der funk­tio­na­len Aus­lö­schung der Wahl­ärzte. Mit Argu­men­ten der Ärz­te­kam­mern will man sich offen­sicht­lich nicht mehr aus­ein­an­der­set­zen. Statt­des­sen sol­len sie durch „Regie­rungs­kom­mis­sare“ ent­mün­digt und unter eng­ma­schige Kon­trolle gebracht wer­den. Die Aver­sion, sich mit Kri­tik über­haupt aus­ein­an­der­set­zen zu wol­len, führt zuneh­mend zu selbst­ge­fäl­li­gem, auto­ri­tä­rem Gehabe mit dis­zi­pli­nä­rer Maß­re­ge­lung bis hin zu Arbeits­platz­ver­lust. Die immer umfang­rei­che­ren büro­kra­ti­schen Kon­troll­be­mü­hun­gen fin­den im „Spit­zel­sys­tem“ des Mys­tery Shop­pings ihren vor­läu­fig bizar­ren Höhepunkt.

In den dis­kurs­freien Zonen selbst­ge­fäl­li­ger Macht­ent­fal­tung gedei­hen die Patho­lo­gien des Auto­ri­tä­ren ja auch präch­tig: der repres­sive Kon­troll­zwang und das gestörte Ver­hält­nis zur Wahrheit.

Wenn der pak­tierte Staats­ver­trag den dekre­tier­ten Abbau von „Dop­pel­struk­tu­ren“ vor­sieht, dann sol­len wohl nie­der­ge­las­sene Ärzte ver­schwin­den und ihre Leis­tung in Ambu­la­to­rien und Kran­ken­häu­ser ver­scho­ben wer­den. Der sozi­al­ver­si­cherte Pati­ent wird von der Poli­tik die­sen Struk­tu­ren und Leis­tungs­an­ge­bo­ten zwangs­zu­ge­wie­sen. Frei­lich, es wird zuneh­mend pri­vate Alter­na­ti­ven geben – aber eben nicht mehr für alle. Wirk­li­che Mehr­klas­sen­me­di­zin wird so insti­tu­tio­na­li­siert. Warum das Sozi­al­ver­si­che­rungs-Ange­bot schlech­ter wird? Weil dem bereits jetzt unter­fi­nan­zier­ten Gesund­heits­sys­tem über eine Inten­si­vie­rung des „Kos­ten­dämp­fungs­pfa­des“ bis 2021 wei­tere 4,3 Mil­li­ar­den Euro ent­zo­gen wer­den sollen.

Hat man dies den Men­schen in Öster­reich je gesagt? Ganz im Gegen­teil: alles bes­tens; das Gesund­heits­sys­tem ist auf siche­rem Kurs – so die Bot­schaft unse­rer Politik!

Die­ser Umgang mit Wahr­heit ist nicht fair, hat aber Tra­di­tion: „Nie­mand hat die Absicht, eine Mauer zu errich­ten“ – sagte Wal­ter Ulb­richt im Juni 1961, zwei Monate vor dem Bau­be­ginn der Ber­li­ner Mauer.

Als Ärz­te­schaft dür­fen wir dies nicht wort- und taten­los hinnehmen.

Karl Forst­ner
1. Vize­prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärztekammer

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2016