Individualisierte Medizin in den USA: Nächster Schritt in eine neue Ära

15.08.2016 | Politik


Ein wissenschaftliches Projekt, die individualisierte Medizin, ist eines der letzten großen Vorhaben des scheidenden US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama. Im Rahmen der „Precision Medicine Initiative“ soll bis zum Jahr 2020 eine Million US-Amerikaner dazu motiviert werden, ihre persönlichen Daten bekannt zu geben. Mehr als 200 Millionen Dollar sind im US-Budget dafür vorgesehen.
Von Nora Schmitt-Sausen

Eine Million – so lautet die Zauberformel für die kommenden Jahre. Eine Million US-Amerikaner ist von höchster Stelle aufgerufen, Wissenschaftern freiwillig detaillierte Angaben zu genetischen Daten und ihrem Lebenswandel preiszugeben, damit diese der Forschung im Feld der personalisierten Medizin zugänglich gemacht werden können. Bis zum Jahr 2020 soll die magische Zahl erreicht sein. Derzeit wird mit Geldern der National Institutes of Health (NIH), der auf biomedizinische Forschung spezialisierten Behörde des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums, landesweit die Infrastruktur aufgebaut, die nötig ist, um die Kohorte in die Tat umzusetzen. Diese ist der zentrale Bestandteil von Obamas ambitionierter „Precision Medicine Initiative“.

In seiner Rede zur Lage der Nation im Januar 2015 hatte Obama die breite Öffentlichkeit erstmals darüber in Kenntnis gesetzt, dass er in großem Stil neue Wege in der Medizin gehen möchte. Durch Fortschritte in Forschung, Technologie und Politik im Sinn der Patienten werde die Precision Medicine Initiative eine „neue Ära der Medizin“ einleiten, in der Forscher, Gesundheitsdienstleister und Patienten zusammenarbeiten, um eine individuelle Versorgung möglich zu machen. „Heute Abend starte ich eine neue Initiative, um uns näher an die Heilung von Krankheiten wie Krebs und Diabetes zu bringen – und um uns allen den Zugang zu personalisierten Informationen zu ermöglichen, die wir brauchen, damit wir selbst und unsere Familien gesünder leben können“, sagte Obama damals. Das Ziel ist unmissverständlich: Der Präsident will neue Forschungsanstrengungen lancieren, um die Gesundheit der US-Amerikaner und die Behandlung von Krankheiten zu verbessern.

In den folgenden Monaten hat sich Barack Obama mehrfach persönlich dafür eingesetzt, das ehrgeizige Vorhaben in Gang zu setzen – und die Öffentlichkeit für das Projekt zu gewinnen. Bei einer Fachveranstaltung im Februar dieses Jahres betonte der Demokrat besonders, wie wichtig es sei, dass die US-Amerikaner verstünden, dass sie die Hoheit über die von ihnen erhobenen Daten hätten – und zu Partnern von Forschungseinrichtungen würden.

Appell von Obama

Wenige Monate später wandte er sich in einem ungewöhnlichen Schritt an die US-amerikanischen Bürger: In einem Gastbeitrag in der altehrwürdigen Tageszeitung Boston Globe brach Obama Anfang Juli dieses Jahres eine weitere Lanze für sein Groß-Vorhaben zur individualisierten Medizin. Unter dem Titel „Medicine’s next step“ schreibt er: „Indem wir Ärzte und Daten zusammenbringen wie noch niemals zuvor zielt die Präzisionsmedizin darauf ab, die richtigen Behandlungen in der richtigen Dosierung zur richtigen Zeit zu liefern – jedes Mal. Sie hilft, die Ursachen eines Zustandes zu ermitteln, nicht nur die Symptome.“ Es sei eine der größten Chancen, die es jemals gegeben habe, um medizinischen Durchbruch möglich zu machen, urteilt der Präsident. Gleichzeitig richtet er einen Appell an die US-amerikanische Bevölkerung: Das Vorhaben funktioniere nur, wenn zunächst genügend Daten gesammelt werden.

Denn: Für das Herzstück der Initiative zur Präzisionsmedizin, die Kohorte, werden die freiwilligen Teilnehmer aufgefordert, detaillierte Angaben zu ihrem Gesundheitsstatus zu machen sowie Blut-, Urin- und DNA-Proben abzugeben. Angereichert wird der medizinische Informationspool durch Angaben zum Alter, Geschlecht und Bildungsstandard; auch Aspekte wie Trinkgewohnheiten, Rauchverhalten und das Maß der sportlichen Betätigung sollen erfasst werden. Jeder US-Bürger, der möchte, kann an dem Forschungsprojekt teilnehmen. Die Teilnehmergruppe soll die breite Facette der Bevölkerungsstruktur der USA widerspiegeln und sich aus Menschen unterschiedlicher Herkunft, Wohnort, Ethnie und Sozialstatus zusammensetzen. Geplant ist, dass sich die ersten Interessenten noch in diesem Jahr für das Forschungsprojekt einschreiben können. Ziel ist es, bis zu zehn Jahre lang Daten der jeweiligen Einzelperson zu erfassen.

Renommierte Partner im ganzen Land

Die Obama-Regierung geht diesen schwierigen Weg nicht allein. Die Liste der teilnehmenden Partner am Projekt ist lang – und liest sich gut. Landesweit sind Kliniken, renommierte Universitäten und Community Health Center ausgewählt worden, Menschen für das Vorhaben zu gewinnen wie etwa die Columbia Universität in New York. Besonders den Community Health Centern kommt eine große Bedeutung zu – versorgen sie doch traditionell viele sozial schwächere Bewohner der USA.

Die international anerkannte Mayo-Klinik in Rochester (US-Bundesstaat Minnesota) wird eine Biobank aufbauen, um Millionen von Blutproben, DNA-Proben zu sammeln und zu analysieren. Die Vanderbilt Universität in Nashville im US-Bundesstaat Tennessee wird in Zusammenarbeit mit dem Broad Institute of MIT and Harvard in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts) und Verily – bekannt als Google Life Sciences (Mountain View, Kalifornien) eine Informationsdatenbank errichten und führen. Auch einige weitere US-amerikanische Technologie-Firmen sind mit an Bord, um das Projekt zu einem Erfolg zu machen.

Das Besondere daran: Den Teilnehmern sollen die von ihnen erhobenen Daten von Beginn an zugänglich gemacht werden. Sie sollen sich als Partner, nicht als Versuchsobjekte fühlen, heißt es von offizieller Stelle. Ergebnisse von Untersuchungen können beispielsweise für aktuell laufende Therapien der Betroffenen genutzt werden.

Um die benötigten Daten für das Mammut-Projekt zu erheben, gehen die US-Amerikaner moderne Wege. Daten werden beispielsweise durch Online-Befragungen gewonnen, aus den im Land bereits weit verbreiteten elektronischen Gesundheitsakten, durch Apps und digitale Fitness-Tracker. Die Datensicherheit werde zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein, betonen die Behörden.

Projekt von historischer Bedeutung

Das Ziel der Bemühungen ist klar umschrieben: Es geht darum, Korrelationen zwischen dem Lebensstil der Menschen, der Familiengeschichte, Umwelteinflüssen und ihren genomischen Daten zu finden. Die USA wollen damit ihre Fähigkeit ausbauen, künftig Krankheiten dank des individuellen Blicks auf Unterschiede im Lebensumfeld und Lebensstil zu verhindern und besser zu behandeln.

Mehr noch: „Solch eine große Ansammlung von Gesundheitsdaten wird uns helfen, besser zu verstehen, warum bestimmte Behandlungen bei einigen Leuten funktionieren, bei anderen aber nicht, oder warum scheinbar fitte Menschen krank werden. Die sich daraus ergebenden Durchbrüche könnten dazu beitragen, dass Menschen länger, glücklicher und gesünder leben und neue Arbeitsplätze und Wirtschaftszweige in den USA zu schaffen. Und: Indem die Versorgung verbessert wird, wird letztlich unser gesamtes Gesundheitssystem besser funktionieren“, umreißt Obama im Boston Globe-Artikel die großen Hoffnungen, die an das Projekt geknüpft sind.

Sowohl die Größenordnung als auch die Bedeutung dieses Projektes stellen bisherige, ähnlich gelagerte Forschungsvorhaben der USA in den Schatten. Das Kohorten-Programm sei „ein Meilenstein“ in der US-amerikanischen Forschungsgeschichte, schreiben die National Institutes of Health in einer Mitteilung. Es sei „eines der ehrgeizigsten Forschungsprojekte in der Geschichte und wird die Grundlage sein, um neue Wege dabei zu gehen, Menschen für die Forschung zu gewinnen“. Fach- und Publikumsmedien in den USA sprechen in ihrer Berichterstattung von Bemühungen, die in ihrem Umfang bis dato „beispiellos“ seien.

Unterstützung vom Kongress

Auch der US-amerikanische Kongress zieht mit: Im vergangenen Dezember hatte er den National Institutes of Health (NIH) 130 Millionen US-Dollar gewährt. Im Haushalt 2017, der am 1. Oktober dieses Jahres beginnt, hat Obama mehr als 200 Millionen US-Dollar für die Precision Medicine Initiative eingeplant. 55 Millionen US-Dollar werden von den NIH allein in diesem Jahr freigegeben, um die landesweite Datenerhebung beginnen zu können.

Dies zeigt: Über die Bedeutung des kollektiven Datensammelns für die Zukunft herrscht auch in Washington Einigkeit. Selbst der Ausgang der Präsidentschaftswahl wird wohl keinen Einfluss auf das ehrgeizige Forschungsvorhaben haben. Denn: Die Mittel für das Projekt wurden in überparteilicher Übereinstimmung von Demokraten und Republikanern bewilligt. Ein seltener Vorgang in der Amtszeit Obamas – und ein klares Indiz dafür, dass es die USA ernst meinen mit der individualisierten Medizin.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2016