Suizide: Ein weltweit wachsendes Phänomen

25.11.2016 | Politik

Die internationale Gemeinschaft ist alarmiert: Die Suizid-Raten sind in einigen Ländern der Welt zum Teil dramatisch hoch. Unter den OECD-Spitzenreitern findet sich Ungarn; auch Österreich hat im Vergleich zum übrigen Europa vergleichsweise hohe Zahlen. Die WHO fordert mehr Bemühungen zur Prävention. Von Nora Schmitt-Sausen

Suizide sind in vielen Gesellschaften kein Randphänomen. Jedes Jahr, so hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ermittelt, nehmen sich mehr als 800.000 Menschen das Leben. Alle 40 Sekunden beschließt irgendwo auf der Welt ein Mensch, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Mindestens. Die Dunkelziffer bei Suiziden ist hoch, da sie nur schwer zu erfassen sind und in manchen Ländern gar nicht ermittelt werden. Sicher ist: Hinzu kommt eine hohe Zahl von Suizidversuchen, die um ein Vielfaches höher ist als vollendete Suizide.

Die WHO bemüht sich bereits seit 2008, das Thema intensiver auf die politische Agenda zu setzen. Vor drei Jahren hat sie die mentale Gesundheit verstärkt in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt. Die 66. Weltgesundheitsversammlung verabschiedete damals den ersten Aktionsplan für psychische Gesundheit. Eines der primären Ziele: Suizidprävention. Bis zum Jahr 2020 soll die Suizidrate in allen Ländern um zehn Prozent verringert werden.

Allein einige wenige Fakten zeigen, welche Dimension das Thema hat. Dem WHO-Weltsuizidbericht 2014 zufolge, dem ersten und bislang einzigen seiner Art, sind Suizide auf Rang 15 der Todesursachen in der Welt. In Zahlen heißt das: Die globale Suizidrate liegt bei 11,4 pro 100.000 Einwohner.

Die Suizid-Raten variieren teils gravierend von Land zu Land. Das kulturelle, soziale, religiöse und wirtschaftliche Umfeld spielt dabei eine große Rolle. Besonders hoch sind die Raten etwa in Indien (25,8 Prozent), Japan (26,9), Nepal (30,1), Tansania (31,6), Südkorea (41,7), Nordkorea (45,4), Sri Lanka (46,4) sowie in einigen osteuropäischen Staaten wie Litauen (51,0), Ungarn, (32,4), Polen (30,5) und Russland (35,1). In Mitteleuropa und Südamerika sind die Suizid-Raten im weltweiten Vergleich am niedrigsten.

Männer häufiger betroffen

Ein global einheitliches Phänomen: Männer nehmen sich häufiger das Leben als Frauen. Vor allem in Ländern mit höheren Einkommen ist ein großer „Gender gap“ zu verbuchen. Hier versterben dreimal so viele Männer an Suizid wie Frauen. Die Mittel und Methoden, mit denen Menschen aus dem Leben gehen, unterscheiden sich je nach Land und Kulturkreis. An vorderster Stelle stehen Waffen, das Schlucken von Pestiziden und Tod durch Erhängen. In jüngster Zeit ist in vielen Ländern eine Besorgnis erregende Entwicklung zu beobachten: Während vor allem Menschen in höherem Lebensalter – besonders ältere Männer – Suizid begehen, belegen die neusten Zahlen, dass sich etwas zu verschieben scheint. Menschen mittleren Alters und zunehmend junge Menschen zählen heute zu den Hochrisiko-Gruppen – und das bei Männern wie Frauen nahezu gleichermaßen.

Vor allem in der Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen sind die Zahlen deutlich gestiegen. Suizide sind hier laut WHO heute die zweithäufigste Todesursache. Gerade unter Teenagern steige die Suizid-Gefahr in vielen Ländern der Welt, ergeben verschiedene Erhebungen. Als Gründe werden Leistungsdruck und Beziehungsprobleme, aber auch Mobbing genannt. Zu den von Suiziden junger Menschen besonders betroffenen Ländern zählen etwa Südkorea, Russland, aber auch Industrienationen wie Neuseeland. Doch es gibt auch Erfolge: So ist nach Angaben des Office for National Statistics in Großbritannien allein in der Gruppe der 15- bis 29-jährigen Männer die Suizid-Rate in der jüngeren Vergangenheit zurückgegangen (Stand 2013).

Einheitlich scheint zu sein, dass es offenbar einen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wohlbefinden und Suizid gibt. Der WHO zufolge treten 75 Prozent der Suizide in Ländern mit geringen und mittleren Einkommen auf.

Anstieg während Wirtschaftskrise

Doch auch in wohlhabenderen Nationen sind Suizide ein Thema. Dies belegen allein die jüngsten Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). In ihrem aktuellen Report „Health at a Glance 2015“ beziffert die Organisation die Fallzahlen auf 150.000 Todesfälle jährlich durch Suizid (Stand: 2013). Die OECD benennt Suizide – wie die WHO – als relevantes Problem für die öffentliche Gesundheit.

Die niedrigsten Suizidraten haben der OECD-Statistik zufolge die Türkei, Griechenland, Mexiko, Italien und Israel mit nur sieben oder weniger Suiziden auf 100.000 Bewohner. Zu den Spitzenreitern zählen Litauen, Korea, Ungarn, Japan, Slowenien und Belgien. Diese Länder kommen auf fast 30 Suizide auf 100.000 Bewohner beziehungsweise knapp unter 20 per 100.000.

Die Organisation betont, dass es im Kampf gegen den Suizid in einigen OECD-Staaten in den vergangenen Jahren große Erfolge gegeben hat. In Finnland und Ungarn beispielsweise sei es gelungen, die Rate seit 1990 nahezu zu halbieren. Gute Zahlen kann auch Deutschland vorweisen. Seit 30 Jahren sinken die Suizid-Raten hier nahezu kontinuierlich – was vor allem der wirtschaftlichen Stabilität zugerechnet wird. Im Jahr 2013 kommen in Deutschland auf 100.000 Bewohner 10,8 Suizide. Zum Vergleich: In Österreich waren es 13,6 per 100.000, in der Schweiz 12,2 per 100.000.

Die OECD verweist allerdings darauf, dass die Suizidraten in einigen ihrer Mitgliedsstaaten in der jüngeren Vergangenheit wieder in Bewegung geraten sind. „Mit dem Beginn der Wirtschaftskrise 2008 bis 2009 sind die Suizid- Raten in einigen Ländern wieder leicht gestiegen. Aber in den meisten Staaten hat dieser Trend nicht angehalten“, so die Analyse.

Besonders auffällig ist die Situation in den USA: Dort sorgte in diesem Jahr eine umfassende Untersuchung der nationalen Gesundheitsbehörde „Centers for Disease Control and Prevention“ für Schlagzeilen. Diese untersuchte die Suizidratenm der vergangenen 15 Jahre. Ergebnis: Die Suizid-Raten sind in den USA so hoch wie seit 30 Jahren nicht; ein besonders deutlicher Anstieg ist seit 2006 zu verzeichnen (siehe Kasten).

Der britische Economist analysierte in einem Beitrag, dass die US-Amerikaner unter den Industrienationen mit dieser Tendenz nicht allein sind. Auch in Großbritannien und den Niederlanden werden aktuell wieder deutlich höhere Suizid-Zahlen registriert. Auf die steigenden Zahlen in Europa verweist – im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise – auch eine Analyse des Magazins „Nature“, in der sich die Autoren André Aleman und Damiaan Denys umfassend mit den hohen Suizidzahlen und den Defiziten in Forschung und Prävention auseinandersetzen.

Phänomen Suizid: schwer fassbar

Es ist nach wie vor schwierig, zu begreifen, warum Menschen ihrem Leben freiwillig ein Ende setzen. Die WHO schreibt im Bericht dazu: „Es gibt keine einfache Erklärung dafür, warum Menschen durch Suizid sterben. Viele Suizide geschehen aus einem Impuls heraus. In einem solchen Fall kann der einfache Zugang zu tödlichen Mitteln und Methoden wie beispielsweise Pestiziden oder Schusswaffen darüber entscheiden, ob eine Person lebt oder stirbt.“

Es gilt als wissenschaftlich gesichert, dass der Großteil derer, die Suizid begehen, an einer psychischen Erkrankung leidet; in Studien wird von bis zu 90 Prozent ausgegangen. Stress-Situationen und finanzielle Schwierigkeiten, Beziehungsprobleme sowie chronische Schmerzen und Krankheit können Auslöser für eine solche Impulshandlung sein.

Im Zusammenhang mit suizidalem Verhalten stehen außerdem erlebte Konflikte, Unglücke, Gewalt, Missbrauch, Verlust und Isolation. Auch Diskriminierungen, wie sie etwa Migranten, Schwule und Lesben sowie Gefangene erlebten, sind ein Risikofaktor. Die OECD betont den bekannten Zusammenhang von Suiziden und psychischen Erkrankungen wie Depressionen, aber auch Alkohol- und Medikamentenmissbrauch.

Einigkeit herrscht in diesem Punkt: Auf Grund der global weit verbreiteten Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen und ebenso auch des Suizids sowie der Kriminalisierung desselben in einigen Ländern seien viele Betroffene nicht in der Lage, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. Zu weiteren zentralen Risikofaktoren gehören laut WHO außerdem Schwierigkeiten beim Zugang zum Versorgungssystem und Engpässe bei der Bereitstellung von notwendigen Therapien. Problematisch bewertet die Organisation darüber hinaus den vielerorts „einfachen Zugang zu tödlichen Mitteln und Methoden sowie unangebrachte Medienberichterstattung, die Suizide sensationalisiert und damit das Risiko von Nachahmungstaten erhöht“. Als eines der effektivsten Mittel zur Vermeidung von Suiziden gilt die Beschränkung des Zugangs zu tödlichen Mitteln und Methoden.

Ob das WHO-Ziel 2020 erreicht wird, liegt in der Hand der nationalen Regierungen und ihrer Bereitschaft, Präventionsprogramme zu starten und ihre Gesundheitssysteme zu stärken. Denn: Laut WHO haben erst 28 Länder eine nationale Strategie zur Suizidprävention.

Mehr Sensibilisierung in der Krise!

Suizidprävention aus Innensicht

Von Nestor Kapusta*)

In Österreich kam es seit Mitte der 80er Jahre zu einem deutlichen Rückgang der Suizidrate pro 100.000 Personen. Mit Einsetzen der Wirtschaftskrise 2008 ist jedoch kein weiterer Rückgang der Suizidrate mehr beobachtbar, vielmehr hat sich hier ein Plateau eingestellt, mit einer bisher ungewissen Prognose. Während es in einigen anderen europäischen Ländern in der Wirtschaftskrise zu einem Anstieg der Suizidraten gekommen ist, bleibt die Entwicklung in Österreich abzuwarten. Dennoch stellen 1.251 Suizide im Jahr 2015 (Rate: 14,3 pro 100.000) eine für ein entwickeltes Land hohe Zahl dar. Sie rufen nach weiteren Präventionsmaßnahmen im Rahmen des Nationalen Suizid-präventionsprogrammes. Allein in Wien verstarben im Schnitt der letzten drei Jahre 230 Menschen pro Jahr durch Suizid. Das entspricht der Hälfte aller tödlichen Transportmittelunfälle bundesweit (im Schnitt 470 Menschen pro Jahr 2013 bis 2015).

Zu den wirksamsten Präventionsmaßnahmen zählt neben dem Ausbau der akuten psychosozialen Versorgung sowie der Sensibilisierung von Gatekeepern in der Erkennung und Behandlung von Suizidalität, auch die Einschränkung der Verfügbarkeit von letalen Suizidmitteln (Schusswaffen, Packungsgrößen bestimmter Medikamente, Sprungbarrieren bei Hotspots). Während es im Rahmen des verordneten budgetären Sparkurses zu einer Verknappung von Mitteln für psychische Gesundheit bei steigendem Bevölkerungswachstum kommt, ist gerade in Zeiten der Krise eine vermehrte Sensibilisierung für das Thema Suizid notwendig. Das Nationale Suizidpräventionsprogramm SUPRA ist beauftragt, hierzu Lösungen zu erarbeiten. Ein von der Ärztekammer Wien und dem Hauptverband initiiertes Schulungsangebot für Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner in psychiatrischen Basisfertigkeiten wird seit drei Semestern vorerst nur in Wien angeboten und von zahlreichen Kolleginnen und Kollegen angenommen. Es ist eine Frage der politischen Priorisierung, ob es zu einem weiteren nötigen Ausbau von Akutdiensten kommt. Schließlich haben Sensibilisierungsmaßnahmen nur dann Erfolg, wenn es auch die entsprechenden Kapazitäten im Akutbereich der Psychiatrie und Psychotherapie gibt.

*) Priv. Doz. Nestor Kapusta, Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien

USA: steigende Suizidzahlen in allen Generationen

In den USA wird seit geraumer Zeit ein deutlicher Anstieg bei Suiziden verbucht. Fast 43.000 US-Amerikaner sind allein im Jahr 2014 freiwillig aus dem Leben geschieden. Zum Vergleich: 1999 gab es in den USA keine 30.000 Suizide, im Jahr 2011 waren es fast 40.000. Die Suizidrate ist in den vergangenen 15 Jahren nach offiziellen Angaben um 24 Prozent gestiegen. Das heißt: Im Jahr 1999 sind auf 100.000 Bewohner der USA 10,5 Suizide gekommen, 2014 waren es 13. Besonders dramatisch ist der Anstieg seit dem Jahr 2006 – seitdem ist ein konstanter Anstieg um zwei Prozent pro Jahr zu verbuchen; in den Jahren zuvor war es ein Prozent.

War Suizid in den USA bislang ein Phänomen, das vor allem die Senioren getroffen hat, ist es heute in allen Generationen ein Thema. Die Suizid-Raten sind im Beobachtungszeitraum in allen Altersgruppen unter 75 Jahren gestiegen, lediglich bei den über 75-Jährigen entwickelte sie sich rückläufig. Frauen und Männer sind gleichermaßen von der negativen Spirale betroffen – in beiden Gruppen haben Suizide zugenommen. Bei Frauen ist der Anstieg teils rapide; die Kluft zwischen den Geschlechtern beginnt sich zu schließen. Zu den aktuellen Hochrisikogruppen zählen für viele Experten überraschend US-Amerikaner mittleren Alters (45 bis 64 Jahre) und – was besonders dramatisch ist: die Jugendlichen. In der Altersgruppe der Zehn- bis 14-jährigen Mädchen etwa hat sich die Rate zwischen 1999 und 2014 verdreifacht.

Experten machen die Wirtschafts- und Finanzkrise, die in den USA ab 2007 besonders dramatische Folgen hatte, für den rasanten Anstieg verantwortlich. Der Jobverlust, die daraus resultierende schwere wirtschaftliche Lage und die Sorge um die Zukunft hat bei vielen US-Amerikanern eine Depression verursacht. Als weitere Gründe werden soziale Vereinsamung, enttäuschte Lebenserwartungen sowie – sehr zentral – Versorgungsdefizite im US-amerikanischen Gesundheitssystem genannt. Bis heute spüren viele US-Bürger die Folgen der Krise und profitieren nicht von der sich stabilisierenden Wirtschaftslage. Dass Suizid-Raten in Krisenzeiten steigen, ist belegt.

Auf die Frage, warum es zu einem Anstieg der Suizid-Raten bei jungen Heranwachsenden gekommen ist, gibt es bisher noch wenig klare Antworten. Die verfrüht einsetzende Pubertät könnte bei jungen Mädchen eine Rolle spielen, heißt es. Andere wiederum machen den gestiegenen Erfolgs- und Erwartungsdruck, die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, aber auch Cyber-Mobbing dafür verantwortlich.

Fest steht: In den USA, wo im Vergleich zu Europa laxe Waffengesetze herrschen, spielt der leichte Zugang zu Waffen beim Blick auf die Suizid-Raten eine erhebliche Rolle. Die Hälfte aller Suizide erfolgt durch Schusswaffen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2016