Pri­mär­ver­sor­gung: Von allem zu wenig

15.07.2016 | Politik

Eine Ent­wick­lung ist allen Gesund­heits­be­ru­fen gemein­sam: Es gibt ein­fach zu wenig Fach­kräfte. So lange hier nicht auf­ge­stockt wird, ist Pri­mary Health Care, also Pri­mär­ver­sor­gung, nur schwer zu rea­li­sie­ren . Über die „Pri­mär­ver­sor­gung neu“ wurde beim 79. Gesund­heits­po­li­ti­schen Forum Ende Juni in Wien dis­ku­tiert.
Von Marion Huber

Pri­mär­ver­sor­gung fin­det schon jetzt statt – dafür brau­chen wir kein PHC-Gesetz.“ Warum die ÖÄK so mas­siv gegen ein PHC-Gesetz ein­tritt, kann Johan­nes Stein­hart, Bun­des­ku­ri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte, mit ein­fa­chen Argu­men­ten erklä­ren: „Es geht in die­sem Ent­wurf in ers­ter Linie nur darum, wie man den Gesamt­ver­trag kippt und mer­kan­ti­len Inter­es­sen Tür und Tor öff­net.“ – und um Macht sowie um ideo­lo­gi­sche Gründe, die das bewährte Sys­tem besei­ti­gen sol­len. Will man Fir­men aus der Bau­bran­che oder andere große Geld­ge­ber als Inves­to­ren in PHC-Zen­tren – mit rei­nem Gewinn­in­ter­esse? Mit dem ärzt­li­chen Ethos lässt sich das jeden­falls nicht ver­ein­ba­ren. Und auch der Gesamt­ver­trag muss blei­ben – „sonst wird es mit uns kein Wei­ter­kom­men geben“, unter­mau­ert Steinhart.

Kein Gesetz notwendig

Der Stan­des­po­li­ti­ker sieht auch kei­nen ursäch­li­chen Zusam­men­hang zwi­schen Gesetz und PHC-Model­len, wie sie bereits in Pilot­pro­jek­ten durch­aus gut funk­tio­nie­ren. Selbst wenn man PHC-Zen­tren als die Lösung aller Pro­bleme sieht, braucht es kein Gesetz; diese Ein­rich­tun­gen lie­ßen sich sehr wohl aus dem bestehen­den Sys­tem ent­wi­ckeln. „Evo­lu­tio­när, nicht revo­lu­tio­när – so sehe ich Mög­lich­kei­ten.“ Wie gut das funk­tio­niert, zeigt u.a. das PHC-Zen­trum Medi­zin in Wien Maria­hilf, das die Wie­ner Ärz­te­kam­mer zusam­men mit der Stadt Wien und der Wie­ner Gebiets­kran­ken­kasse auf die Beine gestellt hat. „Ein Kon­zept, das funk­tio­niert und wirk­lich gut läuft.“ Nach die­sem Bei­spiel PHC-Zen­tren zu ent­wi­ckeln – und inter­pro­fes­sio­nell und inter­dis­zi­pli­när zusam­men­zu­ar­bei­ten –, dafür seien die Ärzte offen. Dass noch wei­tere Pro­jekte wie das PHC Medi­zin Maria­hilf fol­gen müs­sen, glaubt auch Ursula Froh­ner, Prä­si­den­tin des Öster­rei­chi­schen Gesund­heits- und Kran­ken­pfle­ge­ver­ban­des. „Dafür muss die Poli­tik die Finan­zie­rung auf­brin­gen.“ Aber: PHC muss sowohl in Zen­tren als auch in Ein­zel­pra­xen statt­fin­den kön­nen, for­dert Stein­hart nach­drück­lich. „Wir müs­sen die Dis­kus­sion rund um PHC davon befreien, dass es zwangs­läu­fig ein Zen­trum sein muss.“

Die Pati­en­ten sind schließ­lich – wie Umfra­gen zei­gen – zufrie­den, dass die Pri­mär­ver­sor­gung über ihren Haus­arzt läuft (siehe ÖÄZ 11 vom 10. Juni 2016, „PHC = Haus­arzt“). Die Pro­ble­ma­tik ist nur, dass es schon bald zu wenige Haus­ärzte geben wird. Zum einen ist ein gro­ßer Teil der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte nahe am Pen­si­ons­al­ter, zum ande­ren ist es heut­zu­tage nicht mehr son­der­lich attrak­tiv, sich als Arzt nie­der­zu­las­sen. Die Knack­punkte sind all­seits bekannt: enor­mer Doku­men­ta­ti­ons- und Ver­wal­tungs­auf­wand, inad­äquate Hono­rie­rung, in die Jahre gekom­mene Leis­tungs­ka­ta­loge etc.… Wer diese Ver­sor­gungs­lü­cke fül­len wird, ist frag­lich. „Wir reden immer über Ver­net­zung – aber wen wol­len wir ver­net­zen? Die vie­len Ärzte, Pfle­ge­kräfte, Phy­sio­the­ra­peu­ten etc., die ver­netzt wer­den sol­len, gibt es doch gar nicht!“, fragt Stein­hart. Denn wäh­rend die Gesund­heits­be­rufe von der Poli­tik oft bewusst „auf­ein­an­der­ge­hetzt“ wer­den, ist ihnen eines gemein­sam: Sie alle haben zu wenige Fach­kräfte. Dar­über waren sich die Ver­tre­ter der ver­schie­de­nen Gesund­heits­be­rufe einig.

Und wenn es so sein soll, dass nicht-ärzt­li­che Gesund­heits­be­rufe Leis­tun­gen im nie­der­ge­las­se­nen Bereich erbrin­gen, muss es dafür eine eigene Finan­zie­rung geben, die den Finanz­rah­men für ärzt­li­che Leis­tun­gen nicht schmä­lert, stellt Stein­hart unmiss­ver­ständ­lich klar. Froh­ner, die für Pfle­ge­fach­kräfte sehr wohl eine extra­mu­rale Berufs­aus­übung for­dert, stimmt Stein­hart zu: „Für Ärzte ist es natür­lich schwie­rig, Ange­hö­rige ande­rer Gesund­heits­be­rufe anzu­stel­len und zu finan­zie­ren.“ Auch die medi­zi­nisch-tech­ni­schen Dienste könn­ten the­ra­peu­ti­sche Ange­bote im extra­mu­ra­len Bereich zur Ver­fü­gung stel­len, schließt sich Gabriele Jaksch, Prä­si­den­tin von mtd-Aus­tria, dem Dach­ver­band der geho­be­nen medi­zi­nisch-tech­ni­schen Dienste in Öster­reich, an. „Wenn es ent­spre­chende Leis­tungs­ka­ta­loge und die nötige Finan­zie­rung gibt.“

Dis­kus­sion über Finanzierung

Und genau an der Finan­zie­rung hapert es, wie Stein­hart oft erlebt: „Egal mit wel­cher Idee die Ärz­te­kam­mer an die Poli­tik her­an­tritt: am Ende steht man immer vor der Finanz­de­batte.“ Nie­der­ge­las­sene Ärzte wären durch­aus bereit, Leis­tun­gen aus dem sta­tio­nä­ren Bereich abzu­fan­gen – mit län­ge­ren Öff­nungs­zei­ten und Wochen­end­diens­ten –, „aber von der Kran­ken­kasse wird es nicht abge­gol­ten“. Apro­pos Kran­ken­kasse: Will man die Pri­mär­ver­sor­gung aus­bauen und Pati­en­ten aus dem Kran­ken­haus in den nie­der­ge­las­se­nen Bereich ver­la­gern, braucht es schlicht mehr Kas­sen­or­di­na­tio­nen. Genauer gesagt: Es feh­len gut 1.300 nie­der­ge­las­sene Ärzte in Öster­reich, allein in Wien circa 300.

Wenn „alles hin­un­ter­ge­fah­ren wird und für nichts Geld da ist“ – wie kann man den Pati­en­ten dann sagen und glau­ben las­sen, dass sie alles, jeder­zeit, über­all und in höchs­ter Qua­li­tät bekom­men? „Die Ten­denz geht jeden­falls in eine andere Rich­tung und das muss man auch offen und ehr­lich sagen“, betont Stein­hart. An den Ärz­ten schei­tert PHC jeden­falls nicht; in Wien hat die Ärz­te­kam­mer bewie­sen, dass sie offen dafür ist, sol­che Pro­jekte pro­ak­tiv mit­zu­ge­stal­ten. Ob ein PHC-Gesetz bis Herbst die­ses Jah­res – noch vor der Eva­lu­ie­rung des Pilot­ver­su­ches – durch­ge­boxt wer­den kann, sieht Stein­hart skep­tisch: „Wir sind in lau­fen­den Ver­hand­lun­gen, aber im Moment sehe ich noch nicht, wo wir Boden unter den Füßen bekommen.“

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 13–14 /​15.07.2016