Kommentar – Karl Forstner: Entfremdung

10.06.2016 | Politik

An das Missgeschick des früheren Bundeskanzlers Alfred Gusenbauer, der das erwartete „Gesudere“ vor einem Treffen mit Gewerkschaftern allzu hörbar beklagte, werden sich vermutlich noch einige erinnern. Nun will und kann ich das Genusspotential dieses und vergleichbarer Gespräche nicht wirklich einschätzen, aber vielleicht gibt dieser Fauxpas doch einen diskreten Hinweis auf das Verhältnis der Politik zu den Menschen in diesem Land. Zumindest entsteht für viele Bürger der Eindruck einer in der Politik verbreiteten Haltung, die zwischen arroganter Abgehobenheit und verächtlichem Desinteresse oszilliert. Und so nimmt es auch nicht wunder, dass das immer wieder zu Wahlen aufgerufene Stimmvolk Vertrauen und Respekt in selbstgefällige Eliten zunehmend verliert.

Ich muss gestehen, dass ich die Nationalratsabgeordneten meines Bundeslandes Salzburg nur mit wenigen Ausnahmen namentlich kenne. Dies mag man mir vielleicht auch berechtigt zum Vorwurf machen. Zugegeben, ich könnte sie leicht recherchieren. Aber sollte es in einem funktionierenden demokratischen Staatskonstrukt nicht Aufgabe und Selbstverständlichkeit der politischen Repräsentanten sein, den Dialog mit den Bürgern sicherzustellen? Kaum einer der Gesundheitssprecher einer Parlamentspartei hat in den letzten Jahren das Gespräch mit den Landesärztekammern gesucht. Abgeordnete, die für das Gesundheitswesen richtungsweisende Entscheidungen treffen, finden in fünfjährigen Funktionsperioden offensichtlich nicht hinreichend Zeit und Motivation, mit Spitalsärzten vor Ort über deren Arbeitsbedingungen zu sprechen; es fehlt aber offensichtlich auch an der Bereitschaft oder am Interesse, sich mit den vielfältigen Problemen der niedergelassenen Ärzte im unmittelbaren Kontakt auseinander zu setzen. Die Beispiele ließen sich nahezu beliebig erweitern und hätten sich natürlich nicht nur auf Aspekte der ärztlichen Berufswelt zu beschränken. Ja, manches wäre wohl nicht angenehm, was es hier zu hören gäbe; vielleicht müsste man sogar mit dem einen oder anderen „Gesudere“ rechnen. Aber immerhin wären es die Anliegen und Sorgen derer, die man vorgibt, zu vertreten.

Aber selbst diese Ignoranz kann man überhöhen, indem man Diskurse systematisiert verweigert. So ist der weitgehende Ausschluss der Ärzteschaft vom Prozess der Entscheidungsfindung in der Fortentwicklung unseres Gesundheitssystems bizarrer Höhepunkt platter Selbstgefälligkeit. Die als Gesprächsbereitschaft zynisch maskierte Einbindung der Leistungserbringer beschränkt sich im Wesentlichen auf die interpretatorische Vermittlung dekretierter Vorgaben. Für politische Entscheidungsträger mag dieser Verzicht auf die Mühen der Dialektik einfach und verlockend sein, aber er erklärt auch nachvollziehbar die zunehmende Entfremdung der Ärzteschaft von der Politik.

Moderne Demokratien bedürfen zweifelsfrei entscheidungsfähiger und entscheidungswilliger Politiker; dafür verdienen sie auch unseren Respekt. Aber, der Name legt es nahe, es braucht auch ein respektiertes Volk. Diese Sicht scheint unseren politischen Eliten etwas aus dem Blick geraten.

Dr. Karl Forstner
1. Vizepräsident der ÖÄK,
Präsident der Ärztekammer Salzburg

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2016