Im Gespräch Waltraud Klasnic: Die Traumata sind aufgebrochen

10.04.2016 | Politik

Waltraud Klasnic, Opferschutzanwältin, zieht Bilanz: Den Opfern sexuellen Missbrauchs wurde geholfen, die Gesellschaft hat sich geändert, Kindern wird geglaubt, Fälle landen vor Gericht. Das Gespräch führte Claus Reitan.

ÖÄZ: Der Unabhängigen Opferschutzanwaltschaft wurden seit 2010 mehr als 1.800 Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen gemeldet, nahezu 1.500 wurden erledigt. Zusätzlich zu den Schicksalen und Fakten: Welche Bilanz ziehen Sie?
Klasnic: Ich sehe eine enorme Veränderung in der Gesellschaft. Aufgrund der Existenz der Opferschutzkommission haben sich die Kirche, die Länder und Bundesministerien sowie die Gemeinde Wien gefragt, was denn in ihren Zuständigkeits- und Aufsichtsbereichen geschehen ist. Damit ist der Anstoß, einiges aufzuarbeiten, in der Öffentlichkeit und vor allem in der Gesellschaft angekommen. Der überwiegende Anteil der Fälle sexuellen Missbrauchs ereignet sich nämlich in Familien. Zum Zweiten hat sich im pädagogischen Bereich vieles geändert. Die Kinder werden angehört, die Eltern glauben den Kindern und sie nehmen ihre Schutzfunktion wahr. Die Pädagoginnen und Pädagogen sind, von der Kinderkrippe bis zur Schule, wachsamer geworden. Das bedeutet noch nicht, dass es heute nicht zu derartigen Vorfällen kommt, nur werden sie jetzt vor Gericht gebracht. Das ist der große und bedeutsame Unterschied. Die Arbeit der Opferschutzkommission war also in mehrfacher Hinsicht notwendig und zielführend. Es wurden Ombudsstellen eingerichtet, wir haben die Vertreter der Diözesen und Länder an einen Tisch gebracht. Alle haben die von uns entwickelten Richtlinien übernommen. Es fehlt allerdings noch, die Plattform zur Prävention einzurichten.

Zu den Umständen dieser Vorfälle, ohne näher auf die Täter einzugehen: Wie konnten in kirchlichen und staatlichen Einrichtungen geschlossene Systeme entstehen, in denen Unterdrückung und Missbrauch der Kinder möglich war?
Die Betroffenen waren zum Großteil Kinder, die nicht besucht worden sind. Einige sind aus schwierigen sozialen Situationen heraus in Heime gekommen, bei anderen wollten die – gelegentlich sozial hoch gestellten – Eltern nur das Beste für sie. Ein weiteres Merkmal dieser Kinder ist, dass sie als besonders herzig galten, dass sie – völlig natürlich – die Nähe suchten und anschmiegsam waren. Dann hat ihnen ein Erwachsener Annehmlichkeiten angeboten, etwa ein besseres Essen, Musik zu hören oder für bessere Noten zu sorgen. So ist eine Beziehung entstanden. Diese Kinder haben die Beschuldigten einerseits innerlich abgelehnt, andererseits aber gemocht. Zum Teil bis heute noch.

Eine fatale Opfer-Täter-Abhängigkeit, an das Stockholm-Syndrom erinnernd.
Die Traumata brechen oftmals erst 20 oder 30 Jahre nach den Ereignissen auf. Den Opfern hatte man als Kinder entweder nicht zugehört oder nicht geglaubt. Einigen von ihnen hatte der jeweilige Täter eingeschärft, nichts zu erzählen. Die daraus resultierenden Angstzustände haben sich für manche der Betroffenen über Jahre hinweg fortgesetzt. Dann sind sie zu uns gekommen – und innerhalb von wenigen Minuten ist in Gesprächen alles aus ihnen herausgestürzt. Wir führten Hunderte solcher Gespräche. Therapie war dann der einzig richtige Weg.

Wie haben Sie und die Mitglieder der Opferschutzkommission das, womit Sie sich zu befassen und was Sie aufzulösen hatten, verarbeitet respektive verkraftet?
Der Kommission gehören – neben anderen bewährten Persönlichkeiten – zwei Psychiater und ein Psychologe an. Den Mitarbeiterinnen und den Mitarbeitern wurde Supervision angeboten, die genutzt wurde. Als meine Kräfte nach einem Jahr etwas nachließen, hat mir ein Psychiater seine bedingungslose und jederzeitige Hilfe angeboten. Die habe ich zwar nicht beansprucht, aber das Angebot hat mir unendlich geholfen.

Was zeigt Ihr Blick auf das Gesundheitswesen, mit dem Sie Zeit Ihres Berufslebens zu tun haben? Ist an den Strukturen etwas zu ändern, bei den Kosten etwas zu machen?
Österreichs Gesundheitssystem gehört im internationalen Vergleich zu den besten der Welt. Hier ist vieles selbstverständlich, was anderswo nicht angeboten wird oder für die meisten Menschen nicht leistbar ist. Überall, wo ich tätig bin, sehe ich, dass in den medizinischen Berufen sehr viel gearbeitet wird. Von der Ärzteschaft bis zu den Pflegenden. Sie haben ein hohes Können, sie sind alle sehr gefordert und arbeiten bis an die Grenzen des Möglichen. Über diese Berufsgruppen lasse ich nichts kommen. Damit ist noch nicht gesagt, dass keine Fehler passieren können. Bei den Strukturen ist, so meine ich, nicht alles in Ordnung. Es ist einiges zu tun, etwa hinsichtlich der Krankenkassen, wenn jemand in einem Bundesland gemeldet ist, aber in einem anderen ein Heil- oder Hilfsmittel benötigt. Oder bei den stark aufgesplitterten Zuständigkeiten für das Pflegewesen. Es ist möglich, bei den Baukosten zu sparen. Ich bin Vorsitzende des Aufsichtsrates des Elisabethinen Krankenhauses in Graz. Wir haben für den gegenwärtig modernsten Operationssaal bei den Baukosten eine Punktlandung hingelegt. Hier ist es möglich, zu sparen. Im personellen Bereich ist das hingegen schwierig.

Zahlreiche in Österreich ausgebildete Mediziner sind in Deutschland oder in der Schweiz tätig. Das ist ein Braindrain und ein Export von Ressourcen.
Von dem ich hoffe, dass er sich mit Heimweh verbindet. Auslandsaufenthalte sind hilf- und lehrreich, denn die Rückkehrer bringen neues Wissen und neue Erfahrungen mit. Wir werden in den nächsten Jahren in Österreich Ärzte benötigen, vor allem praktische Ärzte. Hier ist ebenfalls bei den Strukturen anzusetzen, um den Bedarf zu decken.

Das Gesundheitswesen und die Sozialpolitik stehen vor einigen Herausforderungen …
… bei Hospiz und um Palliative-Care, meinen wesentlichen Aufgaben. Als Präsidentin des Dachverbandes Hospiz Österreich wurde ich mit Elisabeth Pittermann von der Bundesregierung als Koordinatorin bestellt, um eine Plattform zu schaffen. Mit dieser soll es uns beiden gelingen, bis zum Jahr 2020 eine Regelfinanzierung für das Hospizwesen und für Palliative-Care zu entwickeln. Das ist Regierungsprogramm und in jenen 51 Punkten enthalten, welche die Parlamentarische Enquete-Kommission „Würde am Ende des Lebens“ nach vier Anhörungen verabschiedet hat. Es bestehen zu viele und zu große Lücken in der Versorgung. In konkreten Projekten, teils von der EU mitfinanziert, bringen wir Hospiz und Palliative-Care in Pflegeheime. Die Mitarbeiter werden in die Entwicklungsprozesse eingebunden und erleben dann, dass ein Patient in den letzten drei Wochen seines Lebens nicht mehr fünf Mal zwischen Stationen hin und hergeführt wird. Das ist ja ebenfalls eine Frage der Würde.

Um bei der Gesundheit zu bleiben: Was ist das Gesündeste an Ihrem Leben?
Die Einstellung zum Leben, mein Zugang zum Leben. Es ist die Lebensfreude, die gesund erhält. Es gibt Wehwehchen, und irgendetwas passiert immer. Krankheiten sind behandelbar. Aber Hoffnung ist erlaubt. Man darf hoffen. Lediglich zu jammern und nichts zu tun, ist inakzeptabel. Jeder Mensch wird gebraucht, aber er muss sich einbringen. Jeder hat gelegentlich das Gefühl, etwas nicht zu schaffen. Daher benötigt man für das Leben ein Fundament und einen Menschen, an den man sich anlehnen kann. Ich werde immer ein positiv denkender Mensch bleiben. Selbst wenn ich die Welt erkenne und sehe, dass sie nicht heil ist. Wir sollten an die nächste Generation glauben und ihr sagen, dass es sich lohnt, für diese Welt etwas zu tun. Und die Älteren müssen mittun.

Heilt die Zeit alle Wunden?
Viele. Aber man soll sich nicht ständig mit offenen Punkten aus der Vergangenheit beschäftigen. Das ergibt keinen Sinn. Ich blicke stets nach vorne. Das bedeutet jedoch nicht, ich hätte alles vergessen. Es gibt einige Verletzungen, aber jene Personen, die einem das eine oder andere zugefügt haben, sind ebenfalls nur Menschen. Auch in deren Leben hat alles seinen Preis. Ein Blick zurück zeigt übrigens manches in einem anderen, milderen Licht, in der Güte der Abendsonne.

Zur Person

Waltraud Klasnic ist heute weiterhin in der Sozialpolitik engagiert und kann auf eine außerordentliche politische Karriere zurückblicken. Diese begann 1970 in der Österreichischen Frauenbewegung (ÖVP) in der Steiermark. Die Unternehmerin war 3. Landtagspräsidentin, Landesrätin für Wirtschaft, Tourismus und Verkehr und von 1996 bis 2005 Landeshauptfrau der Steiermark und Obfrau der Steirischen Volkspartei, anschließend Mitglied des Ausschusses der Regionen Europas sowie des Wirtschafts- und Sozialausschusses.

Zu den Mandaten übernahm sie weitere Aufgaben. Klasnic war für die Katastrophenhilfe Österreichischer Frauen tätig, von 2006 bis 2009 Vorstandsvorsitzende des Hilfswerk Austria, von 2006 bis 2011 Vorsitzende des Kuratoriums des Zukunftsfonds der Republik Österreich. Seit 2008 ist sie Präsidentin des Dachverbandes Hospiz Österreich, seit 2010 leitet sie die Unabhängige Opferschutzanwaltschaft. Diese und die Unabhängige Opferschutzkommission ergreifen und beschließen Maßnahmen und Initiativen – insbesondere auch finanzielle und therapeutische – im Interesse von Betroffenen, die im Kindes- oder Jugendalter Opfer von Missbrauch oder Gewalt in Kirche oder Gesellschaft geworden sind.

Die Bundesregierung beauftragte Klasnic vor wenigen Wochen, gemeinsam mit Elisabeth Pittermann das Hospiz- und Palliativkoordinationsforum einzurichten, um das Hospizwesen und Palliative Care auszubauen sowie Modelle für ihre Finanzierung zu entwickeln.

Buchtipp:

Missbrauch und Gewalt –
Erschütternde Erfahrungen und notwendige Konsequenzen

Klasnic, Waltraud (Hg.); Leykam Graz, 2013; 191 Seiten

Ausgangspunkt dieses Buches ist die Tätigkeit der Opferschutzanwaltschaft und der Opferschutzkommission zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche. Es werden Aussagen dokumentiert, Aspekte der Opfer- und der Täterseite des gesamtgesellschaftlichen Phänomens des Kindesmissbrauches beleuchtet sowie Perspektiven und Initiativen der Prävention vorgestellt.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2016