Im Gespräch – Barbara Frischmuth: Woran unsere Zeit krankt

25.10.2016 | Politik

Die österreichische Schriftstellerin Barbara Frischmuth wurde mit Romanen und Erzählungen berühmt, kennt die Türkei und den Islam. Die Konstitution des Menschen ist dem Tempo der Digitalisierung nicht gewachsen, sagt sie im Gespräch mit Claus Reitan. Und sie nennt einige Bücher, deren Lektüre dem Verständnis unserer Zeit dienlich ist.

ÖÄZ: Was sollte man lesen – oder gelesen haben – um unsere Zeit zu verstehen?
Frischmuth: Literatur, um unsere Zeit zu verstehen? Zu diesen Werken gehört jenes des jungen irakischen Autors Abbas Khider ‚Die Ohrfeige‘, das sich mit Flucht befasst. Ebenso das Buch der in Kalkutta geborenen, als Übersetzerin in Frankreich lebenden Autorin Shumona Sinha, mit dem nach einer Baudelaire-Zeile gewählten Titel ‚Erschlagt die Armen‘. Sie schildert darin, wie Frankreichs Behörden mit Asylwerbern verfahren. Um die Türkei zu verstehen, empfiehlt sich auch Orhan Pamuks neuer Roman ‚Diese Fremdheit in mir‘. Darin erzählt er von der enormen Binnenmigration in der Türkei. Als ich in den 1960er Jahren erstmals in Istanbul war, hatte diese Stadt 1,5 Millionen Einwohner, etwas weniger als Wien. Heute leben dort laut Register 16 Millionen Menschen, geschätzt jedoch rund 18 Millionen.

Flucht und Migration als Themen unserer Zeit …
Mit Interesse las ich ‚Ausgrenzungen‘ von Saskia Sassen. Sie schildert darin die Ausgrenzung von Menschen durch Armut, durch Raub an der Natur und der Ressourcen, insgesamt alles, was heute eine wesentliche Rolle spielt und worauf man daher die Aufmerksamkeit lenken sollte. Für das Verständnis unserer Zeit erscheint mir weiters ‚Technologischer Totalitarismus‘ von Frank Schirrmacher besonders wichtig zu sein.

Die Gegenwart ist von Digitalisierung geprägt. Krankt sie daran?
Ja, natürlich. Die Digitalisierung macht das Leben nicht einfacher, im Gegenteil, sie verursacht mehr an Stress. Die Menschen stehen ständig unter Stress. Ich kann es mir leisten, das mobile Telefon zur Seite zu legen und nur einmal am Tag in das Internet zu blicken. Die Menschen sind ständig einem Ansturm an Nachrichten ausgesetzt, der sie in Freude oder in Aufregung versetzt. Doch der Mensch ist dem von seiner Konstitution her nicht gewachsen. Es ist zu viel, zu schnell, zu dicht, es ist zu viel Schrott und Müll, der verbreitet wird. Alle fühlen sich überlastet, jeder jammert, keiner hat Zeit, viele sind in ein Burn-Out geraten. Es wirkt zu vieles auf uns ein, in der Dichte der Reize kommt es zu einer Entmenschlichung. Wir sind in eine Falle getappt und wissen nicht, wie wir mit dieser Lage jetzt umgehen sollen. Wir wissen übrigens ebenso nicht, was mit unseren Daten geschieht und wer damit welche Beträge verdient. Daher erscheint mir die Lektüre der von Frank Schirrmacher verfassten und der von ihm herausgegebenen Texte so wichtig zu sein.

Es hilft also, zu lesen?
Mir jedenfalls. Und ich hoffe, dass Lesen vielen Menschen dient, vor allem den Jüngeren, damit diese aus dem digital vermittelten Mainstream herausfinden. Sie erhalten dort stets mehr vom Selben und vermeinen zugleich, die erhaltene Information sei vielfältig, was natürlich nicht stimmt.

Vor dem Hintergrund von Geschichte und Literatur betrachtet, werden die Debatten um die Türkei und den Islam in grober Vereinfachung geführt, oder?
Es steckt tief im Wesen des Menschen, sich die Welt und das Leben in einfachen Kategorien zurechtzulegen. Es gab immer Zeiten, in denen Völker nicht in Frieden leben konnten. Dies hat unter anderem mit der Konstitution des Menschen zu tun. Wir sind nicht besser, wie die Weltkriege zeigen. Gelegentlich gibt es Auslöser, die das tief im Menschen Liegende zum Vorschein bringen. Das beobachten wir gegenwärtig. Die große Frage ist, wie damit umzugehen ist, damit es nicht zu einem Ausbruch kommt.

In der politischen Auseinandersetzung, etwa zwischen Österreich und der Türkei, wurden auf Geheiß aus Ankara die archäologischen Arbeiten in Ephesos still gelegt. Das ist doch irrational.
Das ist tatsächlich eine furchtbare Angelegenheit. Aber als in deutschsprachigen Medien verbreitet wurde, in der Türkei würden Kinder zu Sex gezwungen, waren sogar die weltoffenen und loyalen Mitarbeiter der österreichischen Leiterin in Ephesos, Sabine Ladstätter, zutiefst gekränkt. Das Heiratsalter beträgt in der Türkei 16 und 18 Jahre. Die Menschen in der Türkei, die ihre Souveränität hart erkämpfte, haben das auf ihre Ehre bezogen. Diese Stilllegung in Ephesos durch die Türkei ist schlicht die emotionale Reaktion eines omnipotenten Staatsoberhauptes und seiner Entourage. Diese Thematik ist besonders schwierig, weil den Gebildeten schmerzlich bewusst ist, dass die Türkei ihre historischen Positionen als Weltreich sowie in Wissenschaft und Technik verloren hat. Darin liegt übrigens einer der Gründe dafür, dass das Schicksal der Muslime in eine fatale Sackgasse geraten ist. Einige Theologen arbeiten an der Universität Ankara an einer Modernisierung des Islam, aber es ist eine gefährliche Aufgabe.

Wie lautet Ihre Einschätzung zum Gesundheitswesen, zur gegenwärtigen
politischen Lage?

Österreichs Gesundheitswesen ist im Vergleich mit anderen Ländern sehr gut, allerdings sehr teuer. Bedenklich an der Politik ist, wie sehr die großen demokratischen Parteien doch abgewirtschaftet haben, ihre Streitigkeiten führen und kaum mehr etwas zustande bringen. Zahlreiche Versprechungen wurden nicht gehalten, das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik ist verloren gegangen. Die übermäßige Regulierung bis hin zu den Vorschriften über die Art der Registrierkassen irritiert sehr viele Menschen. Zu viele Regeln etwa im Asylwesen bestimmen, was nicht getan werden darf. Junge Asylwerber sind zu lange untätig, woraus nichts mehr entstehen kann. Aus Frustration erwächst vielmehr Gewalt.

Ein Themenwechsel von der Politik zur Persönlichkeit: Was ist das Gesündeste an ihrem Leben?
Ich fühle mich geradezu verpflichtet, meinen Körper gut zu behandeln, damit ich literarisch arbeiten kann. Zu schreiben erfordert viel an Aufmerksamkeit in der Beobachtung, es benötigt viel an Energie und an Konzentration. Ich arbeite mit Erinnerungen und mit Assoziationen, die aus der Tiefe kommen. Schreiben ist eine Sache der Konzentration, es ist sehr anstrengend. Also komme ich meinem Körper entgegen. Im Alter von 50 Jahren habe ich aufgehört zu rauchen, denn beim bergwärts Gehen kam ich ins Schnaufen. Mit 50 Jahren sollte man übrigens keinen Kater mehr haben. Zucker und Limonaden sind gestrichen, bezüglich der Lebensmittel bin ich achtsam. Ich wünsche nicht, dass mir mein Gewicht zum Thema wird, halte allerdings nichts von einschlägigen Diäten. Wesentlich sind die üblichen Dinge, gut zu schlafen und ausreichend Bewegung zu machen. Ich habe kein Auto, ich wohne am Berg und dorthin führen keine öffentlichen Verkehrsmittel, also bewege ich mich viel, zudem auch im Garten. In jenen sieben Monaten, in denen das nicht möglich ist, gehe ich zumindest eine Stunde pro Tag. Das tut meinem Kopf ganz gut. Vor einigen Jahren übrigens hatte ich schon befürchtet, wegen Rückenschmerzen nicht mehr im Garten arbeiten zu können. Eine Physiotherapeutin zeigte mir Übungen, die ich jeden Tag machen sollte, zehn Minuten, dann hätte ich niemals mehr diese Schmerzen. Anfänglich war ich skeptisch, denn Schmerzen machen einen Menschen skeptisch. Die Übungen mache ich – und habe seither keine Schmerzen mehr.

Ihre Protagonistin Anna in ‚Die Schrift des Freundes‘ sagt sich: „Wer die Menschheit als solche in den Blick nimmt, möchte sich das Menschsein gleich abgewöhnen.“ Sie sehen das so?
Die Figur Anna möchte jedenfalls nicht zu jenen Menschen gehören, die hier in den Blick genommen wurden und auf die sich das bezieht.

Zur Person

Barbara Frischmuth, 1941 in Altaussee geboren, studierte Türkisch, Ungarisch und Orientalistik. Sie lebt als Schriftstellerin in Altaussee. Sie war von dessen Beginn an Mitglied des Forum Stadtpark und auch Mitglied der Grazer Gruppe. 1961 las sie im Forum Stadtpark erstmals aus eigenen Werken, 1967 erschien ihre erste Übersetzung, 1968 bei Suhrkamp ihr Debüt ‚Die Klosterschule‘, dem zahlreiche Romane, zwei Trilogien, Erzählungen und Essays folgten.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2016