Diabetes weltweit: Das Vermächtnis des Westens

10.02.2016 | Politik

Weltweit ist Diabetes auf dem Vormarsch und erreicht immer mehr Schwellenländer. Da die jeweiligen Gesundheitssysteme teils strukturschwach sind, stellt der Umgang mit der Krankheit eine immense Herausforderung dar. Vor allem China, Indien und Mexiko kämpfen mit einer wahren Diabetes-Epidemie. Von Nora Schmitt-Sausen

Dass Tuberkulose, Malaria und HIV/Aids in Entwicklungsländern besonders häufig vorkommen, ist bekannt. Dank des medizinischen Fortschritts und der verbesserten Versorgung, mehr Aufklärung und viel westlicher Hilfe sind diese Erkrankungen vielerorts auf dem Rückzug. Doch mit der wirtschaftlichen Entwicklung einiger Weltregionen, der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung sowie der Aneignung des westlichen Ernährungsstils und der Lebensgewohnheiten breiten sich chronische Erkrankungen rasant aus: derzeit brandaktuell Diabetes. Die Zahl der Diabetes-Fälle steigt in einigen Regionen der Welt kontinuierlich und die betroffenen Staaten sind nicht oder nur schwer in der Lage, die Krankheit zu managen, wie es Staaten der westlichen Welt gelingt. Häufig wird die Krankheit gar nicht diagnostiziert, der schwierige Zugang zu Versorgung, Medikamenten-Mangel und wenig bis keine Prävention tun ihr Übriges, um die Probleme zu verschärfen – von den hohen Kosten, die Diabetes mellitus verursacht, ganz zu schweigen.

Die rasche Verbreitung der Krankheit in der Welt ist alarmierend; die Zahl der Betroffenen muss stetig nach oben korrigiert werden. Die International Diabetes Foundation wies im Jahr 2003 weltweit 194 Millionen Diabetes-Fälle aus, zehn Jahre später bereits 382 Millionen. Die Prognosen für 2035 sind verheerend: Bis dahin könnte es 592 Millionen Betroffene geben. Diese rasante Entwicklung ist fast ausschließlich auf Typ 2-Diabetes zurückzuführen.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist längst alarmiert und warnt ebenfalls vor der weiteren Ausbreitung von Diabetes. Schon jetzt leben Schätzungen zufolge 387 Millionen Menschen weltweit mit der Krankheit, der überwiegende Teil in Ländern mit geringem oder mittlerem Einkommen. 1,5 Millionen Menschen sind im Jahr 2012 an den direkten Folgen von Diabetes gestorben – vor allem in wirtschaftlich schwächeren Regionen.

WHO: dringender Handlungsbedarf

Anlässlich des Welt-Diabetes-Tages im November 2015 forderte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Weltbevölkerung dazu auf, gesünder zu leben, um Diabetes zu bekämpfen. Die Regierungen müssten dafür Sorge tragen, dass die Werbung für ungesundes Essen reduziert wird und sicherstellen, dass die Versorgung der Kranken in den Gesundheitssystemen gewährleistet sei. Die WHO weiß, dass dringender Handlungsbedarf besteht. Sie prognostiziert, dass Diabetes bis zum Jahr 2030 an siebenter Stelle der Mortalitätsstatistik stehen wird. Um das Bewusstsein für die Krankheit und ihre verheerenden Auswirkungen zu stärken, wird die Organisation ihren jährlichen World Health Day im April in diesem Jahr dem Thema Diabetes widmen.

In einigen Regionen der Welt ist die Lage besonders schlecht. Vor allem in China ist das Problem „Diabetes“ eskaliert und zu einer zentralen Krise für die öffentliche Gesundheit geworden. Die dramatische Dimension des Problems zeigte sich 2013 mit der Veröffentlichung einer landesweiten Erhebung im Journal der American Medical Association. Dabei wurde gezeigt, dass die Lage noch gravierender war als bis dato angenommen wurde. 114 Millionen Chinesen leiden der Befragung zufolge an Diabetes – das sind 11,6 Prozent der erwachsenen Bevölkerung des Landes. China ist mit diesen Fakten trauriger Spitzenreiter in der Welt und vereint einen großen Teil aller weltweiten Diabetes-Fälle auf sich. Als zentraler Grund für die Entwicklung werden veränderte Ernährungs- und Lebensgewohnheiten genannt, die im Zuge des wirtschaftlichen Aufstieges Chinas im Land Einzug gehalten haben. Erschwerend kommt hinzu, dass Chinesen die Krankheit schneller entwickeln als zum Beispiel Amerikaner. China wird erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen, um das Problem zu beheben und sieht sich bereits jetzt mit enormen Kosten konfrontiert. Prognosen besagen, dass China bis 2030 jährlich 60 Milliarden US-Dollar aufbringen wird müssen.

Die Autoren von „The Lancet“, die sich im Jahr 2014 in einer umfassenden, mehrteiligen Analyse der Diabetes-Problematik in China annahmen, resümieren: „In einem Land, das von wirtschaftlichem Erfolg zu Erfolg eilt, kann die Diabetes-Epidemie jetzt als messbare Hürde zur Erreichung des weiteren Wachstums und der Stabilität angesehen werden. Zusätzlich zu den Effekten für die überalternde Bevölkerung betrifft das Problem auch eine wachsende Zahl von jungen Menschen, bei denen sich auffallend Produktivität und Lebensqualität reduzieren.“ Die Autoren machen mehrere Faktoren als Grund für die Negativ-Entwicklung aus. „Das eskalierende Problem des Diabetes in China muss im Zusammenhang mit einem Gesundheitssystem gesehen werden, das im Laufe von Chinas wirtschaftlichem Wandel eine Reihe von Reformen durchlaufen hat, und das noch viele Herausforderungen bewältigen muss. Darüber hinaus ist das Bewusstsein für Diabetes gering und ausbleibende Diagnosen und Unterversorgung sind zentrale Probleme.“

Präventionsprogramme

Gleichwohl wird den Chinesen, deren Gesundheitssystem sich kontinuierlich verbessert, zugetraut, die große Herausforderung zu meistern. Entscheidende Faktoren seien das Aufsetzen von Präventionsprogrammen, Bewusstseinskampagnen und eine auf das moderne China zugeschnittene Gesundheitspolitik.

Ein weiteres großes Sorgenkind ist Indien. Das Land mit einer Bevölkerung von 1,2 Milliarden Menschen hat sich besonders in der jüngeren Vergangenheit rapide entwickelt – und insbesondere in den Städten hat der westliche Lebensstil Einzug gehalten. Viele Inder arbeiten inzwischen im Sitzen, in Büros, Banken und Call Centern. Sie essen mehr Take Away-Food und nehmen grundsätzlich kalorienreicheres und fettigeres Essen zu sich als früher. Das hat Folgen: Nach Angaben der International Diabetes Foundation leben in Indien heute 65 Millionen Erwachsene mit Diabetes. Tendenz steigend. Bis 2035 wird mit 109 Millionen Betroffenen gerechnet. In Indien sind es vor allem Heranwachsende und Kinder, da sie überproportional für die Essgewohnheiten aus dem Westen zu begeistern sind.

Die Folgen sind auch hier immens, da das staatliche indische Gesundheitssystem fragmentiert und weitestgehend unreguliert ist. Die wenigen öffentlichen Gelder fließen vor allem in die Bekämpfung von Infektionskrankheiten, das Versorgungsniveau ist grundsätzlich niedrig. Gesundheitskosten werden deshalb überwiegend in private Einrichtungen getragen. Das heißt: Für den Fall, dass die Krankheit diagnostiziert wird, müssen Betroffene die Behandlungskosten aus eigener Tasche bezahlen. Bei Erwachsenen drohen Verdienstausfall und im Fall einer erst spät oder gar nicht erfolgten Diagnose Komplikationen mit zusätzlichem Behandlungsbedarf und noch höheren Kosten. In Indien wirkt sich dies besonders fatal aus, denn nicht selten ernährt eine einzelne Person eine ganze Familie. Die Erkrankung wird neben einem Gesundheits- zu einem Existenzrisiko.

Mexiko: Steuer auf Softdrinks

Auch Mexiko macht seit einiger Zeit Negativ-Schlagzeilen. Hier wurde ein treibender Faktor der steigenden Diabetes-Zahlen identifiziert: der massive Konsum von Softdrinks. Viele Mexikaner trinken täglich Coca Cola und Co aus Bechern im XXL-Format; auch Kleinkinder trinken Cola aus dem Fläschchen.

Offizielle Statistiken zeigten bereits im Jahr 2006, dass Diabetes ein massives Problem im Land ist. Allein zwischen 2000 und 2006 hat sich die Zahl der Kranken verdoppelt. Mehr Mexikaner sterben an Diabetes als aus irgendwelchen anderen Gründen. Mexikaner gehören zu den fettleibigsten Menschen weltweit. Neben den kalorienhaltigen Getränken spielt auch die Ernährung eine gewaltige Rolle. Viele Mexikaner haben sich von der ursprünglichen Ernährung abgewandt. Statt Bohnen und Reis kommen immer mehr industriell gepackte Produkte wie Kuchen und Donuts auf den Tisch. Selbst in abgelegenen Dörfern sind die Produkte erhältlich – und noch dazu für wenig Geld. In und außerhalb von Mexiko warnen Experten, das Diabetes-Problem könnte zum Zusammenbruch des mexikanischen Gesundheitssystems führen.

Seit die Ausbreitung und die Gefahren von Diabetes bekannt sind, hat sich die mexikanische Regierung in den Kampf gegen die Krankheit eingeschaltet. Kernelemente der bisherigen Maßnahmen waren die Aufklärung der Öffentlichkeit, das Schaffen von Anreizen für Verhaltensänderungen sowie striktere Werberegeln – und: die Einhebung einer Steuer auf zuckerhaltige XXL-Softdrinks. Dieser Schritt brachte Mexiko die Aufmerksamkeit und Anerkennung internationaler Gesundheitsfachleute sowie auch von anderen Regierungen ein. Seit 2014 ist die Steuer nun in Kraft – und zeigt langsam Wirkung. Die Verkaufszahlen von Softdrinks gehen seit dem Vorjahr zurück.

Regional unterscheiden sich die Zahlen der von Diabetes mellitus Betroffenen derzeit noch teils erheblich. Circa 140 Millionen Menschen mit Diabetes leben allein in der Region westlicher Pazifik, zu der auch China gehört. Mit 19,8 Millionen Diabetikern weist Afrika die geringste Zahl auf. Allerdings rechnet man in dieser Weltregion damit, dass sich die Zahlen bis 2035 verdoppeln. Im Hinblick auf die Prävalenz von Erwachsenen mit Diabetes haben der Mittlere Osten und Nordafrika mit 10,9 Prozent die höchste Rate (alle Zahlen: Stand 2013).

Als zentraler Ausweg für das Problem wird weltweit verstärkte Prävention gesehen. In erster Linie sollen in den betroffenen Ländern ein gesunder Lebensstil und die Sensibilisierung für mehr Bewegung gefördert werden. Eine Aufgabe wird es sein, überhaupt ein Bewusstsein für die Krankheit und ihre Gefahren zu schaffen; dieses ist in vielen der betroffenen Länder noch nicht vorhanden. Bei der Therapie von Diabetes ergeben sich weitere Probleme: Die Strukturen von vielen Gesundheitssystemen sind nicht darauf ausgerichtet, Patienten mit chronischen Erkrankungen zu behandeln. Außerdem hängt die medizinische Forschung in vielen der betroffenen Länder noch hinterher; westliche Therapieansätze können nicht immer ohne weiteres bei Menschen aus nicht-westlichen Kulturkreisen angewendet werden.

Positive Entwicklungen in den USA

Erfreuliche Nachrichten gibt es inzwischen aus dem Land, das für viele das Mutterland des Diabetes ist: den USA. Nach Jahrzehnten des starken Anstiegs ist die Zahl der Neuerkrankungen aktuell erstmals rückläufig. Die Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC) legte Ende des vergangenen Jahres Zahlen vor, die Grund zur Hoffnung geben. Demnach gab es in den USA im Jahr 2014 lediglich 1,4 Millionen neue Diabetes-Fälle; 2008 waren es noch 1,7 Millionen.

„Es scheint ziemlich sicher, dass die Raten nun tatsächlich zu fallen begonnen haben“, sagte Edward Gregg, einer der führenden Diabetes-Forscher am CDC der New York Times. Noch sei jedoch unklar, ob verstärkte Präventionsbemühungen zu dem Rückgang geführt haben oder ob schlicht der Peak der Krankheit erreicht sei, berichtet die Zeitung unter Berufung auf Gesundheitsexperten. In jedem Fall passe die Entwicklung zu Berichten über eine grundsätzlich verbesserte Gesundheit der Amerikaner – etwa im Hinblick auf Essgewohnheiten.

Allerdings: Noch immer sind die Gesamt-Zahlen der Diabetes-Kranken in den USA ausgesprochen hoch. Einer von zehn erwachsenen Amerikanern leidet an Diabetes mellitus. Außerdem ist zu beobachten, dass die rückläufigen Erkrankungszahlen überwiegend in besser gebildeten Kreisen zu verbuchen sind.

Diabetes in Österreich

Die Versorgungskosten eines Menschen mit Diabetes mellitus liegen je nach dem Vorhandensein von Folgekrankheiten um 30 bis 400 Prozent über jenen eines Nicht-Diabetikers.

Nach Angaben der Österreichischen Diabetes Gesellschaft ist die Zahl der Diabetiker in Mitteleuropa seit 1998 um circa 40 Prozent gestiegen. Demnach gibt es in Österreich derzeit 600.000 Menschen, die an Diabetes mellitus erkrankt sind. Prognosen besagen, dass es im Jahr 2030 mehr als 800.000 Betroffene geben wird; 85 bis 90 Prozent aller Diabetiker sind Typ-2-Diabetiker.

Die direkten Kosten des Diabetes und seiner Folgekrankheiten in Österreich werden auf 4,8 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Alle 50 Minuten stirbt in Österreich ein Mensch an den Folgen der Erkrankung; das sind 10.000 Menschen im Jahr. Die meisten Todesfälle sind auf Herzinfarkt und Schlaganfall zurückzuführen.

Jedes Jahr werden in Österreich 2.500 Amputationen an Patienten mit Diabetes mellitus vorgenommen. Damit ist die Krankheit für 62 Prozent aller Amputationen im Land verantwortlich. Jährlich werden 300 Menschen mit Diabetes wegen ihres Nierenversagens dialysepflichtig. Das sind 26 Prozent aller Patienten, die neu dialysepflichtig werden. Als Folge von Diabetes mellitus erblinden in Österreich jedes Jahr 200 Menschen.

Quelle: Österreichische Diabetes Gesellschaft

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2016