Darmkrebsvorsorgeprogramm: Großes Einsparpotential durch mehr Vorsorge

10.04.2016 | Politik

Beeindruckend sind nicht nur die Teilnahmeraten und Ergebnisse des Vorarlberger Darmkrebsvorsorgeprogramms – beeindruckend ist auch die dadurch mögliche Kostenersparnis im Gesundheitswesen. Einer aktuellen Studie zufolge sind dies bis zu 4,5 Milliarden Euro – bei österreichweiter Umsetzung des Programms.

Wien ist anders – wurde lange Zeit an den Haupteinzugsstraßen der Bundeshauptstadt plakatiert. Geht es um die Vorsorge, gilt: Vorarlberg ist anders. War das Ländle in punkto Vorsorge diesbezüglich schon immer ein Paradebeispiel, stellt es nun mit dem Darmkrebsvorsorgeprogramm seine Vorreiterrolle neuerlich unter Beweis.

Zu den Zahlen: Nimmt man allein die Teilnahmerate, zeigt sich ein signifikanter Unterschied zum Bundesschnitt: Während im Vergleichszeitraum österreichweit bei 6,7 Prozent der Bevölkerung eine dokumentiert qualitätsgesicherte Vorsorge-Koloskopie durchgeführt wurde, lag die Teilnahme in Vorarlberg zwischen Februar 2007 und Dezember 2015 bei 26,2 Prozent der Zielbevölkerung der über 50-Jährigen (insgesamt: 116.435 Personen). Insgesamt wurden in Vorarlberg 30.501 Vorsorgekoloskopien durchgeführt; davon 54,4 Prozent bei Frauen. 80,5 Prozent der Untersuchten sind zwischen 50 und 70 Jahre alt.

Vor der Einführung der Vorsorgekoloskopie in Vorarlberg erfolgte die Diagnose Colorectalkarzinom bei jedem zweiten Patienten bereits im Stadium der Metastasierung. Seit Beginn des Programms im Februar 2007 wurden nur 8,7 Prozent der Fälle im Stadium der Metastasierung diagnostiziert. Die Kosten für eine Behandlung bei Darmkrebs im Stadium IV betragen für die Chemotherapie 235.693 Euro pro Patient. 30 Prozent aller Patienten im Stadium IV haben eine 50-prozentige Chance auf Heilung durch eine Lungen-/Leber-Operation. Die geschätzten Kosten pro Eingriff betragen 7.636 Euro (für eine Lungen-Operation) beziehungsweise 12.280 Euro (für eine Leber-Operation) pro Eingriff. Schon allein aufgrund dieser Zahlen lässt sich ermessen, wieviel menschliches Leid erspart und welche Kosten durch ein Vorsorgeprogramm vermieden werden können.

Studie: Vorsorge bringt Vorteile

Die ökonomischen Auswirkungen eines österreichweiten Darmkrebsvorsorgeprogramms haben Agnes Streissler-Führer und Daniel Kon berechnet. Dabei wurden – neben den Kosten für die Behandlung und Pflege – noch weitere Faktoren berücksichtigt und anhand zweier Modelle berechnet: 1) nach dem Humankapitalansatz mit Einkommens-/Erwerbsverlust der aktiven Bevölkerung und 2) nach dem Zahlungsbereitschaftsansatz: Dieser berücksichtigt auch die Konsumdaten von erwerbsuntätigen Personen – wie beispielsweise Pensionisten.

Der volkswirtschaftliche Nutzen der Darmkrebsvorsorge ist evident. Demnach könnten beim Humankapitalansatz zwischen 736 Millionen und 1,3 Milliarden Euro eingespart werden – davon im Gesundheitsbereich zwischen 265 bis 468 Millionen Euro (= 36 Prozent Einsparung). Beim Zahlungsbereitschaftsansatz wiederum könnten zwischen drei und 4,5 Milliarden Euro eingespart werden; davon zwischen 810 Millionen bis 1,2 Milliarden im Gesundheitsbereich (= 27 Prozent).

Die Kosten für die qualitätsgesicherte Koloskopie betragen im zehnten Jahr – auf diesen Zeitraum wurde die Berechnung angelegt – 33 Millionen Euro. Für die in diesem Zeitraum auftretenden Diagnosen und notwendigen therapeutischen Maßnahmen wie etwa Chemotherapie oder Operation sind 25 Millionen Euro zu veranschlagen.

Auf Diagnosen umgelegt heißt das: Nach zehn Jahren Koloskopie-Programm wäre die Prävalenz des Colorectalkarzinoms bei 242 Fällen; ohne Programm bei 1.830. Nach zehn Jahren könnte die jährliche Prävalenz einer Diagnose im Stadium IV um rund 1.600 Betroffene verringert werden. Bei einer längeren Laufzeit des Darmkrebsvorsorgeprogramms – und einer flächendeckenden Umsetzung – ist davon auszugehen, dass jährlich bis zu 2.500 Diagnosen „Colorektalkarzinom“ im Stadium IV weniger erfolgen.

Auswirkungen hätte ein solches Vorsorgeprogramm auch auf die Zahl der Frühpensionierungen: Nach zehn Jahren könnten jährlich zwischen 500 bis 900 darmkrebsbedingte Frühpensionierungen verhindert werden.

Vorarlberg: die Ergebnisse

  • Normalbefund: 56,2 Prozent (17.142 Personen)
  • Benigne Polypen: 42,0 Prozent (12.822 Personen)
  • Krebsvorstufen: 1,3 Prozent (387 Personen)
  • CRC: 0,5 Prozent (150 Personen); 73 Prozent im frühen Stadium I und II

Drei Fragen an Michael Jonas
Präsident der Ärztekammer Vorarlberg

Je mehr Teilnehmer, umso höher ist der volkswirtschaftliche Nutzen – das ist einer der Gründe, wieso Michael Jonas für eine rasche flächendeckende Umsetzung des Darmkrebsvorsorgeprogramms plädiert.

ÖÄZ: Wieso können durch die Vorsorgekoloskopie Kosten eingespart werden?

Jonas: Es kommt zu einem Shift bei der Erkennung. Anstelle von Spätstadien erkennen wir ein Colorektalkarzinom in einem Frühstadium. Damit ist einerseits eine Heilung möglich und andererseits können die hohen Behandlungskosten, die üblicherweise im Stadium IV anfallen, verhindert werden. Dass das möglich ist, haben wir in Vorarlberg bewiesen.

Wovon hängt der Einspareffekt ab?
Der volkswirtschaftliche Nutzen ist umso höher, je höher die Teilnehmerrate. Durch Aufklärung und Überweisung haben wir in Vorarlberg eine Teilnahmerate von 26 Prozent in der Zielbevölkerung, bei den über 50-Jährigen zustande gebracht. Nicht nur das: Die Qualitäts-Parameter in Vorarlberg umfassen alle internationalen Vorgaben.

Wie geht es weiter? Wie stehen die Chancen für eine österreichweite Umsetzung dieses Programms?
Ich knüpfe an die neue Führung im Hauptverband die Hoffnung, dass wir die Einladung erhalten, unsere Daten auch dort präsentieren zu können, damit es rasch für alle Österreicher in der Zielgruppe ein qualitätsgesichertes Vorsorgeangebot im niedergelassenen Bereich gibt. Tatsächlich handelt es sich um mehr als ein bloßes Screening, weil Krebsvorstufen bei der Untersuchung gleich in einem Schritt entfernt werden können. In Deutschland hat man schon 2003 ein nationales Programm eingeführt. Wie lange dauert es in Österreich, bis die Sozialversicherung endlich Verhandlungen mit der Ärztekammer aufnimmt und: Wie viele Menschen müssen noch sterben, weil es noch kein flächendeckendes Programm gibt? Die niedergelassene Ärzteschaft ist jedenfalls bereit für ein bundesweites Darmkrebsvorsorgeprogramm.

Kommentar: Stillstand

Von Johannes Steinhart*

Es geht nichts weiter. Dieser generelle Befund über den Zustand des österreichischen Gesundheitssystems zeigt sich immer wieder auch in konkreten Bereichen; bei der Vorsorge im Speziellen liegt schon seit einigen Jahres einiges im Argen.

So hat man etwa beim Brustkrebsfrüherkennungsprogramm den bewährten Pfad der persönlichen Empfehlung und Überweisung zur Mammographie durch den Allgemeinmediziner oder Gynäkologen verlassen und durch ein anonymisiertes Einladesystem per Brief ersetzt. Mit katastrophalen Folgen: Die Frequenzen bei der Mammographie sind dramatisch eingebrochen. Die Frauen, die die Brustkrebsvorsorge ernst genommen haben und jährlich bei der Mammographie waren, können dies nun nur mehr alle zwei Jahre tun. Die ursprüngliche Idee, im Rahmen des Brustkrebsfrüherkennungsprogramms mehr Frauen zur Mammographie zu bringen, ist gescheitert. Offensichtlich sind die persönliche Beratung und Empfehlung des Arztes für eine Mammographie unersetzlich. Da leistet auch die nachträglich eingeführte Freischaltung der e-card nicht viel. Die Frequenzen sinken immer noch. Die Zuweiser, also Allgemeinmediziner und Gynäkologen, müssen wieder zentral in diesen Prozess eingebunden werden. Es bedarf ihrer Beratung, um die Frauen über die Brustkrebsfrüherkennung zu informieren. Ich habe den Eindruck, dass man beim Gegenüber in Kostenstellen denkt und nicht daran, was durch ein solches Screening an Leid verhindert werden kann – siehe das Vorarlberger Darmkrebsvorsorgeprogramm.

Bedenklich ist auch die Situation beim Mutter-Kind-Pass. Auch hier wählt die Politik einen anderen, wenig zielführenden Weg. Die bewährte MUKIPA-Kommission, die beim Obersten Sanitätsrat angesiedelt war, hat der damalige Gesundheitsminister Stöger 2010 auslaufen lassen. Dieses Expertengremium wurde durch eine Fach-Arbeitsgruppe ersetzt, in der Vertreter von 15 Organisationen sitzen – beispielsweise von der ARGE Selbsthilfe Österreich oder von der Österreichischen Gesellschaft für Public Health. Und so wird in dieser „Fach-Arbeitsgruppe“ gearbeitet: Die in der Mehrzahl vorhandenen Laien lassen sich über viele Stunden medizinische Terminologie, Eingriffe und Vorgangsweisen erklären – um dann letztlich die in der Minderheit vorhandenen Ärzte zu überstimmen – und somit eine zeitgemäße medizinische Weiterentwicklung des MUKIPA zu verhindern. Das ist ein katastrophaler Prozess, der aufzeigt, wie in Österreich Gesundheitspolitik gemacht wird.

Um hier gegenzusteuern, hat die ÖÄK eine interdisziplinäre Expertenkommission ins Leben gerufen.

Meine Hoffnung ruht aber auf der neuen Hauptverbandsvorsitzenden, die immer wieder betont, wie wichtig ihr die Prävention ist. Ich hoffe durch sie auf eine neue Gesprächskultur. Und ich hoffe auch, dass sie Vorsorgeprogramme einführt und sie nicht als Kostenfaktor sieht, sondern, wie dadurch den Menschen Leid und dem System Kosten erspart werden können.

*) Dr. Johannes Steinhart ist Obmann der
Bundeskurie niedergelassene Ärzte in der ÖÄK

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2016