Belastungsstudie: Es krankt im Spital

10.03.2016 | Politik

Arbeitsverdichtung, Bürokratie und zu wenig Wertschätzung. Eine aktuelle Studie erhob die Belastungsfaktoren unter steirischen Ärztinnen und Ärzten. Alarmierend sind die Werte bei den Angestellten; Niedergelassene wiederum schöpfen Kraft aus ihrer Autonomie. Von Ursula Jungmeier-Scholz

Sie fühle sich immer noch ein bisschen wie im Urlaub, resümierte eine steirische Ärztin ein halbes Jahr nach Eröffnung ihrer eigenen Praxis – obwohl sie der Wechsel aus dem Krankenhaus in die Selbstständigkeit zur Pendlerin gemacht hatte. Ihre Erfahrung spiegelt das Ergebnis einer aktuellen Studie wider: Den Niedergelassenen geht es deutlich besser als ihren angestellten Kolleginnen und Kollegen.

Worunter leiden Ärzte am meisten, wie ist es um ihr Burnout- und Depressionsrisiko bestellt – und divergieren die Ergebnisse je nach Ärztegruppe? Diesen Fragen widmete sich die Studie, die an der Karl-Franzens-Universität Graz mit Unterstützung der Grazer MedUni und der Ärztekammer Steiermark durchgeführt wurde. Im Juni 2015 wurden dazu online Fragebögen an mehr als 5.600 steirische Ärztinnen und Ärzte versandt – mit einer Rücklaufquote von 14 Prozent. Parallel dazu befragte das Institut für Psychologie der Uni Graz österreichische Arbeitnehmer zu ähnlichen Themen. „Die Erhebungen erfolgten im selben Zeitraum, die Ergebnisse sind daher optimal vergleichbar“, erklärt Studienautor Paul Jiménez vom Institut für Psychologie an der Karl-Franzens-Universität.

Jeder Zehnte im „roten Bereich“

Im Vergleich zu den übrigen Berufstätigen (8,5 Prozent) befinden sich Ärztinnen und Ärzte häufiger – nämlich zu elf Prozent – in einem deutlich disbalancierten Erholungs-Beanspruchungszustand (im „roten Bereich“). Kein Wunder – in Anbetracht ihrer durchschnittlichen Wochenarbeitszeit – möchte man meinen: Beträgt diese bei Niedergelassenen 47,62 Wochenstunden, bei Angestellten 48,17 und bei jenen, die sowohl angestellt sind als auch eine Ordination führen, 50,24 Stunden.

Allerdings – und das zeigt die Studie deutlich – ist das Arbeitsausmaß nicht das vordringliche Problem. Gäbe es nämlich einen eindeutigen Konnex zwischen Zeitaufwand und Belastungsempfinden, müssten jene, die eine angestellte mit einer freiberuflichen Tätigkeit kombinieren, die am meisten alarmierenden Werte aufweisen. Das Gegenteil ist der Fall. Von ihnen sind nur 4,8 Prozent im roten Bereich. Ähnlich gut schneiden die Niedergelassenen ab – mit 5,1 Prozent. Nur die Angestellten weisen zu 13,5 Prozent einen Besorgnis erregenden Erholungs-Beanspruchungszustand auf. Dieser Wert korreliert mit ihrem Depressionsscore: Mit einem Mittelwert von 9,16 (gemessen mit Beck‘s Depression Inventory-2) würden steirische Spitalsärzte schon im Durchschnitt Anzeichen einer leichten Depression zeigen (Werte ab 9). Bei den Niedergelassenen beträgt der Mittelwert 5,7, bei den zweifach Berufstätigen 7,51 sowie in der Referenzgruppe österreichischer Beschäftigter 8,53. „Die Tendenz ist klar und stellt daher ein Warnzeichen dar“, betont Mitautor Walter Wurm von der Grazer MedUni. „Schon in unserer vorangegangenen Studie, an der 6.351 österreichische Ärzte teilgenommen haben, hat sich gezeigt, dass Spitalsärzte häufiger von Burnout und Depressionen betroffen sind als niedergelassene.“

Arbeit als sinnvoll erlebt

Die Burnout-Indikatoren der aktuellen Studie stützen dieses Ergebnis: In den Bereichen „emotionale Erschöpfung“, „Zynismus“ und „persönliche Erfüllung“ erreichen jeweils die Niedergelassenen die besten Werte, gefolgt von denen, die sowohl angestellt sind und auch eine Ordination führen sowie den Angestellten. Ärzte erleben sich zwar generell emotional erschöpfter als die Durchschnittsbevölkerung, jedoch als weniger zynisch. Erfreulich hingegen die Werte beim Punkt „persönliche Erfüllung“: Selbst die unter Ärzten am schlechtesten Gereihten (Angestellte mit 4,89 auf einer Skala von 1=nie bis 6=sehr oft) erleben in ihrem Job häufiger Erfüllung als Durchschnittsbeschäftigte (4,71). Niedergelassene erreichen sogar 5,19. Nahezu ein Viertel der Spitalsärzte beklagt jedoch die mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung ihrer Arbeit – ein Missstand, den nur gut zwölf Prozent der Niedergelassenen empfinden.

Erstaunt hat Studienautor Jiménez ein Detail am Rande: Die hohe Toleranz gegenüber Dr. Google. Lediglich 2,5 Prozent der Befragten stoßen sich daran, wenn sich ihre Patientinnen und Patienten im Internet vorinformieren. Nicht in diesem Ausmaß erwartet hätte Jimenez auch die Befriedigung, die besonders Niedergelassene trotz aller Anstrengungen aus ihrer Arbeit beziehen.

Quer durch die Befragung zeigen sich kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern – mit Ausnahme der Karriere- Orientierung. Nur gut jede zehnte Frau fühlt sich in ihrer Ausbildung „auf eine mögliche Leitungsposition vorbereitet“, aber fast ein Viertel der Männer. Das Interesse an einer „Fortbildung für Führungskompetenz“ divergiert jedoch nicht im selben Ausmaß: 33,2 Prozent der Frauen streben eine solche an; 39,2 Prozent der Männer.

Unbestritten Handlungsbedarf besteht bei angestellten Ärzten. „Einerseits sollten sie Frühwarnzeichen wie Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Grübeln, Freudlosigkeit und Erschöpfungszustände ernst nehmen und fachliche Hilfe suchen“, empfiehlt Wurm. Und weiter: „Andererseits laden wir die Dienstgeber ein, die Ergebnisse unserer Studie zu beachten und entsprechende Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.“

Aus Prinzip werden sich niemals alle Unterschiede zwischen Angestellten und Niedergelassenen ausgleichen lassen, ziehen doch – so die arbeitspsychologische Hypothese von Paul Jiménez – die (zumindest auch) niedergelassenen Ärzte einen großen Teil ihrer Befriedigung aus ihrer Gestaltungsfreiheit und den persönlicheren Patientenkontakten, deren Zeitrahmen sie stärker beeinflussen können. Aber selbst wenn sich der Faktor Autonomie im Spital nicht in diesem Maß implementieren lässt, lohnt sich aktives Vorgehen gegen die Arbeitsverdichtung und die zunehmende Bürokratie. „Dass die Belastungs- und Stressfaktoren bei Spitalsärztinnen und Spitalsärzten viel höher als üblich sind, ist auf die extreme Arbeitsintensität und auf die Personalverknappung zurückzuführen“, betont Harald Mayer, Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte in der ÖÄK.

Das genaue Ausmaß der Veränderung durch die EU-Arbeitszeitrichtlinie lässt sich aus den aktuellen Studiendaten noch gar nicht absehen. Da die Novelle des KA-AZG zu Studienbeginn eben erst in Kraft getreten war, soll eine zweite Erhebungsrunde der Studie im Sommer 2016 durchgeführt werden und für Vergleichswerte sorgen.

Job Sharing: „Gebot der Stunde“

Gründe für die Arbeitsverdichtung in den Spitälern ortet der steirische Ärztekammerpräsident Herwig Lindner auch im Andrang auf die Ambulanzen: „Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, muss der von der Politik seit Jahren versprochene und nie verwirklichte Ausbau des niedergelassenen Bereichs endlich umgesetzt werden. Die Rahmenbedingungen für Gruppenpraxen und Ärztezentren mit Kassenabrechnungsmöglichkeit müssen verbessert werden. Auch ist Job Sharing ein Gebot der Stunde.“

Aber auch die überbordende Bürokratie macht den Ärzten zu schaffen – den angestellten wie den niedergelassenen. Fast 40 Prozent der Befragten gaben an, Dinge dokumentieren zu müssen, die den Patienten nichts bringen. Nicht einmal acht Prozent empfinden den Aufwand für die Patientendokumentation als angemessen. „Solange Spitalsärzte 40 Prozent ihrer Arbeitszeit für Dokumentation aufbringen müssen, ist in diesem Bereich noch viel Potential, um hier durch Veränderungen den Ärzten mehr Zeit für ihre eigentliche Tätigkeit, die Patientenbehandlung, zu geben“, moniert der Bundeskurienobmann. Und der steirische Ärztekammerpräsident sekundiert: „Ärztliche Dokumentation ist notwendig, die machen wir auch gerne. Wir wehren uns aber gegen das Generieren von Datenfriedhöfen, aus denen niemand einen Mehrwert zieht, und dagegen, nicht-ärztliche Bürokratie übernehmen zu müssen.“

Lindner fordert daher „die Einführung des medizinischen Dokumentars in Österreich“. In Deutschland ist dieser Beruf seit Jahrzehnten in Spitälern etabliert; es sind dies speziell ausgebildete Fachkräfte, die an einer Hochschule ein Bachelor-Master-Studium absolviert haben.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2016