Nicht-Abhän­gig­kei­ter­zeu­gende Sub­stan­zen: Außer Kontrolle

25.11.2016 | Medizin

Rund fünf Pro­zent der viel­fach ver­ord­ne­ten Arz­nei­mit­tel haben das Poten­tial für einen pro­ble­ma­ti­schen Gebrauch. Zu den wich­tigs­ten Sub­stanz­grup­pen zäh­len psy­cho­trope, Nicht-Abhän­gig­keit-erzeu­gende Prä­pa­rate wie Anti­de­pres­siva, Laxan­tien und nicht psy­cho­trope Analge­tika. Par­acet­amol kann ers­ten Hin­wei­sen zufolge bei­spiels­weise den soge­nann­ten sozia­len Schmerz lin­dern. Von Irene Mlekusch

Wie viele Men­schen von einem pro­ble­ma­ti­schen Gebrauch betrof­fen sind, lässt sich nur abschät­zen. In Deutsch­land geht man von 1,5 bis 1,9 Mil­lio­nen Men­schen aus, die als „Medi­ka­men­ten-abhän­gig“ ein­zu­stu­fen sind. Univ. Prof. Josef Mark­stei­ner von der Abtei­lung für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie A am Lan­des­kran­ken­haus Hall in Tirol geht davon aus, dass es in Öster­reich min­des­tens 120.000 bis 150.000 Betrof­fene gibt. Gleich­zei­tig warnt er jedoch vor der Ver­wen­dung des „Umbrel­la­be­grif­fes“ Medi­ka­men­ten­ab­hän­gig­keit, der die Abhän­gig­keit von Ben­zo­dia­ze­pi­nen – sie kommt in 70 bis 80 Pro­zent der Fälle vor – ein­schließt. Univ. Prof. Michael Mus­a­lek vom Anton- Proksch-Insti­tut in Wien-Kalks­burg geht von einer „orbi­tant hohen“ Dun­kel­zif­fer an Sub­stanz­ge­brauchs-Stö­run­gen aus. Mus­a­lek sieht ein gro­ßes Gefah­ren­po­ten­tial in der Medi­ka­men­ten- und Sub­stanz­be­schaf­fung über das Inter­net sowie in der Wei­ter­gabe von Medi­ka­men­ten unter Pati­en­ten. Zusätz­lich wer­den die Pati­en­ten auch durch zum Teil sug­ges­tive Medi­ka­men­ten­wer­bun­gen in ihrem Ein­nah­me­ver­hal­ten bezie­hungs­weise ihrer Sub­stanz­wahl beein­flusst. Immer­hin wur­den in Deutsch­land bereits 2005 bis zu 39 Pro­zent aller ver­kauf­ten Arz­nei­mit­tel­pa­ckun­gen ohne ärzt­li­che Ver­schrei­bung gekauft. „Wenn ich diese Tablette ein­nehme, wird es mir bes­ser gehen“, werde den Men­schen durch andere oder die Wer­bung sug­ge­riert, bedau­ert Musalek.

Wesent­lich ist immer die Dif­fe­ren­zie­rung zum Abhän­gig­keits­syn­drom durch psy­cho­trope Sub­stan­zen; die Ver­wen­dung von Begrif­fen wie ‚Medi­ka­men­tenab­usus‘ oder ‚Tablet­ten­sucht‘ ist daher äußert pro­ble­ma­tisch und sollte ver­mie­den wer­den. „Aus­ge­hend vom DSM-IV gab es keine klare Tren­nung zwi­schen Miss­brauch, schäd­li­chem Gebrauch und Abhän­gig­keit. Dafür spricht, dass auch Men­schen mit schäd­li­chem Sub­stanz­ge­brauch früh­zei­tig Hilfe brau­chen“, sagt Mark­stei­ner. Im DSM‑V sind nun die Kri­te­rien für eine Sub­stanz­ge­brauchs-Stö­rung defi­niert und anhand der Anzahl der zutref­fen­den Kri­te­rien ist eine Unter­schei­dung zwi­schen einer mode­ra­ten und schwe­ren Stö­rung mög­lich. Mus­a­lek sieht im schäd­li­chen Gebrauch von Nicht-Abhän­gig­keit-erzeu­gen­den Sub­stan­zen eher eine Form des hoch­pro­ble­ma­ti­schen Gebrauchs als der Sucht: „Die Sucht­er­kran­kung ist ein hoch kom­ple­xes Phänomen.“

Ein gesund­heits­schäd­li­cher Sub­stanz­kon­sum ist nicht nur auf­grund der phar­ma­ko­lo­gi­schen Viel­falt schwer zu erken­nen; es kön­nen auch kaum Risi­ko­grup­pen defi­niert wer­den. Mark­stei­ner hin­ter­fragt, ob es eine Sucht­per­sön­lich­keit über­haupt gibt. Prin­zi­pi­ell fin­den sich Sub­stanz­ge­brauchs-Stö­run­gen in jeder Alters­gruppe und in allen sozia­len Schich­ten. Eine gene­ti­sche Dis­po­si­tion gilt als wenig wahr­schein­lich; viel mehr dürfte das soziale Umfeld den Umgang mit Medi­ka­men­ten deut­lich prä­gen. Mark­stei­ner dazu: „Je frü­her eine Sucht beginnt, desto schlech­ter ist die Pro­gnose.“ Eine Unter­su­chung in Deutsch­land brachte zu Tage, dass es regel­rechte Schmerz­mit­tel­haus­halte gibt, in denen vor allem jun­gen Mäd­chen die prä­ven­tive Ein­nahme von Analge­tika nahe gelegt wird, um mög­li­chen Mens­trua­ti­ons­be­schwer­den zu entgehen.

Frauen stär­ker gefährdet

Soziale Fak­to­ren wie bei­spiels­weise der Ver­lust fami­liä­rer Auf­ga­ben, wenn die Kin­der aus dem Haus sind, dürf­ten dafür ver­ant­wort­lich sein, dass deut­lich mehr Frauen – vor allem in der Alters­gruppe 40 plus – einen pro­ble­ma­ti­schen Umgang mit Arz­nei­mit­teln und ande­ren Sub­stan­zen haben. „Eher gefähr­det sind ältere Men­schen mit chro­ni­schen Schmerz­zu­stän­den“, gibt Mus­a­lek zu beden­ken. Medi­ka­mente kom­pen­sie­ren oft psy­chi­sche Sym­ptome wie Schlaf­stö­run­gen, Ängste und depres­sive Ver­stim­mun­gen. Vor allem bei den Sub­stanz­ge­brauchs-Stö­run­gen von älte­ren Men­schen wird des­halb die Mög­lich­keit des pro­ble­ma­ti­schen Ver­schrei­bungs­ver­hal­tens von Sei­ten des behan­deln­den Arz­tes dis­ku­tiert. Begrenzte Zeit, rascher Pati­en­ten­wech­sel und man­gelnde Berück­sich­ti­gung oder Kennt­nis der phar­ma­ko­lo­gi­schen und phar­ma­ko­dy­na­mi­schen Cha­rak­te­ris­tika der Arz­nei­mit­tel wer­den als mög­li­che Risi­ko­fak­to­ren ange­se­hen. Dia­gnos­tisch erschwe­rend ist die Tat­sa­che, dass die Über­gänge zwi­schen dem ord­nungs­ge­mä­ßen Gebrauch der Medi­ka­mente, deren Neben­wir­kun­gen und schließ­lich deren fälsch­li­chem Gebrauch flie­ßend sind. „Die Ein­nahme eines Medi­ka­men­tes ist alleine noch keine The­ra­pie. Nur ein­ge­bet­tet in eine Lebens­ver­än­de­rung kann man von einer The­ra­pie spre­chen“, ver­deut­licht Musalek.

Mus­a­lek sieht im Kon­troll­ver­lust das zen­trale Phä­no­men: „Die pri­mär posi­tive Wir­kung der Sub­stanz kann zum Kon­troll­ver­lust füh­ren. Wenn der Pati­ent das Medi­ka­ment nicht abset­zen will oder die Dosis stei­gert, ist Vor­sicht gebo­ten.“ Cra­ving, das starke Ver­lan­gen nach der Sub­stanz, führt oft zu einem hohen Zeit­auf­wand für Beschaf­fung und Kon­sum. Mit­un­ter wech­seln die Pati­en­ten auch den Arzt, um das Medi­ka­ment wie­der ver­schrie­ben zu bekom­men. Mark­stei­ner warnt davor, dass die klas­si­schen Sucht­kri­te­rien nicht immer vor­han­den oder offen­sicht­lich sind wie bei­spiels­weise beim nicht bestim­mungs­ge­mä­ßen Gebrauch von Laxan­tien. Vor allem Mäd­chen und junge Frauen lau­fen Gefahr, sowohl pflanz­li­che Abführ­mit­tel mit Anthra­gly­ko­si­den oder syn­the­ti­sche Mit­tel wie Bisa­co­dyl und Natri­um­pi­co­sul­fat als Schlank­heits­mit­tel zu miss­brau­chen. Eine direkte psy­chi­sche Wir­kung der Laxan­tien ist nicht bekannt, aller­dings ent­steht bei regel­mä­ßi­ger Ein­nahme ein Teu­fels­kreis: Durch die chro­ni­sche Darm­rei­zung wird eine immer höhere Dosis erfor­der­lich, um eine abfüh­rende Wir­kung zu errei­chen und zuletzt ist ein Stuhl­gang ohne Laxan­tien nicht mehr mög­lich. Die Betrof­fe­nen sind somit zuneh­mend auf ihre Ver­dau­ung fixiert und neh­men Neben­wir­kun­gen wie Elek­tro­lyt­ver­lust, Darm­rei­zun­gen, Magen- Darm­be­schwer­den und im schlimms­ten Fall dar­aus resul­tie­rende Herz­rhyth­mus­stö­run­gen und Mus­kel­schwä­che in Kauf. Der Ent­zug von Laxan­tien sollte schritt­weise über ein bis drei Wochen unter ärzt­li­cher Anlei­tung und Auf­klä­rung erfol­gen. Eine ähn­li­che Pro­ble­ma­tik stellt sich bei der nicht bestim­mungs­ge­mä­ßen Ver­wen­dung von Diure­tika dar, wel­che nicht nur der Schön­heit wegen, son­dern auch im Sport miss­bräuch­lich ein­ge­setzt wer­den, um rasch ein bestimm­tes Gewicht zu erreichen.

Eine häu­fige Form des schäd­li­chen Gebrauchs von Nicht-Abhän­gig­keit-erzeu­gen­den Sub­stan­zen ist der nicht bestim­mungs­ge­mäße Umgang mit Schmerz­mit­teln – vor allem Nicht-Opioid-Analge­tika wie Par­acet­amol, Ace­tyl­sa­li­cyl­säure, Ibu­profen oder Napro­xen. Man geht davon aus, dass etwa ein Pro­zent der Bevöl­ke­rung bezie­hungs­weise bis zu acht Pro­zent aller Kopf­schmerz-Pati­en­ten Analge­tika ent­we­der zu hoch dosie­ren oder zu häu­fig ein­neh­men. „Auch bei bestimm­ten Schmerz­mit­teln sind posi­tive psy­cho­trope Wir­kun­gen bekannt“, schil­dert Mus­a­lek. Bei­spiels­weise bestehen Hin­weise dar­auf, dass Par­acet­amol den soge­nann­ten sozia­len Schmerz, der durch Aus­gren­zung oder Zurück­wei­sung ent­steht, lin­dern kann. Vor allem Misch­prä­pa­rate mit Kof­fein ber­gen ein Risiko für miss­bräuch­li­che Ver­wen­dung, da sie psy­chisch leicht anre­gende Wir­kung haben. Mark­stei­ner ver­weist auf den Analge­tika-indu­zier­ten Kopf­schmerz, der einer­seits bei häu­fi­ger Ein­nahme, para­do­xer­weise aber auch beim Abset­zen der Schmerz­mit­tel auf­tritt. Ein der­ar­ti­ger Dau­er­kopf­schmerz ist bereits dann mög­lich, wenn pro Monat häu­fi­ger als an zehn Tagen Schmerz­mit­tel ein­ge­nom­men wer­den. „Grund­sätz­lich ist es sinn­voll, die Ein­nah­me­dauer bei Ben­zo­dia­ze­pi­nen und Schmerz­mit­teln zeit­lich zu begren­zen, um einer miss­bräuch­li­chen Ver­wen­dung vor­zu­beu­gen“, ergänzt Marksteiner.

„Nasen­trop­fen-Nase“

Ähn­lich dem Medi­ka­men­ten-Kopf­schmerz ist der soge­nannte Medi­ka­men­ten­schnup­fen oder die Nasen­trop­fen-Nase. „Schleim­haut­ab­schwel­lende Nasen­trop­fen haben zwar keine psy­cho­trope Wir­kung, füh­ren aber bei län­ger­fris­ti­ger Anwen­dung zu einer Art Abhän­gig­keit der Nasen­schleim­haut und einem damit ver­bun­de­nen nicht kon­trol­lier­ba­ren Gebrauch“, so Mus­a­lek. Vor allem Nasen­trop­fen und Nasen­sprays mit Sub­stan­zen von direkt wir­ken­den Sym­pa­tho­mime­tika kön­nen in der Lang­zeit­be­hand­lung zur dau­er­haf­ten Vaso­konstrik­tion und in wei­te­rer Folge zur Atro­phie der Nasen­schleim­haut füh­ren. Damit in Ver­bin­dung steht eine erhöhte Infekt­an­fäl­lig­keit sowie bei lang­fris­ti­ger Über­do­sie­rung eine mög­li­che Blut­druck­erhö­hung und Puls­be­schleu­ni­gung. Der Ent­zug erfolgt einer­seits über eine aus­führ­li­che Auf­klä­rung der Pati­en­ten, ande­rer­seits über eine min­des­tens zwei Wochen dau­ernde Abdo­sie­rung. Die Über­do­sie­rung von Glu­ko­kor­ti­ko­iden konnte vor allem bei chro­nisch kran­ken Pati­en­ten, die über die eupho­ri­sie­rende Wir­kung der Sub­stanz Bescheid wis­sen, beob­ach­tet wer­den. Ob die Dosis-Erhö­hung allein wegen der psy­chi­schen Wir­kung oder prä­ven­tiv aus Angst vor einer mög­li­chen Pro­gres­sion erfolgt, ist indi­vi­du­ell zu hin­ter­fra­gen. In jedem Fall muss der Pati­ent beim Lang­zeit­ge­brauch in höhe­rer Dosie­rung auf die mög­li­chen Neben­wir­kun­gen wie Osteo­po­rose oder Dia­be­tes mel­li­tus auf­merk­sam gemacht werden.

Beta­blo­cker haben eben­falls eine psy­cho­trope, eupho­ri­sie­rende Wir­kung und redu­zie­ren Angst- und Panik­zu­stände. Der nicht ord­nungs­ge­mäße Ein­satz als Mit­tel gegen Lam­pen­fie­ber kann auf Dauer zu einer Sub­stanz­ge­brauchs-Stö­rung füh­ren. Die Über­do­sie­rung von Beta­blo­ckern kann fatale Aus­wir­kun­gen haben, wes­halb beim Abset­zen der Sub­stanz auf ein schritt­wei­ses Aus­schlei­chen geach­tet wer­den muss, um eine gegen­re­gu­la­to­ri­sche Über­er­reg­bar­keit des Herz-Kreis­lauf­sys­tems zu verhindern.

Sub­stanz­ge­brauchs-Stö­rung: große Vielfalt

Wird eine Sub­stanz wie zum Bei­spiel Arz­nei­mit­tel, Nah­rungs­er­gän­zungs­mit­tel, Phy­to­phar­maka und andere nicht-psy­cho­trope Prä­pa­rate nicht mehr bestim­mungs­ge­mäß, das heißt ohne medi­zi­ni­sche Not­wen­dig­keit häu­fi­ger oder in höhe­rer Dosie­rung ein­ge­nom­men, liegt eine Sub­stanz­ge­brauchs­stö­rung vor.

Die Viel­fäl­tig­keit des schäd­li­chen Gebrauchs von Nicht Abhän­gig­keit-erzeu­gen­den Sub­stan­zen macht das Erken­nen des­sel­ben für den Arzt schwie­rig. Zu den wich­tigs­ten Sub­stanz­grup­pen gehö­ren psy­cho­trope, nicht Abhän­gig­keit erzeu­gende Prä­pa­rate wie Anti­de­pres­siva, Laxan­tien und nicht-psy­cho­trope Analge­tika. Prin­zi­pi­ell ist aber ein pro­ble­ma­ti­scher Gebrauch mit jeder Sub­stanz mög­lich: Vor allem die miss­bräuch­li­che Ver­wen­dung von Anta­zida, H1-Anti­hist­ami­nika, vaso­konstrik­to­ri­schen Rhi­no­lo­gika, Diure­tika, Ephe­drin, Beta-Blo­cker, Vit­ami­nen, Ste­ro­iden oder Hor­mo­nen, Phy­to­the­ra­peu­tika und alko­hol­häl­ti­gen Arz­nei­mit­teln spielt eine Rolle.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 22 /​25.11.2016