Diabetes im Kindesalter: Inzidenz hat sich verdoppelt

25.05.2016 | Medizin

In den vergangenen Jahren hat sich die Inzidenz von Typ 1-Diabetes bei Kindern unter 15 Jahren verdoppelt, das Erstmanifestationsalter wird immer niedriger. Da oft keine klassischen Symptome vorhanden sind, verläuft der Beginn der Erkrankung wesentlich schleichender. Die Diagnose wird meist aufgrund anderer Erkrankungen gestellt. Von Verena Isak

In Österreich leiden etwa 1.500 Kinder unter 15 Jahren an Diabetes mellitus Typ 1; jährlich gibt es rund 300 Neuerkrankungen. Dabei lässt sich eine deutliche Zunahme erkennen: Die Inzidenz hat sich in knapp 20 Jahren (1989 bis 2008) von 9 auf 18 pro 100.000 verdoppelt. „Die Inzidenz ist seitdem zwar weiter am Steigen, doch nicht mehr so stark“, gibt Univ. Prof. Birgit Rami-Merhar von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Wien einen Einblick in aktuellere Daten, die erst im Laufe des Jahres publiziert werden. „Die Neuerkrankungen pro Jahr sind in Graz von 15 auf 31 bis 40 in den letzten Jahren gestiegen“, bestätigt Priv. Doz. Elke Fröhlich-Reiterer von der Klinischen Abteilung für Allgemeine Pädiatrie der Medizinischen Universität Graz diesen Trend.

Vor allem bei unter Fünfjährigen ist der größte Anstieg zu beobachten. Eine mögliche Erklärung dafür ist das höhere Gewicht bei der Geburt und danach: „Möglicherweise sind dadurch bei genetisch prädisponierten Kindern die Beta-Zellen früher erschöpft“, erklärt Rami-Merhar die sogenannte „Accelerator-Hypothese“. Doch es gibt sowohl Studien, die diese Hypothese belegen, als auch gegenteilige.

Hohe Inzidenz in Finnland

Österreich liegt im internationalen Vergleich im Mittelfeld. Besonders hohe Inzidenzraten lassen sich in skandinavischen Ländern beobachten, allen voran Finnland mit mehr als 60/100.000 Neuerkrankungen pro Jahr. Dies könnte mit den unterschiedlichen Hygienestandards der Länder zusammenhängen, was der Ausgangspunkt der „Polio-Hypothese“ ist: In Ländern mit niedrigeren Inzidenzraten für Typ 1-Diabetes sind Kinder früher bestimmten Krankheitserregern wie etwa Enteroviren ausgesetzt. Das dürfte einen protektiven Faktor auf die Entstehung eines Diabetes mellitus Typ 1 haben: „Dadurch ist die Toleranz des Immunsystems höher“, erklärt Rami-Merhar. Sonst kann es zu einer Autoimmunreaktion und daraus resultierender Zerstörung der Beta-Zellen kommen.

Auch Vitamin D hat einen protektiven Einfluss: Das Risiko, an Typ 1-Diabetes zu erkranken, ist um rund ein Drittel niedriger, wenn das Kind Vitamin D-Präparate erhalten hat. „In Finnland wurde eine Assoziation zwischen einer Abflachung der Neuerkrankungsrate und einer Erhöhung der Vitamin D-Dosis gefunden“, wie Rami-Merhar weiter ausführt. Deswegen werde über eine Steigerung der Dosis für die Wintersaison in den ersten beiden Lebensjahren auch in Österreich diskutiert.

Zwar ist die Prävalenz der HLA-Marker DQ2/DQ8 bei Typ 1-Diabetikern mit 30 bis 40 Prozent mehr als zehnfach so hoch wie in der Normalbevölkerung, doch kann dies den rasanten Anstieg der Neuerkrankungen nicht erklären, da diese unverändert geblieben sind. Auch non-HLA-Gene werden als Auslöser bei Typ 1-Diabetes diskutiert, aber: „Genauere Zusammenhänge sind noch nicht bekannt, denn es gibt so viele verschiedene mögliche Auslöser“, sagt Rami-Merhar.

Anders als die Ätiologie sind die Symptome oft sehr eindeutig: Bei Polyurie, Polydipsie, Abgeschlagenheit und Müdigkeit sollte immer an Diabetes gedacht werden, bei Kleinkindern ist erneutes Einnässen in der Nacht oft ein Hinweis. Je jünger die Kinder sind, umso größer ist außerdem die Gefahr einer Ketoazidose.

Bei entsprechend erhöhten Blutzuckerwerten (Hba1c > 6,5%, Nüchtern-Plasma-Glucose ≥ 126 mg/dl oder 2-h-Plasma-Glucose im oGTT ≥ 200 mg/dl) und Glucosurie sollten die Betroffenen umgehend an ein Diabetes-Zentrum überwiesen werden, wo dann stationär die Therapieeinstellung erfolgt. Das jüngere Manifestationsalter bringt auch neue Herausforderungen in der Behandlung mit sich. „Bei Kleinkindern wird bevorzugt eine Insulinpumpe eingesetzt“, erklärt Fröhlich-Reiterer. Trotz der sehr kleinen Insulinmengen lässt sich so eine gute Blutzuckereinstellung erreichen. Schulkinder können sich teilweise bereits selbstständig Insulin spritzen und Blutzucker messen.

Problematisch: Pubertät

Problematisch wird es mit der Compliance oft mit Beginn der Pubertät: „Vor allem Jugendliche, die erst in der Pubertät erkranken, können schlechter mit der Diagnose umgehen“, weiß sie aus der Praxis. Man könne die Jugendlichen motivieren, aber „sie müssen es selbst einsehen, dass sie täglich Insulin spritzen müssen“. Ein weiteres Problem stellt der hohe Raucheranteil unter Typ 1-Diabetikern dar: „Es rauchen mehr Jugendliche mit Typ 1-Diabetes als gesunde Gleichaltrige“, beobachtet Rami-Merhar.

Sogenannte Diabetes-Camps können helfen, dass Kinder und Jugendliche besser mit ihrer Erkrankung umgehen lernen und sehen, dass sie nicht allein sind. Die Kosten dafür werden meist nicht von der Krankenkasse übernommen, obwohl es keine vergleichbaren Kur- oder Rehabilitations-Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche, die an Typ 1-Diabetes leiden, gibt.

Zwar steigt das Risiko für Spätkomplikationen deutlich an, wenn der Blutzucker im jugendlichen Alter erhöht ist, dennoch ist ein deutlicher Rückgang an für Diabetes typischen Komplikationen wie Retino-, Nephro- und Neuropathien durch die wesentlich bessere Therapie und Blutzuckereinstellungen zu beobachten. „Klinisch treten selten keine Spätkomplikationen bei Kindern und Jugendlichen auf. Strukturanomalien hingegen können schon früh beobachtet werden“, stellt Fröhlich- Reiterer fest. Bei der diabetischen Nephropathie spielen auch genetische Faktoren eine Rolle. Das Risiko kann mit einer guten Blutzuckereinstellung und einem HbA1c von unter 7-7,5% deutlich gesenkt werden beziehungsweise das Auftreten von Komplikationen hinausgezögert werden. „Eine transiente Mikroalbuminurie während der Pubertät lässt sich gut mit ACE-Hemmern kontrollieren“, ergänzt Rami-Merhar.

Typ 2-Diabetes: häufiger bei Mädchen

Während Diabetes mellitus Typ 2 in manchen Ländern wie etwa den USA, Japan oder dem Arabischen Raum immer häufiger schon bei Kindern und Jugendlichen auftritt, liegt in Österreich der Anteil bei unter fünf Prozent. Der Beginn der Erkrankung ist wesentlich schleichender, da oft keine klassischen Symptome vorhanden sind. Müdigkeit und Abgeschlagenheit sowie vermehrter Durst können allerdings auf ein metabolisches Problem hindeuten. Die Diagnose wird meist aufgrund anderer Erkrankungen wie etwa Adipositas oder auch PCO bei Mädchen gestellt. Eine Manifestation eines Typ 2-Diabetes vor der Pubertät ist sehr selten. Von dieser Form des Diabetes sind häufiger Mädchen betroffen. „Ein Grund dafür könnte die frühere Pubertät sein, aber auch hier sind noch viele Fragen offen“, gesteht Rami-Merhar. Von Typ 1-Diabetes sind gering mehr Burschen betroffen; die Gründe dafür sind unklar. „Mit einer Lifestyle-Modifikation und einer Gewichtsabnahme lässt sich bei Jugendlichen bereits sehr viel erreichen. Die Anlage und Insulinresistenz bleiben allerdings trotzdem“, erläutert Fröhlich- Reiterer. Wichtig ist eine ausgewogene Ernährung mit rund 50 Prozent Kohlenhydraten sowie einer Reduktion der Kalorienund Fettaufnahme. Mit Nahrungsmitteln mit einem hohen glykämischen Index wie Weißbrot oder Süßigkeiten sollte sparsam umgegangen werden.

Da der Leidensdruck bei jugendlichen Typ 2-Diabetikern nicht so hoch ist, ist auch die Compliance schlechter. Nur selten komme es zur Ernährungsumstellung oder zu mehr Sport. In diesen Fällen kann Metformin verschrieben werden. Doch: „Auch bei guter Compliance erschöpfen die Beta-Zellen viel früher als bei Erwachsenen, nämlich oft innerhalb von ein bis zwei Jahren und die Patienten benötigen dann zusätzlich Insulin“, so Rami-Merhar.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2016