Waren vor zehn Jahren noch zwei Drittel der von Internetsucht Betroffenen im Social Media- und ein Drittel im Spiele-Bereich zu verzeichnen, gewinnen heute zunehmend das Glücksspiel und die Pornographie an Bedeutung. Wegen der neuronalen Plastizität des Gehirns ist ähnlich wie beim Missbrauch von anderen Drogen eine stetige Steigerung des Reizes erforderlich, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Von Marlene Weinzierl
Mit zunehmender Angebotsbreite in der digitalen Welt, im Speziellen dem Internet und dessen mobilem Zugang via Smartphones, ist auch eine steigende Zahl an Personen mit nicht-substanzgebundenen Abhängigkeiten zu verzeichnen. Aus diesem Grund wird der Ausbau eines spezifischen Therapieangebotes für Patienten mit Internetsucht immer wichtiger, wie Roland Mader von der Abteilung für Alkohol‑, Medikamenten- und Spielsucht im Wiener Anton-Proksch-Institut betont. Denn: Die Begrifflichkeit der Internetsucht sei unscharf und umfasse verschiedene Formen der exzessiven Internetnutzung. Waren vor zehn Jahren noch zwei Drittel der an Internetsucht Erkrankten im Kommunikations- und ein Drittel im Spielebereich zu verzeichnen, so gewinnen heute zunehmend die Bereiche Glücksspiel und Pornographie an Bedeutung.
Sucht oder exzessive Nutzung?
In jedem Fall müsse man zwischen einer Suchterkrankung und einer exzessiven Nutzung des Internets unterscheiden, erklärt Univ. Prof. Sergei Mechtcheriakov vom Therapie- und Gesundheitszentrum Mutters, einer Fachabteilung des Psychiatrie-und Psychotherapie-Departments der MedUni Innsbruck. Exzessive Internet-User verfügen zwar über das Potential, eine Abhängigkeit zu entwickeln, weisen jedoch nicht zwangsläufig pathologisches Verhalten auf und müssen nicht unter negativen gesundheitlichen Auswirkungen leiden. „Zu den Merkmalen einer tatsächlichen Suchterkrankung hingegen gehören eine ausgeprägte Toleranzentwicklung ähnlich dem Missbrauch von Alkohol oder anderen Drogen und ein damit verbundener steigender Konsum. Durch die neuronale Plastizität wird eine stetige Steigerung des Reizes benötigt, um die gleichen Effekte wie zuvor zu erzielen“, so der Experte. Dieses Phänomen werde im Cyberspace vor allem im Bereich der Kommunikation (Social Media), beim Online-Gaming (Computerspiele), beim Glücksspiel und in der Pornographie beobachtet. Die Betroffenen würden ihr Leben immer stärker auf virtueller Ebene gestalten, mit teils beträchtlichen Auswirkungen im realen Leben. Mechtcheriakov weiter: „Zu den Symptomen einer Internetsucht gehören auch Entzugserscheinungen bei plötzlichem Absetzen und die Unfähigkeit, abstinent zu bleiben oder zumindest seinen Internetkonsum einzuschränken.“ Charakteristisch sei wiederholtes Craving – das Verlangen der Betroffenen, den gewohnten Internetkonsum wieder aufzunehmen. Allerdings sind die genannten Merkmale bei Internetsucht im Gegensatz zu substanzbezogenen Süchten meist schwierig festzustellen. Zahlen sind kaum bekannt, auch weil die unterschiedlichen Bereiche oft schwer voneinander abgegrenzt werden können. Die meisten Patienten sind den Experten zufolge beim Online-Gaming und im Social Media-Bereich zu verzeichnen.
Schätzungen zufolge weisen – je nach Spiel – ein bis 15 Prozent der Online- Gamer die Merkmale einer Suchterkrankung auf, berichtet Mechtcheriakov. Autorennen, Rollenspiele und dergleichen ermöglichen die Kreation eines Avatars als Identifikationsobjekt, das in der virtuellen Welt Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen vermag. „Dies dient oft nicht nur der Befriedigung des Spieltriebs, sondern kann vor allem bei Personen, die mit Leistungsanforderungen in der realen Welt Schwierigkeiten haben, zu Suchtverhalten führen“, sagt Mader. Laut Mechtcheriakov stellen Frauen nur einen kleinen Anteil der exzessiven Online-Gamer dar; die Mehrheit sind Männer im Alter von 15 bis mittlerweile Mitte 30 Jahre. Spiele binden, weshalb auch das Alter der Teilnehmer mit der Zeit steigt und durchaus auch ältere Personen von einer Spielsucht betroffen sein können.
„Der Zeitfaktor allein ist nicht immer Ausschlag gebend für eine eventuelle Gefährdung“, betont Mechtcheriakov. „Beim Online-Gaming gibt es Spielsituationen, die nur ab einer gewissen Spieldauer Sinn machen.“ Darüber hinaus stelle die virtuelle Gaming-Welt für viele junge Männer eine weitere Möglichkeit der sozialen Interaktion mit (nicht nur virtuellen) Freunden dar und könne die soziale Vernetzung sogar stärken, denn: „‚Expertenwissen‘ gilt als soziale Währung. Online-Gaming kann auch Freundschaften initiieren, zur Erprobung sozialer Kompetenzen dienen und somit die Arbeit an der realen Identität unterstützen“, führt Mader aus. Relevant für die Diagnose einer Suchterkrankung sei daher, ob der Nutzer in seinem exzessiven Spielverhalten auch die eingangs erwähnten dysfunktionalen Merkmale zeigt. „Besonders bei Suchtgefährdeten im Gaming-Bereich ist die Ausübung anderer Aktivitäten zumeist stark reduziert“, ergänzt Mechtcheriakov. Ein spezieller Bereich sei jener der Online-Glücksspiele („Gambling“), bei denen ebenso deutlich mehr Männer als Frauen bis zum Alter von etwa 40 Jahren exzessives Verhalten an den Tag legen.
Soziale Netzwerke verlockend
Den Verlockungen der sozialen Netzwerke (Facebook, WhatsApp, Kontaktbörsen etc.) sind besonders viele weibliche Jugendliche und junge Erwachsene erlegen, so Mader. Ziel sei es, soziale Kontakte und Freundschaften herzustellen, die in den sozialen Medien auch „tatsächlich erlebt“ werden. Dahinter stehe der Wunsch nach Zugehörigkeit und mitunter auch das Spiel mit der eigenen Identität. Exzessive Nutzer verbringen sehr viel Zeit damit, die Kommunikation, die sie glauben, haben zu müssen, aufrechtzuerhalten. Mader erwähnt in diesem Zusammenhang auch die „Fear of Missing Out“: Vor allem junge Männer würden „stark unter der Angst leiden, etwas zu verpassen. Das birgt die Gefahr, eine Beziehungsstörung zu entwickeln: Besonders junge Menschen neigen zur Vernachlässigung gesunder realer Beziehungen und zu zunehmender sozialer Isolierung.“
„Der am schnellsten wachsende Bereich ist jener der Internet-Pornographie“, berichtet Mader aus der Praxis. „Immer mehr Menschen verlieren sich im unendlich großen Angebot des Cyberspace und leben dort ihre Sexualität aus.“ Die Formen reichen von Online-Erotik und Cyber-Kontakten zwischen getrennt lebenden Paaren über Cyber-Affären bis hin zu „Cyber-Sexzessen“; letzteres ist ein Kunstwort, das exzessives Sexualverhalten in Form einer Hypersexualität im Internet beschreibt. „Es ist wissenschaftlich evident, dass Internet- Pornographie Merkmale einer Suchterkrankung haben kann“, unterstreicht Mechtcheriakov. Das Durchschnittsalter der Betroffenen – meist sind es Männer – bewegt sich laut Mader im „mittleren Erwachsenenalter“.
„Ein Phänomen der besonderen Art ist die Cyberchondrie – ein pathologischer Zustand, bei dem hypochondrische Tendenzen durch Informationen aus dem Internet ausgelöst oder verstärkt werden“, erklärt Mader. „Man weiß, dass in Suchmaschinen als Antwort auf Krankheitssymptome seltene Diagnosen und dramatische Erkrankungen viel häufiger zu finden sind als wahrscheinliche, banalere Ursachen. Dadurch kann sich eine ängstliche Veranlagung verschlimmern.“ Gefährdet sei, wer über mehrere Monate nicht von der Idee loskommt, krank zu sein, und täglich mehrere Stunden im Internet nach Erklärungen für Symptome sucht.
In neun von zehn Fällen suchen Angehörige von Internetsüchtigen eine Beratung auf, weil sie das Problem oft rascher sehen als die Betroffenen, wissen die Experten. Der Arzt sollte mit behutsamen, aber gezielten Fragestellungen die Selbsteinschätzung des Patienten erkunden und im Anlassfall eine Therapie empfehlen. Kann der Ausstieg im ambulanten Setting nicht bewältigt werden, ist unter Umständen eine stationäre Behandlung angezeigt. Wobei Mechtcheriakov klarstellt: „Eine Therapie kann immer nur dann Wirkung zeigen, wenn der Patient ein Problembewusstsein hat.“
Internetnutzung: die Daten
Quelle: Dr. Roland Mader, Anton-Proksch-Institut |
Internetsucht: Ursachen und Folgen „Im klinischen Alltag zeigt sich, dass Menschen mit pathologischer Internetnutzung meist an anderen psychischen Erkrankungen leiden“, sagt Univ. Prof. Sergei Mechtcheriakov. In den meisten Fällen handle es sich dabei um (soziale) Angststörungen und Persönlichkeitsstörungen, die eine gesunde Kommunikation oder Sozialisierung erschweren. „Das Internet bietet einfache Möglichkeiten, ohne Scham- und Angstgefühle rasch Beziehungen zu knüpfen und dient auch als Ersatzbefriedigung: Menschen, die im realen Leben scheitern oder gehemmt sind, bekommen im Internet ihre Bedürfnisse oft leichter befriedigt“, erläutert Roland Mader. Doch bestehende psychische oder soziale Probleme werden durch exzessive Internetnutzung verstärkt. Begleiterscheinungen sind oft zunehmende Konflikte mit wichtigen Bezugspersonen im realen Leben und soziale Isolation. „Irgendwann ist das Problembewusstsein da und die Betroffenen versuchen, die Zeit im Netz zu reduzieren oder auszusteigen. Schaffen sie es nicht, sind sie von sich selbst enttäuscht, was Depressionen zur Folge haben kann.“ Außerdem kann die Belastung auch im Cyberspace überhand nehmen: Jeder fünfte Schüler wurde im Internet bereits direkt bedroht oder beleidigt. „Cyber-Mobbing führt in vielen Fällen dazu, dass kein Rückzug in gesicherte Geborgenheit mehr möglich ist und schürt neue Ängste, das Leben nicht mehr bewältigen zu können“, weiß Mader. |
Diagnostik „Es passiert nicht selten, dass im Zuge einer Therapie bei Angststörungen oder Alkoholismus auf eine beiläufige Erkundigung nach dem Internet-Verhalten plötzlich eine Lawine von Sorgen über den Arzt hereinbricht. Mancher Patient erwartet die Frage nahezu und schafft es erst dann, seine Probleme mit dem Internetkonsum zu beschreiben“, berichtet Univ. Prof. Sergei Mechtcheriakov aus der Praxis. Der Arzt sollte deshalb bei Risikogruppen im Gespräch darauf achten, ob es Hinweise für eine exzessive Internetnutzung gibt und sich im Zuge der Frage nach dem Lebensstil wie Rauchen, Alkoholkonsum oder Schlafverhalten automatisch auch nach dem Internetverhalten erkundigen. „Alleine das Nachfragen ist eine starke ärztliche Intervention und ein enormes Signal für den Patienten, das ihm bewusst macht, dass sein Internetverhalten medizinische Auswirkungen haben kann“, betont Mechtcheriakov. Wenn der Eindruck entsteht, dass ein Problem vorliegen könnte, sollte die Fragestellung nach den Regeln der „Motivierenden Gesprächsführung“ erfolgen. Sie zielt darauf ab, Veränderungsprozesse auf der Motivations- und Handlungsebene bei den Betroffenen selbst zu aktivieren:
Die Selbsteinschätzung des Patienten ist dabei der erste Schritt in der Therapie. Mechtcheriakov: „Die Erfahrung zeigt, dass ein Großteil der Patienten in den nachfolgenden Monaten versucht, seinen Internetkonsum zu kontrollieren und fachliche Hilfe aufsucht, wenn er erkennt, dass eine Kontrolle nicht möglich ist.“ |
Therapie Anders als bei der Therapie substanzgebundener Süchte ist bei der Behandlung einer Internet-Problematik nicht die komplette Abstinenz das Ziel – das sei in unserer Gesellschaft nicht möglich, sind sich die Experten einig. Stattdessen soll ein gemäßigter und kompetenter Umgang mit dem Suchtmedium erlernt werden, in dem bestimmte Regeln für die Nutzung festgelegt werden. Univ. Prof. Sergei Mechtcheriakov weist darauf hin, dass es dabei nicht immer um Reduktion der im Internet verbrachten Zeit geht, sondern oft um eine Regulierung der Nutzungszeiten: „Geregelte (Nicht-)Zugänglichkeit ist bei Internetsucht einer der wichtigsten Wirkfaktoren stationärer Therapien.“ Bei der Behandlung habe sich das sogenannte Ampel-Modell ur Stärkung der Medienkompetenz bewährt, berichtet Roland Mader. Dabei vereinbart der Arzt mit dem Patienten drei Bereiche hinsichtlich der Internetnutzung: Hilfreich könne eine Art Selbstkontrolle durch das Führen eines Tagebuches oder die Kontrolle durch die Eltern oder den Partner sein. „Die Erfolgsaussichten sind ähnlich wie bei anderen Stoff-ungebundenen Erkrankungen“, berichtet Mader. „Ein Drittel schafft den Ausstieg, ein weiteres Drittel schafft eine Verbesserung der Situation und das dritte Drittel fällt rasch in alte Verhaltensmuster zurück.“ Doch auch bei den Menschen, die Rückfälle erleiden, könne der Anteil der pathologischen Nutzung laut Mechtcheriakov durch eine Therapie oft deutlich reduziert werden. „Ganz wichtig bei der Therapie ist es, komorbide Störungen wie soziale Ängste oder Depressionen in Einzel- oder Gruppentherapien mitzubehandeln und reale soziale Kompetenzen zu fördern“, resümiert Mader. Andernfalls sei ein Ausstieg nahezu unmöglich. |
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 /25.11.2016