20 Jahre Arznei & Vernunft: Strategien für gesundes Altern

25.06.2016 | Medizin

Was passiert beim Alterungsprozess? Wie gelingt es, möglichst gesund ein hohes Alter zu erreichen und welche Maßnahmen sind aus medizinischer Sicht dafür notwendig? Diesen Fragen widmeten sich kürzlich Experten bei einer Diskussionsrunde im ORF-RadioKulturhaus in Wien anlässlich des 20-jährigen Bestehens von Arznei & Vernunft.
Von Marlene Weinzierl

Der Prozess des Alterns verläuft individuell verschieden. Auf molekularer Ebene hat die zelluläre Seneszenz einen großen Anteil am Funktionsverlust von Organen, wie Assoc. Prof. Johannes Grillari vom Institut für Biotechnologie der Universität für Bodenkultur Wien betont. Hinter der Verkürzung der Chromosomen-Enden, die bei jeder Zellteilung passiert, wird ein Tumorsuppressor-Mechanismus des Körpers vermutet, um sich alternder Zellen zu entledigen. Im Mausmodell beispielsweise hat sich gezeigt, dass die Tiere bei der Entfernung von seneszenten Zellen aus dem Organismus erst später altersassoziierte Erkrankungen aufweisen, so Grillari. Häufen sich jedoch alternde Zellen im Körper an, dedifferenzieren sie oder geben proinflammatorische Faktoren in die Umgebung ab. Aktuellen Studien zufolge können sekretierte microRNAs – Moleküle, die nicht für Proteine kodieren – die Knochenbildung im Alter beeinflussen. Als Beispiel für die Entwicklung einer personalisierten Diagnostik führt Grillari an, künftig osteoporotische Frakturen prognostizieren zu können.

Stichwort Biologisches Alter: Zu vorzeitigem Altern kommt es bei schlecht funktionierenden Reparatursystemen. Einer der aktuellen Hotspots der Forschung sei demnach die Erforschung von DNA-Reparaturmechanismen.

In den USA laufen derzeit Studien mit Metformin, in denen die „lebensverlängernde Wirkung“ der Substanz bei gesunden Menschen getestet wird, berichtete Univ. Prof. Regina Roller-Wirnsberger von der Universitätsklinik für Innere Medizin an der Medizinischen Universität Graz. Dieser Ansatz stößt bei der Diskussionsrunde auf wenig Verständnis. Die Grundlagenforschung sei wichtig und „der Alterungsprozess als multifaktorielles Geschehen kann nicht auf einen einzigen Faktor reduziert werden“, betonte Roller-Wirnsberger. Eine Nutzen-Risiko-Bewertung sei bei Bestrebungen in diese Richtung bis jetzt immer zu Gunsten des Risikos ausgegangen, warnte der Vorsitzende der Expertengruppe Arznei & Vernunft, Univ. Prof. Ernst Singer.

Verlängerung der Gesundheitsspanne

Grillari sieht das Problem darin, dass bereits der normale Vorgang des Alterns zu einer Krankheit stilisiert würde. Es gehe nicht um eine Lebensverlängerung, sondern um eine Verlängerung der Gesundheitsspanne. „Hier kann jeder Einzelne mit Ernährung und Bewegung selbst ansetzen“, ergänzte Priv. Doz. Karin Schindler von der Universitätsklinik für Innere Medizin III der Medizinischen Universität Wien. Und weiter: „Wir müssen weg von der Essen-to-go-Gesellschaft hin zu mehr Genuss und Lebensqualität.“

Dass Ernährungsoptimierung und leichtes (Kraft-)Training bei gebrechlichen Personen erfolgreich umgesetzt werden kann, wurde in einer Studie von Schindler nachgewiesen. Die wichtigsten Ergebnisse: Die Handkraft der Senioren hat zugenommen, die Beweglichkeit wurde verbessert und die Sturzangst verringert. In der Folge haben die älteren Menschen wieder öfter das Haus verlassen. Diese massive Verbesserung der Lebensqualität wurde übrigens schon durch die soziale Interaktion allein – ohne zusätzliches Training – erreicht. „Es ist also auch ohne sofortige Integration in das medizinische System möglich, gebrechliche Menschen zu unterstützen“, unterstrich Schindler. Die laut Roller-Wirnsberger „größten Fortschritte“ im österreichischen Gesundheitssystem konnten in den vergangenen zehn Jahren im Bereich der kardiovaskulären Erkrankungen erzielt werden. Verbesserungspotential sieht die Expertin im Bereich der neurodegenerativen Erkrankungen – im Speziellen bei Demenz. Größerer Entwicklungsbedarf sei bei der reinen Altersmedizin, die über eine rein diagnosezentrierte Medizin hinausgehen müsse, erforderlich.

Die Geriatrie- und Altersmedizin sieht die Menschen im Gesamtbild ihres sozialen Umfeldes, ihrer individuellen Bedürfnisse und ihrer Multimorbidität, so Roller-Wirnsberger. Im Fokus einer zielgerichteten Therapie von Hochaltrigen steht die Lebensqualität: Geriatrische Syndrome wie Sturz, Inkontinenz, kognitive Einschränkungen oder reduzierte Selbsthilfefähigkeit müssen in ein konzentrisches medizinisches Betreuungsmodell einfließen und die individuellen Faktoren des Patienten berücksichtigen. „Österreich ist mit seinem sehr guten Gesundheitssystem dafür gerüstet“, findet Roller-Wirnsberger.

20 Jahre Arznei & Vernunft

Bei Arznei & Vernunft handelt es sich um eine gemeinsame Initiative von Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger, Pharmig, Österreichischer Ärztekammer und Österreichischer Apothekerkammer. Ziel der – europaweit einzigartigen – Initiative ist es, einen vernünftigen, evidenzbasierten Umgang mit Arzneimitteln auf allen Ebenen des Gesundheitswesens zu fördern. Einmal pro Jahr erscheint eine neue Leitlinie zu einer ausgewählten, häufig vorkommenden Erkrankung mit Therapie-Empfehlungen für medizinische Fachkreise und einer Informationsbroschüre für Betroffene; die aktuelle Leitlinie befasst sich mit Diabetes mellitus Typ 2.
Tipp: www.arzneiundvernunft.at

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2016