Standpunkt – Präs. Artur Wechselberger: Wissensarbeit

25.06.2015 | Standpunkt

© Dietmar Mathis

Der Sozialwissenschafter, Ökonom und bedeutende Managementexperte Peter Drucker gilt als Entdecker der Wissensarbeit. 1959 führte er den Begriff des Wissensarbeiters in seinem Buch „The Landmarks of Tomorrow“ in die Literatur ein und bezeichnete damit ursprünglich diejenigen Beschäftigten, die nicht für ihre körperliche Arbeit und manuellen Fähigkeiten, sondern für die Anwendung ihres erworbenen Wissens bezahlt wurden.

Der Begriff der Wissensarbeit stellt demnach die intellektuelle Arbeit der qualifizierten Mitarbeiter als eigenständigen Beitrag zum Unternehmensergebnis der materiellen Leistungserbringung gegenüber. Damit Wissensarbeit produktiv sein kann, verlangt sie ein ständiges, problemorientiertes Lernen und Transfer neuen Wissens in den Arbeitskontext. Je komplexer Probleme sind, je individualisierter und innovativer die Lösungsansätze werden, umso mehr muss eine Organisation den speziellen Bedürfnissen der Wissensarbeit entsprechen und umso weniger sind tradierte Strukturen und Managementkonzepte in der Lage, befriedigende Lösungen zu erbringen. Wissensarbeiter zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie, nachdem sie ihre Produktionsfaktoren im Kopf tragen, überaus mobil in der Wahl des Arbeitsplatzes sind. Zudem bieten sie ihr Wissen häufig auch in flexiblen Arbeitsund Erwerbsformen wie etwa als Selbstständige oder als freie Mitarbeiter an. Und selbst in einem Dienstverhältnis gelten Wissensarbeiter nicht als Untergebene sondern als Partner, die deshalb Nutzen für das Unternehmen stiften, weil sie mehr über ihre Arbeit wissen als ihre Vorgesetzten.

In der Medizin gibt es neben den Tätigkeiten, bei denen die Methoden zur Bewältigung einer Aufgabe bekannt sind, eine Fülle von Problemstellungen, bei denen nur einzelne Maßnahmen und Lösungsmöglichkeiten bekannt, in ihrem Einsatz innerhalb der Prozesskette aber variabel oder unbekannt sind. Trotz der Bedeutung ärztlichen Erfahrungswissens gehört es damit zum Wesen ärztlichen Handelns, oft Entscheidungen unter Unsicherheit treffen zu müssen, sich als „selbstprogrammierende Arbeitskraft“ bei hoher Veränderungsdynamik von Technologien selbst zu schulen und sich permanent an neue Aufgaben, Prozesse und Informationsquellen anzupassen. Diese Berufscharakteristika weisen die ärztliche Tätigkeit als Wissensarbeit im Sinne von Peter Drucker aus.

Ein Wesensbestandteil von Wissensarbeit ist, dass sie sich durch die kundenorientierte Bereitstellung individueller, innovativer und qualitativ hochwertiger Dienstleistungen nur schwer standardisieren lässt und sich damit grundlegend von gewerblichen Dienstleistungen unterscheidet. Die zunehmende Spezialisierung gerade in der medizinischen Leistungserbringung macht es notwendig, Expertise, Kenntnisse und Fähigkeiten aus unterschiedlichen Fachdisziplinen flexibel und oft auch nur befristet zu vereinen, um die gefragte Aufgaben- und Problemlösung zu ermöglichen – Prämissen, die neue Organisationsformen und einen neuen Motivationsstil gegenüber den Leistungserbringern erfordern. Dabei ergeben sich Anforderungen an die Flexibilität und Lernfähigkeit der Organisation, die sich mit den funktional-hierarchischen Prinzipien tradierter und bürokratischer Organisationsgestaltung des Gesundheitswesens immer weniger bewältigen lassen.

Somit liegt es weitgehend an der fehlenden Anpassung der ärztlichen Arbeitsbedingungen an die Erfordernisse einer sich entwickelnden Wissens- und Informationsgesellschaft, die zu einer nahezu permanenten Konfliktkonstellation zwischen der Ärzteschaft und den Organisations- und Entscheidungsverantwortlichen im Gesundheitswesen führt.

Solange Gesundheitsreformen nur die Rigidität der Versorgungsstrukturen erhöhen oder die Kontrolle zentraler Vorgaben und die Einhaltung von Budgetzielen verfolgen, wird dieser Konflikt auch nicht lösbar sein. Schließlich erfordert die Erbringung intellektueller Leistungen ein Maximum an Freiheit, Flexibilität und damit ein hohes Maß an Vertrauen in die Ärzteschaft. Die Stärkung und gesellschaftliche Anerkennung des freien Arztberufs ist die Grundvoraussetzung dafür, dass die Autorität auch der Verantwortung entspricht, mit der Ärztinnen und Ärzte ihre medizinischen Entscheidungen zu treffen haben.

Artur Wechselberger
Präsident der Österreichischen Ärztekammer

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2015