Weltaidstag 1. Dezember: Noch nicht am Ziel

25.11.2015 | Politik

Das ambitionierte Ziel, das sich die Vereinten Nationen gesteckt hatten, HIV/Aids bis zum Jahr 2015 nahezu ausgelöscht zu haben, konnte nicht erreicht werden. Als neues Ziel wurde nun 2030 festgelegt. Auch wenn es bei der Therapie gewaltige Fortschritte gibt, stecken viele Entwicklungsländer noch mitten im Kampf gegen die Immunschwäche – am stärksten betroffen ist Afrika. Von Nora Schmitt-Sausen

Im globalen Kampf gegen Aids war 2015 kein schlechtes Jahr – konnten doch die Vereinten Nationen verkünden: Das im Jahr 2011 ausgerufene Ziel, bis 2015 mindestens 15 Millionen HIV-Patienten mit antiretroviralen Medikamenten zu versorgen, wurde im März dieses Jahres erreicht.

Ein weiterer Meilenstein war die Präsentation von wegweisenden internationalen Forschungsergebnissen auf der Aids-Konferenz in Vancouver/Kanada in diesem Sommer. Die Studie „Strategic Timing of Antiretroviral Treatment“ belegt: Ein sofortiger Behandlungsstart mit antiretroviralen Medikamenten ist für alle Patienten sinnvoll. Bislang hängt der Therapiebeginn vom Immunstatus ab. Therapiert wird erst, wenn im Blut nachgewiesen werden kann, dass die Abwehr merklich geschwächt ist. Durch die Studie wurde nun der Beweis erbracht, dass eine frühe Behandlung mehr Nutzen als möglichen Schaden durch Nebenwirkungen hat.

Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse fanden schnell große Resonanz. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellte Ende September ihre neuen Behandlungs-Guidelines im Kampf gegen die Immunschwächekrankheit vor; die alten Empfehlungen stammen aus dem Jahr 2013. Zentrale Aussage: Gebt Millionen von Infizierten frühestmöglich die antiretrovirale Medikation.

Gesundheitsexperten sehen eine reale Chance, HIV/Aids weltweit einzudämmen, wenn künftig tatsächlich sehr früh mit der Therapie begonnen wird. Gemäß den neuen WHO-Richtlinien sollten bis zu neun Millionen mehr Menschen die Therapie erhalten. Allerdings gibt es ein Problem: Die vielen Milliarden Dollar, die dafür benötigt werden, sind noch nicht annähernd gesichert.

2030: Ende von Aids?

Unabhängig von der noch ungeklärten Finanzierung steht fest: Der Wille ist da, denn es sind noch längst nicht alle Ziele im Kampf gegen die Krankheit erreicht. In ihren Millenniumszielen hatten die Vereinten Nationen im Jahr 2000 ausgerufen, bis 2015 übertragbare Krankheiten wie HIV/Aids nahezu ausgelöscht zu haben. Gelungen ist dies nicht. Doch die Weltgemeinschaft wird sich erneut an den eigenen Worten messen lassen. Neues Ziel: 2030. Bis zu diesem Datum soll die Aids-Epidemie beendet sein. So ist es in den neuen entwicklungspolitischen Zielen, den Sustainable Development Goals, festgeschrieben.

Ende Oktober legten die Verantwortlichen von UNAIDS, dem Programm der Vereinten Nationen zur Eindämmung der Krankheit, ihren neuen Fünf-Jahres-Plan vor. In der Strategie für 2016 bis 2021 werden alle Punkte angesprochen, die der zukünftige Kampf gegen HIV beinhalten soll: ein universeller Ansatz, wissenschaftlicher Hintergrund, zielgerichtetes Vorgehen bei Prävention und Therapie sowie das Vermeiden jeglicher Diskriminierung. Michel Sidibé, Executive Director von UNAIDS, nannte die neue Strategie ein Instrument für soziale Gerechtigkeit und Würde. „Unsere neue Strategie fordert von uns ein, aktiver zu sein als jemals zuvor. Sie verpflichtet uns, die entscheidenden Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Armut und Konflikten anzugehen.“ UNAIDS vereint die Schlagkraft von elf UN-Organisationen, darunter das Kinderhilfswerk UNICEF, die WHO und die Weltbank.

Afrika: am meisten betroffen

HIV/Aids ist in der Welt sehr unterschiedlich verteilt: Besonders der afrikanische Kontinent ist weiter sehr stark betroffen. In den aktuellen UNAIDS-Zahlen wird deutlich, wie sehr: Mehr als zwei Drittel aller Menschen mit HIV leben in
Afrika südlich der Sahara: 25,8 Millionen. Darunter sind 88 Prozent aller HIV-positiven Kinder. Im Jahr 2014 haben sich schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen in der Region neu angesteckt. Circa 800.000 Menschen sind an Aids gestorben. Dies entspricht einem Anteil von 66 Prozent der weltweiten Aids-Todesfälle im Jahr 2014.

Doch nicht nur Afrika kämpft mit der Immunschwächekrankheit. Nahezu alle Regionen dieser Welt sind bis heute, mehr als 30 Jahre nach den ersten Aids-Fällen in den USA, davon betroffen.

Asien und Pazifikregion: Im vergangenen Jahr haben sich fast 340.000 Menschen neu infiziert. Damit liegt die Gesamtzahl der Menschen, die mit HIV leben, bei nahezu fünf Millionen. Aids ist für rund 240.000 Todesfälle verantwortlich (2014).

Karibik: Etwa 13.000 Menschen haben sich 2014 neu infiziert; rund 270.000 Menschen leben mit HIV. Fast 9.000 Menschen sind im vergangenen Jahr an der Immunschwächekrankheit gestorben.

Lateinamerika: Geschätzte Zahl der Neuinfektionen im Jahr 2014: 87.000. Die Zahl der durch Aids verursachten Todesfälle lag bei 41.000. Rund 1,7 Millionen Menschen leben in der Region aktuell mit HIV.

Nordafrika und Naher Osten: Bei rund 230.000 Menschen wurde HIV diagnostiziert, 22.000 davon infizierten sich im vergangenen Jahr. 2014 sind schätzungsweise mehr als 12.000 Kinder und Erwachsene an Aids gestorben.

Osteuropa und Zentralasien: 140.000 Menschen haben sich 2014 neu mit HIV infiziert. Damit leben in Osteuropa und Zentralasien etwa 1,5 Millionen Menschen mit HIV. Im Vorjahr sind 62.000 Menschen an Aids gestorben.

West- und Mitteleuropa sowie Nordamerika: Hier leben rund 2,4 Millionen Menschen mit HIV. Im Jahr 2014 gab es 85.000 neue HIV-Fälle. Schätzungsweise 26.000 Menschen sind an Aids im Jahr 2014 gestorben.

Russland: hohe Zahl von Neuinfektionen

Während es in ärmeren Ländern vor allem an Mitteln fehlt, kämpfen andere Nationen in erster Linie mit einem Mangel an Wissen, Vorurteilen und Diskriminierungen. Dort ist auch ein weiteres Phänomen zu beobachten: Die Menschen werden wieder unvorsichtiger. Aids ist im öffentlichen Bewusstsein nicht mehr so präsent wie in den 1980er und 1990er Jahren. Außerdem hat die Krankheit an Schrecken verloren, sie gilt zunehmend als beherrschbar. Die Folge: Einige Nicht-Entwicklungsländer verbuchen in jüngster Zeit eine steigende Zahl von Neu-Infizierten.

Vor allem Russland sorgt für negative Schlagzeilen. Das Land kämpft seit einigen Jahren mit alarmierend hohen, stets steigenden Zahlen bei HIV-Neu-Infektionen. Damit zählt Russland zu den wenigen Ländern der Welt, in denen sich HIV immer noch sehr schnell verbreitet. Die Faktenlage ist eindeutig: Die Zahl der Infizierten hat sich seit 2010 fast verdoppelt und liegt heute bei knapp einer Million. Allein im vergangenen Jahr gab es 90.000 Neu-Infektionen. 85 Prozent aller Menschen mit HIV in Osteuropa und Zentralasien leben in Russland und der Ukraine, die ebenfalls mit einer hohen Zahl von HIV-Fällen kämpft.

Das Problem: Die russische Regierung stellt zwar Geld für die HIV-Therapie bereit. Das große Manko aber liegt in einem eklatanten Mangel an Aufklärung und Prävention; die Gefahren der Krankheit werden im öffentlichen Leben kaum thematisiert. Das Gros der Neu-Infektionen ist auf den Gebrauch von verseuchten Nadeln beim Drogenkonsum zurückzuführen. Ungeschützter Geschlechtsverkehr gilt als zweite große Infektionsquelle. Die Prognosen sind düster: Russische Gesundheitsexperten befürchten, dass innerhalb der kommenden fünf Jahre mit mindestens zwei Millionen Infizierten zu rechnen ist.

Auch in den USA: vermehrt HIV-Fälle

Mehrfach rückte das Thema HIV/Aids in diesem Jahr auch in den USA in den Blickpunkt. Im Frühjahr dieses Jahres musste der Bundesstaat Indiana den Gesundheitsnotstand erklären. In einer Kleinstadt nahe Louisville kam es innerhalb weniger Wochen zu mehr als 70 Neu-Infektionen. Üblicherweise kommt es in dieser Region zu maximal fünf Neu-Infektionen im Jahr. Auslöser waren kontaminierte Nadeln von Abhängigen, die sich Schmerzmittel intravenös gespritzt und ihre Spritzen geteilt hatten.

Die lokale Regierung reagierte mit einem umfassenden Nadel-Austausch-Programm, schaltete Aufklärungskampagnen und führte vermehrt Testverfahren in der Region durch. Hilfe bekamen sie dabei von Bundesbehörden in Washington. Einhalt gebieten konnte man der Ausbruchswelle zunächst nicht. Zu Spitzenzeiten wurden 22 neue Fälle pro Woche registriert. Inzwischen liegt die Gesamtzahl der Neu-Infizierten bei mehr als 180, der Peak der Epidemie scheint aber erreicht. Lange galten in den USA lediglich Metropolen wie Washington DC, Los Angeles oder New York als potentielle Ausbruchsherde für das Virus. Aus den Erfahrungen in Indiana wollen nun auch andere ländliche Regionen der USA Lehren ziehen.

Sorge bereitet auch die aktuelle Entwicklung in Florida. Die Zahl der diagnostizierten HIV-Fälle ist dort in der ersten Jahreshälfte 2015 im Vergleich zum ersten Halbjahr des Vorjahres um mehr als 20 Prozent gestiegen. Florida hat in diesem Jahr bereits mehr als 3.500 neue HIV-Fälle – und somit die höchste Zahl an Neu-Infektionen im gesamten Land.

Als Grund für die neue Welle von Infektionen werden eine abnehmende Angst vor HIV/Aids, mangelnde Präventionsbemühungen und verschmutzte Nadeln genannt. „Ich glaube, wir sind ein Opfer unseres eigenen Erfolges. Durch erfolgreiche Behandlungen sind viele Menschen wieder nahezu gesund. Die Generation der Menschen unter 40 hat nicht erlebt, wie Leute um sie herum wie die Fliegen gestorben sind“, sagte Michael Weinstein, Präsident der AIDS Healthcare Foundation, in der in Florida erscheinenden Regionalzeitung „Sun Sentinel“. Die USA stehen mit diesem Phänomen nicht allein da. Auch Länder wie Thailand und Australien kämpfen aktuell mit steigenden Zahlen von Neu-Infektionen – ebenfalls besonders bei jungen Menschen, denen die Gefahren der Krankheit nicht mehr so bewusst sind.

Einige Gesundheitsexperten in westlichen Ländern sehen im Kampf gegen die Krankheit eine neue Gefahr aufziehen: Der zunehmende Nutzen von Social Media-Portalen und Dating-Apps verleite zu wechselnden Partnerschaften und schnellem Sex, heißt es. Die in Los Angeles ansässige, weltweit agierende AIDS Healthcare Foundation geht bereits in die Offensive. Im Herbst hat sie im Raum L.A. eine Plakat-Kampagne gestartet. In dieser wird darauf hingewiesen, dass durch Dating-Apps die Gefahr steige, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken. Für die Organisation gilt schon jetzt als belegt, dass ein klarer Zusammenhang zwischen wieder steigenden HIV-Diagnosen und der zunehmenden Anzahl von Menschen, die Dating-Apps nutzen, besteht.

HIV/Aids in Österreich und Deutschland

In Österreich ist die Zahl der HIV-Neu-Infektionen rückläufig. Im Jahr 2014 wurden 403 HIVInfektionen neu diagnostiziert. Die Daten entsprechen bei derzeit 8,47 Millionen Einwohnern einer Rate von 4,8 neudiagnostizierten HIV-Infektionen pro 100.000 Einwohner. 2013 waren in Österreich 481 Neudiagnosen gestellt worden, 2012 waren es 523. Zwischen 1983 und 2011 wurden in Österreich 3.659 Aids-Erkrankungen registriert. Fast 2.000 Patienten sind an der HIV-Infektion und ihren Komplikationen verstorben.

In Deutschland geht die Zahl der Neu-Infektionen trotz aller Aufklärungsmaßnahmen nicht zurück. Im Jahr 2014 haben sich 3.200 Menschen in Deutschland mit HIV infiziert; damit blieb die Zahl gegenüber 2013 unverändert. Das Robert-Koch-Institut schätzt, dass in Deutschland circa 83.400 Menschen mit einer HIV-Infektion oder Aids leben. 480 HIV-Infizierte sind im Jahr 2014 gestorben.

HIV/Aids in Zahlen

  • Weltweit leben fast 37 Millionen Menschen mit dem HI-Virus. 2,6 Millionen davon sind jünger als 15 Jahre. Rund zwei Millionen Menschen haben sich allein im Jahr 2014 infiziert. 1,2 Millionen Menschen sind im vergangenen Jahr an Aids gestorben.
  • Täglich infizieren sich 5.600 Menschen mit dem HI-Virus.
  • Seit dem Beginn der Epidemie haben sich weltweit fast 78 Millionen Menschen mit dem HI-Virus infiziert. Fast 39 Millionen sind an den Folgen von Aids gestorben.
  • Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der HIV-Neu-Infektionen um 35 Prozent zurückgegangen.
  • Von den 15 Millionen Menschen, die bis zum Frühjahr dieses Jahres mit antiretroviralen Medikamenten behandelt werden konnten, leben 13,5 Millionen in einkommensschwachen Ländern.
  • Mehr als die Hälfte der HIV-Infizierten weltweit – 22 Millionen Menschen – haben weiterhin keinen Zugang zu einer Therapie.
  • Die internationalen Bemühungen im Kampf gegen Aids haben im Jahr 1987 mit der Gründung des globalen Aids- Programms der WHO begonnen. Das UNAIDS-Programm der Vereinten Nationen existiert seit 1996.
  • Außerstaatliche Akteure spielen beim Kampf gegen die Krankheit eine erhebliche Rolle. Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ beispielsweise behandelt seit dem Jahr 2000 HIV-Infizierte in ärmeren Ländern mit antiretroviralen Medikamenten. Heute bekommen nach eigenen Angaben mehr als 200.000 Menschen durch die Organisation eine HIV-Therapie.
  • Finanziert wird der gemeinsame Kampf gegen Aids überwiegend von finanzstarken Ländern. Die USA sind dabei die mit Abstand geberfreundlichste Nation. Durch den Global Fund, dem zentralen Finanzierungstool zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, sind bis heute mehr als 17 Milliarden Dollar in 100 Länder geflossen, um Aids zu bekämpfen. Zu den Geldgebern gehören auch Nicht-Regierungsorganisationen. Allein die Bill & Melinda Gates Foundation hat bereits mehr als 2,5 Milliarden Dollar bereitgestellt.
  • In diesem Jahr fließen insgesamt circa 22 Milliarden US-Dollar zur Aids-Bekämpfung in finanzschwache Länder.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22 / 25.11.2015