Millenniumsziele der Vereinten Nationen: Trotz messbarer Fortschritte: Bilanz ernüchternd

10.04.2015 | Politik

Mit der Definition von acht Millenniumszielen haben sich die Vereinten Nationen eine kühne Vision gesetzt: Bis 2015 sollte durch internationale Entwicklungshilfe die Armut weltweit halbiert und der Gesundheitszustand der Weltbevölkerung verbessert werden. Die Schlussbilanz, die heuer vorgelegt werden muss, bleibt trotz messbarer Erfolge und unverkennbarer Fortschritte ernüchternd.
Von Nora Schmitt-Sausen

Bill Gates hatte Ende Jänner dieses Jahres in Berlin wieder einmal einen seiner großen Auftritte. Auf der Geberkonferenz der globalen Impfallianz Gavi (Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierung) verkündete er, eineinhalb Milliarden US-Dollar zu spenden, um zwischen 2016 und 2020 Millionen Kinder in aller Welt zu impfen. Er und seine Frau Melinda – mit ihr zusammen führt er die Gates Stiftung – hätten die Vision, dass jedes Kind auf der Welt den gleichen Zugang zu Impfungen hat. „Wenn wir an Gavi denken, denken wir an Gerechtigkeit“, sagte der US-Milliardär, der seit der Gründung von Gavi im Jahr 2000 hinter der Organisation steht. Heute ist das Bündnis ein schlagkräftiger Zusammenschluss aus Regierungen, Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Weltbank sowie NGOs (Nicht-Regierungsorganisationen), Impfstoffherstellern, wissenschaftlichen Einrichtungen und Privatspendern.

Berlin ist ein erneuter Beweis: Der Microsoft-Gründer Gates spielt mit seinen Milliarden in der internationalen Entwicklungshilfe in einer Liga mit potenten Staaten wie den USA und Großbritannien. Dank des Engagements und des Geldes von Gates hat die globale Impfallianz in den vergangenen Jahren viel bewegen können: Die Allianz impfte nach eigenen Angaben 500 Millionen Kinder gegen Krankheiten wie Masern, Röteln, Polio, Lungenentzündung und Durchfall. Soviel ist sicher: Ohne Gates wäre die internationale Staatengemeinschaft heute noch weiter vom Erreichen der sogenannten Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, kurz: MDGs) entfernt; mit Gates sind einige von ihnen überhaupt noch in Sichtweite.

Die Vereinten Nationen (UN) haben die Millenniumsziele im Jahr 2000 selbst definiert. Die kühne Vision: Bis 2015 sollte durch internationale Entwicklungshilfe die Armut weltweit halbiert werden. Dafür wurden acht Ziele festgelegt (siehe Kasten). Es war ein bis dato beispielloser Schulterschluss der internationalen Staatengemeinschaft im Kampf gegen weltweite Armut und Ungleichheit. Vier dieser acht Millenniumsziele konzentrieren sich auf Gesundheitsfragen: Armut und Hunger bekämpfen (Ziel 1), Kindersterblichkeit verringern (Ziel 4), Müttergesundheit verbessern (Ziel 5), übertragbare Krankheiten wie HIV/Aids und Malaria bekämpfen (Ziel 6).

Ziele wurden verfehlt

Heuer – im Jahr, in dem die Ziele auslaufen und die internationale Staatengemeinschaft ihre Schlussbilanz vorlegen muss – bleibt von den hehren Zielen trotz messbarer Erfolge und unverkennbarer Fortschritte viel Ernüchterung. Es ist sichtbar, dass die ausgerufenen Entwicklungsziele in weiten Teilen verfehlt werden.

Beispiel Kampf gegen Hunger: Der Anteil der unterernährten Menschen in Entwicklungsregionen hat sich von 24 Prozent in den Jahren 1990 bis 1992 auf 14 Prozent in den Jahren 2011 bis 2013 verringert. Allerdings ist das Fortschrittstempo besonders im vergangenen Jahrzehnt deutlich gesunken. Das Ziel, die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, zu halbieren, wird wohl nicht ganz erreicht; vor allem deswegen, weil die Situation in vielen afrikanischen Ländern weiterhin schwierig ist. Nach Angaben der Welthungerhilfe gibt es weltweit immer noch mehr als 800 Millionen Menschen, die hungern. Allein 162 Millionen Kleinkinder sind chronisch unterernährt.

Beispiel Kindersterblichkeit: Auch hier gibt es sichtbare Erfolge. Die Kindersterblichkeit sinkt in nahezu allen Regionen der Welt mit Ausnahme südliches Afrika, berichtete das UN-Kinderhilfswerk UNICEF Ende vergangenen Jahres. Vor zwei Jahrzehnten starben weltweit 12,6 Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag. Heute sind es deutlich weniger, aber immer noch zu viele: 6,3 Millionen Kinder erleben ihr fünftes Lebensjahr nicht. Eine Million Kinder stirbt bereits am Tag der Geburt, 2,8 Millionen überleben die ersten vier Wochen nicht. Jedes dritte Kind kommt ohne medizinische Betreuung zur Welt (2012). Doch: Trotz der Fortschritte erreicht die Welt das gesetzte Ziel zur Senkung der Kindersterblichkeit nicht. Als Millenniumsziel wurde ausgerufen, die Kindersterblichkeit bis 2015 um zwei Drittel im Vergleich zu 1990 zu senken. Gesenkt wurde die Rate um knapp die Hälfte.

Beispiel Müttergesundheit: Die Müttersterblichkeit sollte bis 2015 um drei Viertel reduziert werden. Doch die offiziell verkündeten Zahlen liegen deutlich darunter. Nach UN-Angaben sank die globale Müttersterblichkeitsrate zwischen 1990 und 2013 um 45 Prozent. Weltweit starben 2013 fast 300.000 Frauen an Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt. Im aktuellen UN-Bericht zu den Millenniumszielen heißt es dazu: „Müttersterbefälle sind größtenteils vermeidbar, und es muss viel mehr für die Betreuung schwangerer Frauen getan werden.“

Beispiel vermeidbare Erkrankungen:
Bereits seit einigen Jahren gibt es eine Verbesserung beim Zugang zu sauberem Trinkwasser – was in den Millenniumszielen als konkrete Etappe festgeschrieben war. Nach UN-Angaben ist „das Ziel der Halbierung des Bevölkerungsanteils ohne Zugang zu verbesserter Wasserversorgung (…) erreicht“. 89 Prozent der Weltbevölkerung hätten heute Zugriff auf sauberes Wasser. Auch gibt es weltweit deutlich mehr sanitäre Einrichtungen. Allerdings: Weiterhin verrichten eine Milliarde Menschen ihre Notdurft im Freien. Der Zugriff auf Medikamente – vor allem zur Behandlung von HIV – sowie Impfungen ist verbessert worden. Doch: Definiertes Ziel war es, bis 2015 „die Ausbreitung von HIV/AIDS zum Stillstand zu bringen und eine Trendumkehr zu bewirken“.

Dieses Ziel wird nicht erreicht. Größer sind dem Bericht aus dem Jahr 2014 zufolge die Fortschritte der Entwicklungsziele beim Kampf gegen Malaria und Tuberkulose. Zwischen 2000 und 2012 gelang es nach offiziellen Schätzungen, allein 3,3 Millionen Malaria-Todesfälle dank Aufklärung und dem Verteilen von Moskitonetzen abzuwenden. Geschätzte 22 Millionen Menschenleben konnten durch Anstrengungen im Kampf gegen Tuberkulose gerettet werden. Gänzlich gestoppt werden konnte die Ausbreitung dieser und weiterer Krankheiten jedoch nicht.

Wirtschaftskrise hat fatale Auswirkungen

Warum ist es nicht gelungen, die Millenniumsziele zu erreichen? Ein herber Einschnitt war die weltweite Wirtschafts- und Finanzkrise. Sie traf viele Entwicklungs- und Schwellenländer überproportional hart. Wachstum wurde ausgebremst, Löhne gingen zurück und die Preise von ohnehin teuren Nahrungsmitteln stiegen weiter an. Viele der finanzstarken Geberländer hielten außerdem ihre gemachten Zusagen für die Entwicklungshilfe vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise nicht ein und kürzten die Mittel. Im Jahr 2009 warnten die Vereinten Nationen offen davor, dass die Weltwirtschaftskrise die Millenniumsziele gefährden könnte: „Die weltweite Wirtschaftskrise hat Fortschritte beim Kampf gegen Armut und Hunger verlangsamt oder sogar umgekehrt.“

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon appellierte damals an die Geber, zu ihren Zusagen zu stehen. „Wir müssen trotz des ungünstigen wirtschaftlichen Klimas die im Jahr 2000 gegebenen Versprechen einhalten. Die internationale Gemeinschaft darf die Armen und Schwachen nicht alleine lassen. Es ist höchste Zeit, um mehr für die Millenniums-Entwicklungsziele zu tun. Mit starkem politischen Willen und ausreichenden finanziellen Mitteln bleiben die Ziele noch in Reichweite.“ Doch die ungünstige Entwicklung setzte sich fort: Allein im Jahr 2011 ging die weltweite Entwicklungshilfe um drei Prozent zurück. Es wurden fast 167 Milliarden Euro weniger bereitgestellt, als für das Erreichen der Millenniumsziele erforderlich gewesen wäre.

Auch die Auswirkungen des Klimawandels und die Welternährungskrise werden als Faktoren genannt, warum die Millenniumsziele außer Reichweite geraten sind. Vor allem die weltweit gestiegene Nachfrage nach Agrar-Rohstoffen, die im Jahr 2008 die Welternährungskrise einleitete, gilt als treibender Faktor. Die boomende Nachfrage nach Lebensmitteln – bedingt durch den Wirtschaftsaufschwung in Asien -, ein Biosprit-Hype, Börsen-Spekulationen und das konstante Bevölkerungswachstum auf der Erde verschärften die Not der Ärmsten auf der Welt.

Das Nicht-Erreichen der Millenniumsziele allein durch die Krisen der jüngeren Jahre zu erklären, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Nach dem anfänglichen Schwung zu Beginn der 2000er Jahre geriet die UN-Vision von einer besseren Welt schon deutlich früher ins Schwanken. Bereits zur Halbzeit 2007 bilanzierten die Vereinten Nationen und die Weltbank, dass zahlreiche Regierungen bei der Verwirklichung der Ziele nicht im Zeitplan lagen. Von nichtstaatlichen Akteuren gab es schon damals teils scharfe Kritik an der Staatengemeinschaft. In ihrem regelmäßigen Bericht zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe kritisierten etwa die Welthungerhilfe und das Kinderhilfswerk „terre des hommes“ bereits 2007, dass sich insbesondere in Afrika viele Länder südlich der Sahara von den Zielvorgaben entfernten. „Armut, Hunger und Kindersterblichkeit nehmen in Ländern wie Simbabwe, Sambia und Nigeria eher zu als ab“, hieß es bereits damals. Schuld an den mangelnden Fortschritten treffe sowohl die lokalen Regierungen als auch die reichen Länder, die die politischen Zusagen nicht eingehalten hätten.

Neue Zukunftsagenda steht bereits

Heute – kurz vor Ende der Frist – räumt die internationale Gemeinschaft ein, dass noch nicht genug erreicht ist. An einem neuen Fahrplan für die Entwicklungshilfe wird bereits seit Jahren gearbeitet. Im September 2015 soll auf einem UN-Gipfeltreffen in New York diese „Post-2015-Agenda“ verabschiedet werden. Laufzeit: bis 2030. Auf die acht Millennium Development Goals folgen 17 Sustainable Development Goals (SDGs). Die Weltgemeinschaft hat erkannt, dass Entwicklungshilfe heute breiter ansetzen muss und ineinander verkettete strukturelle Ursachen behoben werden müssen. Adressat der Agenda sind nicht mehr lediglich Entwicklungs- und Schwellenländer, sondern auch die Industrieländer – und damit die Welt als Ganzes.

Zu den 17 neuen Zielen gehören nach wie vor Punkte mit starkem Gesundheitsbezug. Die Staatengemeinschaft will den Hunger weiter bekämpfen, die Gesundheit fördern und weltweit für sauberes Wasser und sanitäre Einrichtungen sorgen. Besonderes Augenmerk soll darauf liegen, die Müttersterblichkeit zu senken und zu verhindern, dass Neugeborene und Kinder unter fünf Jahren an vermeidbaren Toden sterben. Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und Malaria sollen in den kommenden Jahren vollständig eliminiert werden.

Eine besondere Rolle bei der Gestaltung der künftigen entwicklungspolitischen Agenda kommt Deutschland zu. Da sie die G7-Präsidentschaft inne haben, werden sie Gastgeber des G7-Gipfeltreffens im Juni 2015 im bayerischen Elmau sein. Dort werden die Staats- und Regierungschefs der sieben bedeutendsten Industrienationen der Welt zusammenkommen. Neben Außen- und Wirtschaftspolitik wird die Entwicklungspolitik eine zentrale Rolle spielen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits verkündet, dass das Thema Weltgesundheit ein Schwerpunkt der deutschen G7-Präsidentschaft sein wird. Zu den inhaltlichen Akzenten, die Merkel setzen will, gehört die Gesundheitsvorsorge, die Stärkung von Gesundheitssystemen sowie die Ernährungssicherheit. Bereits zum Jahresanfang hat die Kanzlerin ein Zeichen gesetzt. Als Schirmherrin der Gavi-Geberkonferenz sagte sie der Impfallianz zu, in den kommenden fünf Jahren 600 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.

Zum Vergleich: Im Jahr 2014 unterstützte Deutschland Gavi mit 38 Millionen Euro, zwischen 2006 und 2014 waren es 134 Millionen. Die Ergebnisse der Geberkonferenz insgesamt konnten sich sehen lassen. Zwischen 2016 und 2020 werden durch die Allianz 6,6 Milliarden Euro bereitgestellt, um Impfstoffe für 300 Millionen Kinder zu finanzieren. Fünf bis sechs Millionen Kinderleben – so die Prognose – sollen dadurch gerettet werden können. Anerkennung für die Leistungen von Gavi gab es von höchster Stelle. In einer Videobotschaft lobte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon die Erfolge des Bündnisses und bezeichnete die Allianz als „wichtigen Partner“ auf dem Weg, die neuen Entwicklungsziele der Staatengemeinschaft zu erreichen. Bill Gates wird dieses Lob gerne gehört haben.

Die Millenniumsziele der Vereinten Nationen

Der Weg zu den MDGs wurde im Jahr 2000 auf dem Gipfeltreffen der Vereinten Nationen in New York bereitet. Staats- und Regierungschefs von 189 Ländern beschlossen damals einen ambitionierten Fahrplan für nachhaltige Entwicklung. Im Jahr darauf erarbeitete eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Vereinten Nationen, der Weltbank, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sowie mehreren Nicht-Regierungsorganisationen eine Liste von acht Zielen zur Umsetzung der Vorgaben der UN-Millenniumserklärung.

Ziel 1: Bekämpfung von extremer Armut und Hunger
Ziel 2: Primärschulbildung für alle
Ziel 3: Gleichstellung der Geschlechter/Stärkung der Rolle der Frauen
Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit
Ziel 5: Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Müttern
Ziel 6: Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und andere schweren Krankheiten
Ziel 7: Ökologische Nachhaltigkeit
Ziel 8: Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung

Die Geldgeber

Auf Platz eins der OECD-Geberländer für internationale Entwicklungshilfe liegen die USA. Im Jahr 2013 stellen die Amerikaner 31,55 Milliarden US-Dollar von insgesamt 134,8 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Dahinter folgen Großbritannien, Deutschland, Japan und Frankreich. Österreich gab 1,17 Milliarden US-Dollar und nimmt damit Rang 18 unter den Geberländern ein.

Nach teils starken Rückläufen in den Vorjahren ist die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (OAD) im Jahr 2013 wieder gestiegen und hat sogar  Rekordniveau erreicht. 17 OECD-Mitgliedstaaten haben ihre Ausgaben für Entwicklungshilfe 2013 erhöht. Die Schere klafft jedoch weit auseinander. Während beispielsweise Großbritannien seine Ausgaben um 27,8 Prozent erhöht hat, hat das von der Krise gebeutelte Portugal seine Entwicklungshilfe um 20,4 Prozent gesenkt. (Quelle: OECD/Ausschuss für Entwicklungshilfe; OECD/DAC, Stand April 2014)

Speziell Deutschland, das dank seiner Wirtschaftsstärke gut durch die Wirtschafts- und Finanzkrise gekommen ist, muss sich zunehmender Kritik stellen. Es leiste – gemessen an seiner Wirtschaftskraft – einen zu geringen Beitrag. In relativen Zahlen ist der deutsche Beitrag tatsächlich nur Mittelmaß. Lediglich 0,38 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) flossen 2013 in die Entwicklungszusammenarbeit. Ziel ist, dass die OECD-Länder 0,7 Prozent ihres BIP zur Verfügung stellen. Dies machen aktuell aber nur Großbritannien, Schweden, Norwegen, Dänemark und Luxemburg.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2015