USA Therapieoptionen am Lebensende: Gespräche werden honoriert

15.12.2015 | Politik

Ab Jänner 2016 werden in den USA Ärzten, die Medicare-Patienten versorgen, Gespräche über medizinische Entscheidungen am Lebensende vergütet. Während eine entsprechende Initiative 2009 rigoros abgelehnt wurde, gibt es für den jetzigen Vorstoß parteiübergreifend Unterstützung. Von Nora Schmitt-Sausen

Death panels: So lautet die dramatische Beschreibung für Gespräche über Behandlungsoptionen am Lebensabend, die seit Jahren durch Teile der US-amerikanischen Medien geistert. Die Worte finden sich auf meterhohen Werbewänden, im Radio und auch in Internet-Kampagnen im ganzen Land. Die irreführende These: Bürokraten würden darüber entscheiden, wer im Alter medizinische Versorgung erhält. Aufgestellt wurde diese falsche Behauptung im Jahr 2009 von der republikanischen Politikerin Sarah Palin während der hitzigen Debatte über die US-amerikanische Gesundheitsreform; damals sollten entsprechende Beratungsgespräche aufgenommen werden. Doch der Aufschrei war so groß, dass die Passage aus dem Gesetzesentwurf gestrichen werden musste. Auch später gelang es nicht, diese zu etablieren. Zu tief hatte sich Palins Botschaft von den angeblichen „death panels“ in den Köpfen der Amerikaner eingebrannt. Doch die Zeiten haben sich geändert. Inzwischen wird der Vorstoß parteiübergreifend unterstützt – ein nach wie vor seltener Vorgang in Washington. Die Folge: Künftig werden Ärzte, die Medicare-Patienten versorgen, für Gespräche über medizinische Entscheidungen am Lebensende vergütet.

Die neue Vergütungsregelung macht in den USA den Weg frei für einen offeneren Umgang mit dem Thema Sterben. Bereits ab Januar 2016 wird es einen staatlich abgesteckten Rahmen geben, damit Ärzte mit ihren Patienten darüber reden können, wie sie am Lebensabend versorgt werden wollen. Es kann beispielsweise zur Sprache kommen, ob Patienten lebenserhaltende Maßnahmen erhalten möchten und wenn ja, welche. Der Arzt soll darüber aufklären, welche Therapieoptionen möglich sind, der Patient die für ihn wichtigen Wünsche äußern. Umfragen zufolge geht es dabei vor allem um die Lebensqualität und das Schmerzmanagement.

„Patienten und Familien können diese Unterredungen haben, wann und wo sie wollen“, erläutert Patrick Conway von der staatlichen Behörde Centers for Medicare and Medicaid Services in der New York Times. Die Beratungen sind möglich, bevor Patienten krank werden, nachdem sie eine schwere Diagnose bekommen haben oder solange sie Hospiz- oder Palliativmedizin erhalten.

Der Honorarrahmen für die ärztlichen Gespräche ist klar definiert: Für eine erste halbstündige Beratung sollen in einer Arztpraxis 86 US-Dollar abgerechnet werden können. 80 US-Dollar zahlt Medicare, wenn ein solches Gespräch zwischen Arzt und Patient im Krankenhaus stattfindet. Für eine 30-minütige Folgeberatung zahlt der staatliche Versicherer neuerlich bis zu 75 US-Dollar. Wenn Monate oder Jahre später erneut Gespräche erforderlich sein sollten, werden sie ebenso vergütet. Warum es nach vielen Jahren der bitteren Kontroverse möglich geworden ist, diesen Schritt ziemlich ohne größere Widerstände durchzusetzen, erklärt sich Conway unter anderem auch damit: „Wir haben überwältigend positive Kommentare über die enorme Bedeutung dieser Gespräche zwischen Ärzten und Patienten bekommen. Wir wissen, dass viele Patienten und Familien diese Unterredungen führen wollen.“

Dieser Wandel in der Haltung zum Thema ‚medizinische Versorgung am Lebensende‘ wird auch an anderer Stelle sichtbar. Auch mehrere US-amerikanische Privatversicherer honorieren seit kurzem solche Beratungsgespräche. Diese Öffnung erfolgte nicht zuletzt, weil die Versicherer ihren Umgang mit dem Sterben in Zeiten des demographischen Wandels ändern müssen.

Gesprächstraining für Ärzte

In medizinischen Fachkreisen in den USA herrscht bereits lange Einigkeit darüber, dass das sogenannte „advance care planning“ überfällig sei. Die American Medical Association beispielsweise macht sich bereits seit vielen Jahren für die nun möglich gewordene Vergütungsregelung stark. Auch führende Seniorenverbände stehen hinter dem Schritt der Obama-Regierung, im Medicare-System nun endlich einen entsprechenden Mechanismus für Aufklärungsgespräche zu schaffen.

Der demokratische Abgeordnete Earl Blumenauer nannte die Entscheidung einen „Wendepunkt“ in der Patientenversorgung am Lebensende. Blumenauer ist der Motor dieser Initiative. Bereits seit sechs Jahren arbeitet er daran, dass die Patientenwünsche bei der Behandlung am Lebensabend mehr berücksichtigt werden. Befürworter wie Blumenauer sind sich einig: Die Änderung der Vergütungsregeln ist ein großer und symbolischer, allerdings nur ein erster Schritt. In einem nächsten müssen Ärzte in diesem sensiblen Thema und in der Gesprächsführung geschult werden. Schon während der Ausbildung an den US-amerikanischen Medical Schools soll hier angesetzt werden. So muss beispielsweise auch noch geklärt werden, wie die Gespräche dokumentiert, die Inhalte verwaltet und im Fall der Fälle zugänglich gemacht werden sollen.

Medicare: große Rolle am Lebensende

Das staatliche Versicherungsprogramm Medicare versorgt in den USA 55 Millionen Senioren über 65 Jahre sowie Menschen mit Behinderungen. Nach Angaben der renommierten Kaiser Family Foundation sind etwa drei Viertel aller Menschen, die jedes Jahr in den USA sterben, 65 Jahre und älter. Damit ist Medicare der größte Versicherungsanbieter am Lebensende. Die Betreuung in den letzten Lebensjahren ist in jüngerer Vergangenheit immer stärker auf die politische Agenda gerückt. In den USA altern derzeit Millionen Mitglieder aus der Generation der Babyboomer.

Die gemeinnützige Kaiser Family Foundation, die Forschung und Aufklärung im Gesundheitswesen betreibt, weist im Zuge der Debatte über die Beratungen auch auf die hohen Versorgungskosten hin, die bis dato in den USA am Lebensende entstehen. Denn: Circa ein Viertel der Medicare-Ausgaben fallen laut Angaben der Stiftung für die Behandlung im letzten Lebensjahr an.

Stuart M. Butler, Gesundheitsexperte am renommierten Brookings Institut, kommentiert die aktuelle Entwicklung in einem Fachbeitrag so: „Es ist ein guter Vorschlag, der eine wachsende Erkenntnis der Amerikaner widerspiegelt, dass das Gesundheitssystem zu leicht auf Autopilot schaltet und invasive Verfahren einsetzt, die oftmals wenig tun, um die Lebensqualität des Patienten zu verbessern. Diese Situation ist besonders für viele Familien schwierig, wenn ein geliebter Angehöriger die letzten Wochen des Lebens erreicht hat und Unsicherheit oder Streitigkeiten über die Wünsche des Patienten bestehen.“ Ärzte nun dafür zu bezahlen, sich Zeit für das sensible und wichtige Thema zu nehmen, sei „ein guter Anfang“, um der schwierigen Frage der medizinischen Behandlung am Lebensende zu begegnen.

Die Demoskopie zeigt es: Bislang ist der Austausch über medizinische Entscheidungen am Lebensende noch selten. Bei einer Umfrage der Kaiser Family Foundation gab weniger als einer von fünf Befragten an, jemals ein solches Gespräch geführt zu haben. Andere Erhebungen belegen, dass es nur in wenigen Fällen konkrete Pläne darüber gibt, was in der letzten Lebensphase passieren soll.

Die Unterstützung für den Vorstoß der Regierung ist groß. 89 Prozent der Amerikaner sind dafür, dass Ärzte die Fragen über die medizinische Versorgung am Lebensende mit ihren Patienten besprechen. Eine große Mehrheit von 81 Prozent unterstützt, dass Medicare diese ärztliche Beratung vergütet. Allerdings müssen sich die US-amerikanischen Ärztinnen und Ärzte das Vertrauen der Patienten noch erarbeiten. So hat eine Umfrage ergeben, dass die Amerikaner vorwiegend mit ihrem Partner über die Versorgung am Lebensende sprechen wollen. 83 Prozent sagen, das dieser Gedanke für sie naheliegend und in Ordnung sei.

Die Bereitschaft, mit Ärzten und anderem medizinischen Personal über das sensible Thema zu sprechen, ist weniger ausgeprägt. Lediglich 57 Prozent der Befragten sind zu einem solchen Arzt-Patienten-Gespräch derzeit bereit. Dieser Anteil ist ähnlich hoch wie die Gesprächsbereitschaft mit anderen Gruppen: Kinder (55 Prozent), Freunde (51 Prozent), eigene Eltern (51 Prozent) sowie Priester/ spiritueller Berater (50 Prozent).

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2015