USA: Nationale Impfdebatte ausgebrochen

10.03.2015 | Politik

In den USA sind die Masern ausgebrochen. Innerhalb kurzer Zeit sind in 17 Bundesstaaten Erkrankungsfälle aufgetreten. Gegner und Befürworter debattieren seither ähnlich wie in Österreich – in einer teils emotional aufgeladenen Diskussion – Vorteile und Risiken des Impfens.
Von Nora Schmitt-Sausen

Impfen oder nicht? Diese Frage wird in den USA derzeit so aktuell diskutiert, dass sogar der US-amerikanische Präsident Stellung beziehen musste. Barack Obamas Position ist eindeutig: „Es gibt nur Gründe, die für das Impfen sprechen, keine dagegen“, sagte er kürzlich im Gespräch mit dem US-amerikanischen Fernsehsender NBC. Er verstehe die Sorgen von Eltern, doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Impfen seien eindeutig. „Impfen ist gut für die Kinder.“ Der Präsident ist die populärste Stimme in einer emotional geführten Impfdebatte, die in den USA dank Social Media, hysterischer TV-Berichterstattung und Propagandafilmchen der Impfgegner in die Wohnzimmer der Amerikaner getragen wird.

Ende Dezember des Vorjahres gab es einen Masernausbruch in Kalifornien. Seither wurden in 17 Bundesstaaten Erkrankungen registriert und für mehr als 141 Krankheitsfälle verantwortlich gemacht. Tendenz steigend. Als Auslöser gilt ein infizierter Besucher im Vergnügungspark Disneyland, der andere ansteckte. Der Masernausbruch hat Gesundheitsexperten alarmiert, denn er ist nicht der erste in jüngerer Zeit. Bereits im Jahr 2014 traten in den USA mit insgesamt 644 Erkrankten überproportional viele Fälle auf. Zum Vergleich: Zwischen 2000 und 2014 gab es landesweit durchschnittlich lediglich 60 dokumentierte Fälle jährlich. Seit 2000 gelten die Masern in den USA offiziell als ausgerottet.

Die steigende Zahl von Infektionen wird – ebenso wie in Österreich und in Deutschland, das gerade ebenfalls mit einer Welle von Masernfällen kämpft – auf Impflücken zurückgeführt. Die Gesamt-Quote für die Masern-Mumps-Röteln-Impfung ist in den USA hoch: 91,9 Prozent der Kinder zwischen 19 und 35 Monaten sind geimpft (Stand 2013). Doch die Impfraten variieren von Bundesstaat zu Bundesstaat erheblich und können sich dort noch einmal von Region zu Region unterscheiden. Kaiser Permanente, einer der großen Gesundheitsdienstleister in den USA, nannte kürzlich in einer Fallstudie für North Carolina eine Nicht-Immunisierung von bis zu 23 Prozent in manchen Regionen des Bundesstaates.

Ratio versus Emotion

Während sich Präsident Obama mit seinem Appell auf die Ratio beruft, stehen bei amerikanischen Impfgegnern – wie auch bei vielen Europäern – Emotionen im Vordergrund, wenn es um die Frage geht, Kinder impfen zu lassen. Hartnäckig halten sich Bedenken, Kinder durch Impfungen einer chemischen Substanz auszusetzen und dadurch ein Risiko einzugehen. Manche US-amerikanische Bürger sitzen außerdem dem Glauben auf, eine Masernimpfung sei heutzutage nicht mehr notwendig. Eine Besonderheit der USA ist, dass sich einige Eltern in der Verpflichtung zum Impfen in ihren persönlichen Freiheitsrechten angegriffen fühlen. Außerdem steht ein bestimmter Schlag von Amerikanern wissenschaftlichen Erkenntnissen grundsätzlich skeptisch gegenüber.

Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Anti-Impf-Fraktion in ihrer Argumentation ausgerechnet auf eine wissenschaftliche Studie stützt – und damit sehr erfolgreich ist. Die Impfgegner berufen sich auf eine Untersuchung aus dem Jahr 1998, die im Lancet erschienen ist. Darin stellen der britische Arzt Andrew Wakefield und seine Co-Autoren eine Verbindung zwischen der kombinierten Masern-Mumps-Röteln-Impfung und Autismus her. Die Studie, die schnell über die Landesgrenzen hinweg für Furore sorgte, wurde im Jahr 2010 vom Lancet offiziell zurückgerufen. Wakefield verlor sogar seine Lizenz. Es war bekannt geworden, dass er finanzielle Zuwendungen von Eltern autistischer Kinder bekommen hatte und Inhalte seiner Untersuchung gefälscht waren.

Doch das Autismus-Gerücht hält sich besonders unter Amerikanern hartnäckig. Wakefield gilt in den USA als der „Vater der Anti-Impf-Bewegung“, urteilte die US-Zeitschrift Newsweek. Das renommierte Magazin zitierte Umfrageergebnisse, aus denen hervorgeht, dass 29 Prozent der US-amerikanischen Eltern glauben, dass Impfungen zu Autismus führen können. Selbst auf offiziellen Informationsdokumenten der US-Regierung wird darauf hingewiesen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Autismus und der Masern-Mumps-Röteln-Impfung gibt. Impfbefürworter beklagen im Zuge der Autismus-Debatte seit Jahren eine „gezielte Missinformation“ der amerikanischen Bevölkerung.

Präsident Obama, staatliche Stellen und Impfbefürworter berufen sich in ihrer Argumentation dagegen auf die zahlreich belegten wissenschaftlichen Erfolge des Impfens. Diese zeigten, wie wirksam und risikoarm Impfungen seien. Die oberste US-amerikanische Gesundheitsbehörde rechnet vor: Impfungen schützen jährlich 2,5 Millionen amerikanische Kinder vor potentiellen Erkrankungen. Die WHO (Weltgesundheitsorganisation) pflichtet dieser positiven Haltung bei. Sie bezeichnete Impfungen unlängst als „eine der besten Errungenschaften im öffentlichen Gesundheitswesen“.

Verschärfung der Impfpflicht?

Das jüngste Aufflammen der Impfdebatte führt in den USA sogar zu Forderungen nach einer landesweit einheitlichen, zwingenden Impfpflicht. Bislang haben die Bundesstaaten bei Impffragen das Sagen. Sie bestimmen, ob und welche Impfungen verpflichtend sind und bekommen von der obersten Gesundheitsbehörde in Washington DC lediglich Empfehlungen an die Hand. Es gibt Empfehlungslisten für Kinderimpfungen und Immunisierungspläne für das Erwachsenenalter. Diese Listen enthalten auch die Impfung gegen Masern.

Den Impfempfehlungen aus Washington DC wird landesweit relativ strikt gefolgt. In allen 50 US-amerikanischen Bundesstaaten gibt es verpflichtende Impfungen, die Kinder erhalten haben müssen, bevor sie in den Kindergarten oder in die Schule gehen. Dennoch ist der Impfschutz nicht allumfassend. Ausgenommen davon sind überall Kinder, die auf Grund von Erkrankungen nicht geimpft werden können, etwa wenn sie an Krebs erkrankt sind oder immunologische Probleme haben. Außerdem akzeptieren es 48 von 50 Bundesstaaten, wenn Impfungen aus religiösen Gründen abgelehnt werden. In 19 Bundesstaaten können sich Eltern außerdem aus persönlichen und philosophischen Gründen gegen das Impfen ihrer Kinder entscheiden. Der US-Bundesstaat Mississippi, einer der zwei Bundesstaaten in denen keine Ausnahmen auf Grund von Religion möglich sind, stellt per Gesetz die Gesundheitsfürsorge der Gesamt-Bevölkerung höher als die Begehren einzelner Eltern. Mississippi hat mit 99,7 Prozent geimpfter Schulkinder die höchste Masern-Impfquote des Landes. Seit 1992 gab es in dem Bundesstaat keinen offiziell dokumentierten Masernfall mehr. Auch in Kalifornien wird aktuell diskutiert, dass nur noch medizinische Gründe Hindernisse bei der Impfpflicht sein können. In einigen Bundesstaaten können lokale Gesundheitsbehörden ungeimpften Kindern den Schulbesuch untersagen („No shot, no school“).

Doch auch die Impfgegner sind auf legislativer Ebene aktiv: „Zwischen 2009 und 2012 sind in zahlreichen Bundesstaaten insgesamt 31 Gesetzesentwürfe vorgelegt worden, die darauf abzielen, leichter Ausnahmen zu erhalten“, analysiert Impfexperte Saad B. Omer, Associate Professor of Global Health, Epidemiology & Pediatrics an der Emory Universität in Atlanta/Georgia in einem Gastbeitrag in der New York Times.

Zu den Impfbefürwortern zählt auch die potentielle US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Sie schaltete sich unlängst per Twitter in die Impfdebatte ein. „Die Wissenschaft ist eindeutig: Die Erde ist rund, der Himmel blau und Impfungen wirken.“ Ihr Pendant auf der Gegenseite ist der republikanische Senator Rand Paul, ebenfalls ein potentieller Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur. Er sagte vor laufenden Kameras, dass er „von vielen tragischen Fällen gehört habe“, in denen normale Kinder nach einer Impfung mit massiven mentalen Problemen zu kämpfen hatten.

Kurze Zeit später musste er einräumen, dass es keine Belege für diese Schilderungen gab – doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich sein Statement bereits medial im ganzen Land verbreitet. Äußerungen wie diese sind es, von denen die Impfhysterie in den USA befeuert wird.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2015