Interview – Willy Oggier: Reglementierung = Tod jeder Innovation

10.10.2015 | Politik

Die Gesundheitsversorgung sicherzustellen sei Aufgabe der Politik – allerdings sollte dabei nicht allzu viel reglementiert werden, fordert der Zürcher Gesundheitsökonom Willy Oggier. Primärzentren könnten dabei ein Teil der Lösung sein, aber man dürfe es nicht so darstellen, als wäre das die Lösung. Das Gespräch führte Agnes M. Mühlgassner.

ÖÄZ: Die Ökonomie spielt in der Medizin eine immer größere Rolle, für manche eine zu große Rolle. Wie sehen Sie das?
Oggier: Man muss unterscheiden zwischen der Frage der Ökonomisierung des Gesundheitswesens und der Nutzung wettbewerblicher Instrumente im Gesundheitswesen. Für die meisten Gesundheitsökonomen ist Wettbewerb ein Instrument und nicht eine Ideologie. Ärzte setzen oft mehr Wettbewerb mit Ökonomisierung gleich. Das ist vielleicht auch eine Bringschuld der Ökonomen. Aber es gibt bestimmte Bereiche, wo wir Ökonomen sehr dafür plädieren, mehr Wettbewerb im System zu haben.

Zum Beispiel?
In fast allen Ländern Westeuropas gibt es die Diskussion darüber, wie Berufsgruppen stärker zusammenarbeiten und das Bedürfnis nach freier Arztwahl. Doch die Politik vermischt die beiden Dinge. Wir leben in einer Multi-Optionsgesellschaft. Da muss Wettbewerb im Sinn der unterschiedlichen Wahl zwischen verschiedenen Optionen zugelassen werden. Die Politik macht oft genau das Gegenteil, wenn sie sagt: Du musst immer zuerst zum Grundversorger, bevor Du zum Spezialisten gehst oder wir zwingen Dich irgendwo in ein Primärarzt-Zentrum. Diese Diskussion ist aus ökonomischer Sicht eigentlich völlig falsch.

Worum sollte es denn gehen aus ökonomischer Sicht?
Zuerst gilt es einmal die Frage zu stellen, welches Ziel verfolgt werden soll. Wettbewerb ist in der Regel kein Instrument, um Kosten einzudämmen. Aber Wettbewerb ist ein sehr gutes Instrumentarium, um Innovation in ein System hineinzubringen und um neue Versorgungsformen zu fördern. Wenn Wettbewerb ein geeignetes Instrument zur Zielerreichung ist, stellt sich die Frage, ob der Wettbewerb überhaupt spielen kann.

Wie beurteilen Sie die Situation des österreichischen Gesundheitswesens?
Beim Vergleich zwischen der Schweiz und Österreich bin ich bezüglich der österreichischen Situation sehr nachdenklich geworden, weil wir Schweizer fast durchwegs bessere Werte haben, obwohl wir durch die vier verschiedenen Landessprachen und Kulturen eine deutlich schwierigere Ausgangssituation haben und oft nicht genügend große Einzugsgebiete für hochspezialisierte Versorgungsbereiche aufweisen. Erschrocken bin ich über die relativ schlechte psychiatrische Versorgung in Österreich. Die grundsätzliche Frage lautet daher: Wie verändern wir Systeme für den künftigen Bedarf einer älter werdenden Gesellschaft, in der die Bedeutung psychiatrischer Versorgung und die Rehabilitation überproportional zunehmen dürfte. Im Grunde genommen geht es darum, das Gesundheitsversorgungssystem weg vom somatisch-akut-Stationären hin zum ambulant-Präventiven und zum post-akut-Rehabilitativen zu verändern.

In Österreich versucht man das gerade über die Einführung von PHCs.
Solche Zentren können ein Teil der Lösung sein, aber es darf nie so dargestellt werden, als wäre das die Lösung. Politik hat eine ganz wichtige Anreizfunktion. Wenn immer wieder gesagt wird: Wir brauchen Primärärzte, wir wollen Grundversorger, dann ist das kein gutes Signaling für andere Ärzte, die wir etwa im psychiatrischen oder rehabilitativen Bereich brauchen.

In Österreich ist derzeit ein PHC-Gesetz in Vorbereitung.
Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass die Politik sagt: Wenn wir neue Versorgungsformen fördern, setzen wir Rahmenbedingungen und Regularien zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung der Patienten. Aber wenn wir beginnen, Besoldungen, Arbeitszeiten und juristische Formen bis in kleinste Details zu reglementieren, dann ist das der Tod jeder Innovation, weil das zusätzliche Korsetts sind, die es noch schwieriger machen, innovative zeitgemäße Versorgungsformen zu fördern.

Vor welchen Herausforderungen im Gesundheitsbereich stehen wir angesichts knapper finanzieller Ressourcen und der demographischen Entwicklung?
Es gibt verschiedene Herausforderungen. Das erste ist, dass wir uns viel stärker auf Qualität fokussieren müssen. Politik sollte das Gesundheitswesen viel stärker von der Nutzenperspektive her betrachten und nicht immer als Kostenverursacher darstellen.

Nutzenperspektive heißt konkret?
Was in jünger werdenden Gesellschaften Investition in Bildung ist, ist in älter werdenden Gesellschaften Investition in das Gesundheitswesen, nämlich die Sicherstellung gesunder Lebensjahre. Wenn wir die demographische Entwicklung anschauen, dann muss insbesondere auch den großen Wirtschaftsverbänden klar werden, dass die Leute nicht mit 60 oder 55 Jahren vorzeitig in Rente gehen können, sondern dass es die Hauptaufgabe sein muss, die Menschen so erwerbsfähig zu erhalten, dass sie bis 70 Jahre arbeiten können. Natürlich rede ich nicht vom Arbeiter, der 30 Jahre lang am Bau beschäftigt war und über Rückenprobleme verfügt, sondern über den zunehmenden Anteil an Menschen, welche im Dienstleistungsbereich arbeiten. Dazu gehört auch die Frage zu stellen: Wie weit wollen wir eine solidarische Finanzierung zulassen bzw. anerkennen, dass das Gesundheitswesen eine Luxuskomponente hat, die man auch aus der privaten Schatulle bezahlen sollte. Das sind politisch schwierige Fragestellungen. Aber ich glaube, dass gerade Systeme, die sehr stark über Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge finanziert sind, viel früher vor diese Frage gestellt werden, weil sie immer weniger Erwerbstätige haben, die immer mehr nicht-Erwerbstätige mitfinanzieren müssen.

Dem österreichischen Gesundheitssystem wird eine starke Spitalslastigkeit nachgesagt. Welche Strategie würden Sie hier vorschlagen?
Wenn man einen Ökonomen fragt, wird er antworten: man muss mit Anreizen arbeiten. Zuerst braucht man Transparenz im System. Österreich glänzt – wie es auch in der Schweiz bis 2012 war – durch Intransparenz. Gerade die unterschiedlichen Finanzierungstöpfe im Krankenhausbereich tragen zur Undurchsichtigkeit und zur Intransparenz bei. Das Zweite ist: Ich würde österreichweit eine einheitliche Tarifstruktur einführen, die viel stärker die Leistungskomponente und auch die Ressourcenintensität betont. Also kein Schweregrad-abhängiges System wie LKF, sondern etwa differenziertere DRG-Systeme. Das führt dazu, dass Krankenhäuser viel stärker überlegen müssen: was bieten wir noch an? Wo ist es interessant, mit dem niedergelassenen Bereich zu kooperieren? Das ist beispielsweise in der Schweiz vermehrt zu beobachten, seit wir mit 1. Jänner 2012 flächendeckend DRGs eingeführt haben, übrigens weitgehend ohne Globalbudget-Deckelung. Viel wichtiger ist mittel- bis langfristig aber die Frage: Was für eine Medizin machen wir? Und welche Medizin wollen wir? Ein ganz wichtiger Aspekt dabei ist, dass man beginnt, sich mit anderen zu vergleichen, die es besser machen. Das vor allem in der Politik geführte Spiel „Spital gegen Niedergelassene oder
umgekehrt“ ist nicht zielführend. Mit den Herausforderungen, die wir in der Zukunft haben, darf das nicht ein Gegensatz sein, sondern es muss etwas Komplementäres werden.

Warum funktioniert das in der Schweiz?
In der Regel passieren Innovationen S-kurvenförmig. Es gibt am Anfang immer zwei, drei Verrückte, die machen es einfach. Und wenn man sieht, dass es funktioniert, dann kommen andere nach. In der Schweiz wurden schon vor der Einführung des heutigen Krankenversicherungsgesetzes 1996 Pilotprojekte ermöglicht wie etwa neue integrierte Versorgungsformen auf freiwilliger Basis und eben genau nicht über Zwang. Gerade in sehr föderal geprägten Strukturen, wie wir sie in Österreich oder in der Schweiz haben, werden top-down-Ansätze selten bis gar nicht funktionieren, sondern man muss den Geist fördern, dass Bundesstaaten, Regionen, einzelne Akteure etwas Neues versuchen dürfen – natürlich innerhalb klarer Rahmenbedingungen und auch mit Blick auf die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung. Wenn ich bei meinen regelmäßigen Besuchen in Österreich die Zeitungen lese, dann habe ich den Eindruck – nicht nur für das Gesundheitssystem – sondern ganz generell, dass der Geist für Innovationen nicht sehr freundlich ist.

Welche Rahmenbedingungen sind notwendig?
Das Wichtigste ist eine Kulturänderung. Das heißt: Die Politik muss vor allem lernen, dort loszulassen, wo sie nicht dreinreden sollte. Es ist unbestritten, dass die Politik in westeuropäischen Nationen eine Verantwortung für die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung hat. Aber dann soll man das bitte machen und nicht Berufe beplanen oder Strukturen reglementieren, weil man damit auf lange Sicht das Gegenteil erreichen wird. Bei einer Halbwertszeit des medizinischen Wissens von rund drei Jahren wird Gesetzgebung nie gestalterisch wirken können, sondern sie kann höchstens noch nachvollziehen, was Medizin schon macht. Deswegen ist es entscheidend, die Versorgungssicherheit sicherzustellen und sich darauf zu konzentrieren, wo Menschen das höchste Risiko haben, in Unterversorgung zu geraten. Das ist Aufgabe der Politik, weil dies der freie Markt in der Regel nicht kann. Aber Politik sollte von vielen anderen Dingen möglichst die Finger lassen. Und die Anreize so setzen, dass es für Ärzte, Pflegende und Krankenhäuser, die gute Medizin machen, interessant ist, zu arbeiten.

Was ist denn aus der Sicht eines Gesundheitsökonomen gute Medizin?
Gute Medizin ist das, was dem Patienten nützt. Das müsste eigentlich die Leitlinie sein. Wenn man es systembezogen betrachtet, geht es darum, Gesundheit für die Bevölkerung zu erhalten, zu fördern, wiederherzustellen, Schmerzen zu lindern und damit Lebensqualität zu generieren.

Österreich gibt rund 33 Milliarden Euro im Gesundheitswesen aus – in den Augen mancher zu viel. Wie sehen Sie das?
Ich halte die Frage, ob man zu viel für das Gesundheitswesen ausgibt, wenn es zehn oder elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind, für völlig falsch auch im Hinblick auf die demographische Entwicklung und den medizintechnischen Fortschritt. Die entscheidende Frage muss doch sein: Was erreichen wir mit diesem Geld? Und warum erreicht Österreich nicht bessere Werte mit dem Geld als andere europäische Staaten? Wir müssen der Bevölkerung klar machen: Wenn sie diesen Versorgungsstandard auch in Zukunft haben will, müssen wir mehr und nicht weniger für das Gesundheitssystem ausgeben. Das heißt nicht, dass wir gleich viel für die bisherigen etablierten Anbieter ausgeben. Älter werdende Gesellschaften sind viel stärker mit dem Problem der Multimorbidität und mit chronischen Erkrankungen konfrontiert. Da wird es zu Verschiebungen kommen müssen. Nichtsdestotrotz gilt: Wenn die Bevölkerung nicht bereit ist, mehr Zwangsabgaben zu zahlen oder mehr aus der eigenen Tasche zu finanzieren, dann müssen Einsparungen in anderen Bereichen vorgenommen werden: bei der Armee, bei der Bildung oder beim Verkehr. Denn in einer älter werdenden Gesellschaft sind Gesundheitsausgaben first.

Geboren 1965 in Zürich; Matura 1984 in Zürich. Studium der allgemeinen Volkswirtschaftslehre an der Hochschule St. Gallen mit Promotion zum Dr. oec.HSG. Oggier war zwei Jahre lang am Institut für Arbeit und Arbeitsrecht an der Hochschule St. Gallen mit dem Spezialgebiet Finanzwissenschaft tätig. Von 1993 bis 1996 war er Projektleiter der Forschungsgruppe für Management im Gesundheitswesen an der Hochschule St. Gallen. Seit April 1996 ist Oggier als selbstständiger Berater tätig. Neben den beiden Muttersprachen Deutsch und Spanisch spricht er Französisch, Italienisch und Englisch.

Soeben ist sein neuestes Buch erschienen: Willy Oggier (Hrsg.), Gesundheitswesen Schweiz 2015 – 2017, Hogrefe-Verlag, Bern, 2015, 486 Seiten, ISBN 978-3-456-85441-0.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2015