Interview Shahrokh F. Shariat: „Verbesserung der Qualität ist auch kostengünstiger“

25.09.2015 | Politik


„Verbesserung der Qualität ist auch kostengünstiger“

Für ein radikales strukturelles Umdenken in der Medizin hin zu einem „Value-based health care system“ plädiert der Leiter der Universitätsklinik für Urologie der Medizinischen Universität Wien, Univ. Prof. Shahrokh F. Shariat. Er konstatiert in Österreich darüber hinaus eine Tendenz zur Beharrlichkeit. Das Gespräch führte Agnes M. Mühlgassner.

ÖÄZ: Sie waren viele Jahre in leitender Position in den USA tätig. Was sind die Unterschiede zwischen dem Gesundheitssystem in den USA und jenem in Österreich?
Shariat: Das ist sehr schwer zu sagen. Es gibt dramatische Unterschiede in der Kultur, in der Infrastruktur, in der Ausbildung – Unterschiede, wie Krankenhäuser aufgebaut werden, Unterschiede, wie Wissenschaft gemacht wird. In Österreich ist die Versorgung der Allgemeinbevölkerung international gesehen gut. Allerdings wird kein einziges Ergebnis in unserem Gesundheitssystem sozial gemessen und bewertet. Wir sind flächendeckend und menschlich – ja, aber wie gut sind wir?

Was jedenfalls genauestens erfasst wird, sind die Kosten. Mit rund 33 Milliarden Euro pro Jahr zählt Österreich international gesehen zu den Staaten mit den höchsten Gesundheitsausgaben.
Die Kosten für die medizinische Betreuung, die wir unseren Patienten schulden und gewährleisten, gehen dramatisch hinauf – sei es in der Diagnose, Therapie und vor allem der Nachsorge. Aber es gibt fast kein westliches Land, das nicht darunter leidet. Gesundheit ist ein zentrales Anliegen in unserer Gesellschaft. Wir werden immer älter. Länger leben ist nicht länger jung bleiben, sondern länger alt werden. Höheres Lebensalter ist sehr gut, jedoch oft mit vielen chronischen und neu auftretenden Krankheiten verbunden, deren Behandlung sehr kostenintensiv ist. Das sind einige der Gründe, warum die Medizin teurer wird, aber auch, weil wir Ärzte uns verpflichtet fühlen, unseren Patienten immer das Beste, das Neueste, das Optimum geben zu wollen. Allmählich kann das Gesundheitssystem diese Kosten nicht mehr tragen.

Was kann man tun?
Wir brauchen ein radikales Umdenken, wie wir Medizin betreiben und wie wir unseren Patienten dienen können, damit sie ein besseres, hochqualitatives und längeres Leben haben. Ziel muss eine Value-based health care, Werte-orientiertes System sein. Value zu bekommen bedeutet in der Medizin: die höchste Qualität für den niedrigsten Preis. Und es muss auf den Patienten zentriert sein.

Was heißt das konkret?

Ich kann hochqualitative Resultate haben für sehr niedere Kosten – aber für etwas, was der Patient nicht wollte. Zum Beispiel bei der Diagnose Prostata-Karzinom. Vielleicht wünscht der Patient gar nicht den chirurgischen Eingriff, sondern eine aktive Überwachung und Begleitung. Es eine sollte eine auf den Patienten ausgerichtete nachhaltige Gesundheitsbetreuung sein. Die Ärzte, das Personal im Krankenhaus und anderswo im Gesundheitswesen sind nicht das Problem, sondern der wichtigste Teil der Lösung.

Die Antwort lautet heute oft schlicht: Kosten einsparen quer über alle Bereiche.
Kostensenkung ist nur ein Pflaster. Und Kostensenkung heißt oft Restriktion. Andere Länder machen das schon: Es gibt manche Eingriffe oder manche Medikamente, die die Versicherungen nicht mehr bezahlen. Oder auch die Tatsache, dass man weniger Ärzte bekommt, anstatt darüber nachzudenken, wie man die Ärzte optimaler einsetzen kann für die Ziele des Patienten. In der ganzen Diskussion kommt kein einziges Mal der Patient vor. Zurzeit geht es nur darum, wie viel Geld zur Verfügung steht. Und der Patient ist nur eine Voraussetzung, um irgendwelche anderwärtigen Ziele zu verfolgen. Die Erfassung von Wert und Nutzen im Gesundheitswesen bedeutet, dass es nicht nur auf Kosten, sondern primär auf das Ergebnis für den Patienten ankommt.

Wie sollte die Betreuung idealerweise aussehen?
Es muss ein Umdenken erfolgen, wie Medizin gemacht wird. Vor allem wir Chirurgen sind in einer Schule der Medizin aufgewachsen, die den einzelnen Arzt als heroischen Kämpfer sieht. Dieses Betreuungsmodell ist längst überholt. Wir versuchen, fachübergreifende Teams zu schaffen – weg von den Strukturen, wie sie bisher waren, sondern so wie es die Patienten brauchen. Man kann nicht einfach annehmen, dass die Werte für alle gleich sind. Das zu berücksichtigen gehört auch zur optimalen Behandlung.

Wie sollen Ergebnisse gemessen werden?
Outcomes müssen gemessen werden und sie müssen verglichen werden. Es gibt verschiedene Modelle, die wir anwenden können. Wir nehmen am International Consortium for Health Outcome Measurement teil, das Mediziner und Patienten zusammenbringt, um für jede einzelne Erkrankung zu diskutieren und festzulegen, was eigentlich Qualität bedeutet, wie sie gemessen werden soll und welche Standards weltweit festzulegen sind. Das führt zur kontinuierlichen Verbesserung. Und wenn man sich die Kostenseite dieser Gleichung ansieht, stellt sich heraus, dass diejenigen, die sich auf Qualität konzentrieren, tatsächlich auch die niedrigsten Kosten haben – obwohl sie die Kostensenkung nicht als Ziel definierten, sondern den Dienst am Patienten. Dabei ist es wichtig, dass wir den ganzen Zyklus der Krankheit anschauen. Derzeit analysieren wir einzelne Eingriffe oder Momente in der Krankengeschichte.

Was unterscheidet hier Österreich von den USA?
In Österreich herrscht zu Recht die Überzeugung, dass alle gleich sind. In Amerika werden die, die gut sind, extrem gefördert. In Österreich hingegen wird die gute Standardqualität gefördert. Es ist gut, dass die Gesellschaft hier nicht derart auseinanderklafft wie in Amerika. Das ist einer der zentralen Unterschiede zwischen Österreich und Amerika. Das sind unterschiedliche kulturelle Werthaltungen. Aber wenn wir nicht messen, wo wir sind, wissen wir auch nicht, wer besser ist und können auch nicht von denen lernen, die etwas besser machen. Weiters bin ich der Überzeugung, dass wir jene die besser – anders – sind, fördern sollten.

Wie wollen Sie diesen Kulturwandel schaffen?
Ich glaube, wir haben keine andere Wahl, als diesen Weg zu gehen. Wir – die Abteilung für Urologie am AKH – gehen diesen Weg schon: Wir vergleichen uns mit 32 Zentren weltweit, eines davon ist das Memorial Sloan Kettering. Wenn Sie einmal erfolgreich vorangehen, werden die anderen folgen, denn alle haben ein Interesse dem Patienten guter medizinischer Qualität zu dienen. Neue Wege zu beschreiten braucht Geduld, Kommunikation und leider oft eine dicke Haut. Ich bin der Ansicht, dass Führungspersönlichkeiten das Risiko auf sich nehmen sollten, bevor andere es tun. Nur dann werden auch ihre Mitarbeiter Blut, Schweiß und Tränen geben, um Visionen zum Leben zu erwecken. Weshalb? Weil sie wissen, dass ihr Chef dasselbe für sie tun würde.

Wenn Sie sofort etwas ändern könnten im Gesundheitssystem: was wäre das?
Das erste, was ich verändern würde, ist die Kultur wie wir miteinander umgehen. Es geht um eine Kultur der Menschlichkeit, des Zusammenarbeitens und auch das Eingeständnis der Fehlbarkeit – wir sind nicht perfekt. Wir müssen in einem sehr engen Netzwerk zusammenarbeiten, damit wir einander helfen können, aus den Fehlern von anderen zu lernen und den Patienten zu helfen. Eine der wohl generell größten Herausforderungen – und dies nicht nur im Streben nach Exzellenz innerhalb einer Abteilung – ist es, eine Unternehmenskultur zu schaffen, die den Menschen weitestgehende Freiheiten bietet und für deren Konsequenzen sie auch bereit sind, die Verantwortung zu tragen. Eine derartige Atmosphäre lässt Kreativität zu, ohne oktroyierte Einschränkungen. Ein in diesem Sinne ideales Arbeitsumfeld ermutigt zu Teamarbeit, begünstigt das Teilen neuer Ideen und schafft eine gesunde Balance zwischen Verantwortungsgefühl und Freiheit. Ist diese Balance intakt, agieren die Mitarbeiter selbstmotiviert und eine Abteilung funktioniert auch ohne autoritäre Führungskraft.

Wie leben Sie diese Fehlerkultur?
An der Abteilung gibt es einmal im Monat eine Morbidity/Mortality-Konferenz. Wir versuchen, zu verstehen, welche Komplikationen eingetreten sind und vergleichen unsere Daten mit den internationalen. Wir suchen eine Komplikation aus und besprechen, wie sie hätte vielleicht verhindert werden können – ohne einen Einzelnen zu beschuldigen. Diese Fehlerkultur einzubringen war extrem schwierig. Natürlich waren am Anfang viele Teammitglieder sehr resistent und wollten das nicht ansprechen. Vor allem war es inakzeptabel, dass der Chef nicht unfehlbar ist. Deshalb habe ich begonnen, das mit meinen eigenen Fällen zu demonstrieren und zu fragen, was passiert wäre, hätte ich es anders gemacht. Zu Beginn sind da nur meine Fälle besprochen worden. Heute ist es so, dass jeder alles bespricht und das Interessante ist, dass wir alle daraus lernen. Und das ist der Kulturwechsel, der u.a. zu einer dramatischen Reduktion der Komplikationsrate geführt hat.

Sie haben Ihre klinische Ausbildung zum überwiegenden Teil in den USA absolviert. Welche Unterschiede gibt es zur Ausbildung in Österreich?
Die Vereinigten Staaten sind ein Land, in dem die Kultur der Leute sehr adaptiv und sehr flexibel ist. Was zählt, ist die Zukunft, die Jugend, die Gesellschaft ist optimistisch. Die Ausbildung ist aufgebaut um die Assistenzärzte. Es ist die Pflicht jedes leitenden Arztes, nicht nur die Patienten zu betreuen, sondern den Assistenzarzt auch vollständig auszubilden. Während meiner Ausbildung in Wien war die Ausbildung nicht im Zentrum, sondern der Klinikablauf. Die angehenden Mediziner hatten in diesem System zu wenig Förderung und Herausforderung, sie haben darunter gelitten, und geben das oft weiter.

Was muss sich ändern?
Ich habe keine magische Lösung. Wir müssen umdenken, wie wir unsere Ausbildung gestalten wollen. Wir haben heute nicht nur zu wenig Zeit für die Ausbildung, sondern auch die Vorstellungen der jungen Generation haben sich verändert. Wir müssen aber die jungen Mediziner an die Zukunft heranführen, und nicht an unsere heutigen Vorstellungen. In den USA hat sich das System der Fellowships entwickelt. Das heißt: eine strukturierte ein- bis dreijährige Ausbildung im Anschluss an die Facharztausbildung mit einer Expertise in einem Subbereich. Oft heißt es in Österreich: Wir haben einen, der alles kann. Aber wir brauchen keinen, der alles kann. Wir brauchen Teams, die alles können. Denn der, der heute alles kann, kann morgen fast nichts mehr, denn unser Wissen veraltet sehr schnell. Die Komplexität der heutigen Realität, die Zeitgleichheit von entfernten Ereignissen, die Globalisierung und die Interdependenz, erfordern einen Perspektivwechsel nicht nur in der Medizin, im Gesundheitswesen, in der Bildung, beim Klimaschutz und in der Armutsbekämpfung. In jedem Bereich ist das Wissen explodiert und hat zur Komplexität und Spezialisierung geführt. Nun ist der Punkt erreicht, an dem kaum eine andere Möglichkeit besteht als zu erkennen, dass bei aller Individualität, die erhalten werden soll, die Komplexität der Wirklichkeit eine Zusammenarbeit der Gruppe erfordert.

Welches Ziel haben Sie für Ihre Abteilung?
Mein Ziel ist es, unser Team zu motivieren die beste urologische Abteilung in Europa zu erstreben. Ob wir es je erreichen werden, ist nicht entscheidend. Wichtig ist, dass wir uns bemühen, die beste medizinische Behandlung für unsere Patienten zu bieten, um ihre Leiden zu lindern. Unsere Arbeit sollte dynamisch der Zeit angepasst sein. Eine Abteilung, die nicht auch wissenschaftlich arbeitet, ist schon in der Vergangenheit. Eine Abteilung, wo keine Fragen gestellt werden, keine Antworten gesucht werden, bleibt in ihrem kognitiven Wachstum zurück. Eine Abteilung, die nicht die Ärzte-Ausbildung im Zentrum hat, denkt nicht an die Zukunft. Die Balance dieser Anforderungen zu erreichen ist die Kunst. Wir sind in einem reichen Land mit vielen Ressourcen und beschweren uns dauernd, was alles nicht funktioniert. Extrem viel funktioniert in Österreich gut und extrem viel ist machbar. Es geht um Internationalität, Innovation und das alles im Interesse des Patienten. Die Medizin der Zukunft ist nicht, das anzubieten, was wir in der Vergangenheit gemacht haben. Die Zukunft sollte heute und hier, in unserem Land, gelebt werden. Wir sollten wieder die internationalen Schrittmacher der Medizin sein. Wir können es, und schulden es unseren Patienten und nicht zuletzt uns selber.


Shahrokh Shariat wurde 1973 in Teheran (Iran) geboren und kam als Kind nach Wien. Nach der Matura studierte er Mathematik und Chemie an der Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule in Lausanne, von wo er an die MedUni Wien wechselte.
Nach der Promotion absolvierte Shariat am Baylor College of Medicine in Houston zwei postdoctoral Fellowships in Gentherapie und Molekularbiologie. Danach absolvierte er die Ausbildung zum Facharzt für Urologie an der University of Texas (Dallas). Seine Spezialisierung in onkologischer Urologie erfolgte am Memorial Sloan Kettering Center (New York). Seit 2010 leitet er das Blasenkarzinom-Zentrum am Weill Medical College der Cornell University in New York. Seit April 2014 ist er verantwortlich für die Universitätsklinik für Urologie der Medizinischen Universität Wien. Außerdem hat er zwei Hilfsstiftungen für Flüchtlinge gegründet.
Shariat hat insgesamt rund 800 Publikationen verfasst; er hält fünf Patente. In den USA wurde er zweimal zu einem der führenden Urologen des Landes gewählt und 2012 als bester urologischer Onkologe in New York ausgezeichnet.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 18 / 25.09.2015