Im Gespräch Eli­sa­beth Pit­ter­mann: PHC: zuerst Pilotprojekte

15.12.2015 | Politik

Die ÖÄZ lädt Per­sön­lich­kei­ten zum Inter­view – begin­nend mit Eli­sa­beth Pit­ter­mann. Sie erklärt, warum es bei PHC-Zen­tren keine bran­chen­frem­den Inves­to­ren geben darf, wel­chen Stel­len­wert der Haus­arzt hat und spricht über die Schnell­le­big­keit und den Druck unse­rer Zeit. Das Gespräch führte Claus Reitan.

ÖÄZ: In Gesprä­chen über Gesell­schaft und Gegen­wart ist gele­gent­lich die Mei­nung zu hören, unsere Zeit sei irgend­wie krank …
Pit­ter­mann: Ich würde nicht sagen, dass sie krank ist, aber sie über­for­dert den Men­schen. Sie ist zu schnell­le­big, sie erfor­dert zu viel an rascher Umstel­lung. Dem Ein­zel­nen wird vie­les zuge­wie­sen und die öffent­li­che Hand zieht sich aus ihrer Ver­ant­wor­tung zurück. Wie sol­len denn etwa berufs­tä­gige Frauen unter­tags ihre Kin­der am Weg zwi­schen Hort und Schule beglei­ten, dann noch mit ihnen Schul­auf­ga­ben erle­di­gen? Man setzt die Men­schen stän­dig unter Druck. Es sind die Umstände unse­rer Zeit, die krank machen.

Sie mei­nen, dem Ein­zel­nen wird in der Bewäl­ti­gung des All­tags zu viel auf­ge­bür­det?
Ja! Es gibt, um bei die­sem Bei­spiel zu blei­ben, jeden­falls zu wenig Ganz­tags­schu­len. Ein ande­res Thema ist die Pfle­ge­be­dürf­tig­keit, eigent­lich ein Risiko wie Krank­heit, jedoch wird die Pflege nicht durch eine pri­mär öffent­li­che Leis­tung, son­dern durch eine Sozi­al­hil­fe­leis­tung finan­ziert. Dies ist eine Her­aus­for­de­rung für den Mit­tel­stand. Der Betrof­fene und meist auch die gesamte Fami­lie ver­lie­ren häu­fig alles, was sie sich ein Leben lang und gene­ra­ti­ons­über­schrei­tend erspart haben. Von den Län­dern und ihren Insti­tu­tio­nen wer­den die häu­fig hohen Kos­ten von Tau­sen­den Euro monat­lich ver­langt und ein­ge­trie­ben. Daher über­neh­men viele Frauen die Pflege Ange­hö­ri­ger, damit nicht Haus oder Gar­ten der Fami­lie ver­kauft oder ver­stei­gert wer­den müs­sen bezie­hungs­weise der Sozi­al­hil­fe­trä­ger sofort im Grund­buch ein­ge­tra­gen wird und denn Zugriff hat. Dar­aus erge­ben sich zwei Fol­gen: Einer­seits blei­ben Plätze in Pfle­ge­hei­men unge­nutzt, das kann zu Per­so­nal­ab­bau füh­ren und damit ver­bun­den zu Arbeits­platz­ver­lust. Ande­rer­seits droht die­sen pfle­gen­den Frauen der Fami­lie dras­ti­sche Alters­ar­mut, denn nach dem Able­ben des Ange­hö­ri­gen ent­fällt für sie die Sozi­al­ver­si­che­rung. Zugleich ist es für diese Frauen schwie­rig, nach eini­ger Zeit der Pflege – und selbst schon im mitt­le­ren Alter – wie­der eine Arbeit zu fin­den, nach­dem sie drei, vier Jahre oder noch län­ger nicht mehr berufs­tä­tig waren.

Am Gesund­heits­sys­tem wird kri­ti­siert, es ver­brau­che viel an finan­zi­el­len Mit­teln. Wobei zu klä­ren wäre, was ist viel?
Das Schwie­rige am Sys­tem ist, dass nicht aus einer Hand gezahlt wird. Also wer­den frü­her ambu­lant behan­delte Pati­en­ten sta­tio­när oder tages­kli­nisch auf­ge­nom­men und ver­rech­net, sonst bleibt das Kran­ken­haus auf den Kos­ten sit­zen. Natür­lich wun­dern sich die Pati­en­ten, wenn sie wegen einer Injek­tion vier Stun­den oder län­ger blei­ben müs­sen und ein Tag­satz zu bezah­len ist. Es han­delt sich fall­weise um teure Medi­ka­mente und kein Spi­tal kann deren Ver­ab­rei­chung zu der­art nied­ri­gen Tari­fen vor­neh­men. Auf der ande­ren Seite trach­ten die Spi­tals­trä­ger ent­ge­gen der dama­li­gen 15a-Ver­ein­ba­rung danach, die Leis­tun­gen mas­siv ein­zu­schrän­ken, mit allen nega­ti­ven Kon­se­quen­zen für die Bevöl­ke­rung. Kom­men Pati­en­ten zu Scha­den wird man die Gesund­heits­dienst­leis­ter schul­dig wer­den las­sen und nicht die struk­tu­rel­len Defi­zite. Die Kos­ten sind vor allem durch hohen Per­so­nal­ein­satz hoch, Men­schen haben jedoch Arbeit und deren ver­dien­tes Geld geht wie­der in den Wirt­schafts­kreis­lauf. Diese Umweg­ren­ta­bi­li­tät sieht man bei Bäl­len und ande­ren Events offen­sicht­lich, bei der lebens­not­wen­di­gen Ver­sor­gung der Bür­ger nicht.

Wäre die Finan­zie­rung von Spi­tals- und Gesund­heits­kos­ten in einer Hand bes­ser auf­ge­ho­ben?
Wenn alles beim Staat zen­tral vor­ge­nom­men wird, fehlt ein Gegen­ge­wicht. Man soll nicht sämt­li­che Macht bei einer öffent­li­chen Stelle kon­zen­trie­ren. Daher bin ich für das Sys­tem der Sozi­al­ver­si­che­rung-Pflicht­ver­si­che­rung. Man könnte meh­rere Ver­si­che­rungs­trä­ger zusam­men­le­gen und viel straf­fer über­prü­fen wie die opti­male Gesund­heits­ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung aus­sieht und nicht wie man die Kos­ten im Sys­tem verschiebt. 

Unbe­strit­ten sind die Haus­ärz­tin, der Haus­arzt …
… für die Men­schen von emi­nen­tem Wert. Vor allem für die Ein­sa­men, für die alten Men­schen. Die Haus­ärzte ken­nen Lebens­wege und Lebens­ge­wohn­hei­ten. Sie sind lebens­lange Beglei­ter.

Aber deren beruf­li­che und öko­no­mi­sche Situa­tion gilt – vor­sich­tig
for­mu­liert – als nicht ein­fach.

Ohne eine aus­rei­chend hohe Anzahl an Pati­en­ten kommt man nicht auf ein Ein­kom­men, mit dem man über­le­bens­fä­hig ist. Das muss gesagt wer­den. Die Ordi­na­tion zu erhal­ten, Ange­stellte zu bezah­len – das ist bei schwa­cher Hono­rie­rung schwie­rig, daher gibt es sehr viele Pati­en­ten pro Tag in den Ordi­na­tio­nen und die Zeit für den ein­zel­nen Pati­en­ten­kon­takt ist kurz bemessen.

Kri­ti­sche Stim­men befürch­ten, die geplan­ten Zen­tren für Pri­mary Health Care (PHC) wür­den die Lage für Nie­der­ge­las­sene noch schwie­ri­ger machen. Ist das so? Wie sehen Sie diese Zen­tren?
Bei einer wöchent­li­chen Öff­nungs­zeit von 60 Stun­den sowie Nacht- und Wochen­end­be­reit­schafts­diens­ten einer­seits und einer wöchent­li­chen Höchst­ar­beits­zeit für Gesund­heits­be­rufe von 48 Stun­den ande­rer­seits wer­den pro PHC mehr Ärzte (für die es als Selbst­stän­dige kein Arbeits­zeit­li­mit gibt) aber auch mehr nicht-ärzt­li­che Mit­ar­bei­ter benö­tigt. Dazu soll noch wei­te­res Per­so­nal, Ernäh­rungs­be­ra­tung, psy­cho­lo­gi­sche Bera­tung etc. kom­men, für die Arbeit­neh­mer-Schutz­be­stim­mun­gen sowie Urlaube, Kran­ken­stände u.a.m. zu berück­sich­ti­gen sind. Unter die­sen Umstän­den sind die PHCs kaum kos­ten­güns­ti­ger zu füh­ren als Kran­ken­haus­am­bu­lan­zen oder Kas­sen-Ambu­la­to­rien. Die GPA wird sich dage­gen weh­ren, dass jene, die bei Ärz­ten ange­stellt sind, ein nied­ri­ge­res Ein­kom­men bezie­hen. Die Ärzte ihrer­seits kön­nen in einem sol­chen Zen­trum nur aus­ge­ben, was sie dort ein­neh­men. Daher sehe ich nicht, wie das unter den gegen­wär­ti­gen Bedin­gun­gen finan­zi­ell gestal­tet wer­den kann. Es wäre eine sach­ge­rech­tere Vor­gangs­weise, dass die öffent­li­che Hand zuerst Pilot­pro­jekte star­tet, denn noch kennt kei­ner die rea­len Kos­ten. Der nächste sinn­volle Schritt auf dem Weg von Ein­zel­pra­xen zu PHC-Zen­tren besteht übri­gens im Aus­bau der Gruppenpraxen.

Die Ärz­te­ver­tre­ter befürch­ten außer­dem, Ein­zel­ver­träge mit Ärz­ten an den jewei­li­gen Stand­or­ten könn­ten den Gesamt­ver­trag aus­he­beln.
Wir haben in Öster­reich die Kam­mern, die ihre Mit­glie­der ver­tre­ten, das ist gut so. Laut­star­kes Auf­tre­ten gegen die Ärz­te­kam­mer ist daher unpas­send, sie hat sich als Inter­es­sen­ver­tre­tung ihrer Mit­glie­der und als Ver­hand­lungs­part­ner bewährt. Jede Gewerk­schaft würde sich dage­gen weh­ren, sollte plötz­lich mit ein­zel­nen Arbeit­neh­mern Dienst­recht­li­ches ver­han­delt bezie­hungs­weise Kol­lek­tiv­ver­träge abge­schlos­sen wer­den. Das müss­ten die von den Kam­mern ent­sand­ten Funk­tio­näre der Sozi­al­ver­si­che­rung – die Selbst­ver­wal­tung – eigent­lich verstehen.

Und es gibt Ver­mu­tun­gen, auch bran­chen­fremde Kapi­tal­ge­sell­schaf­ten könn­ten Rechts­trä­ger eines PHC-Zen­trums sein.
Das ist es, was ich befürchte. Es muss abge­si­chert wer­den, dass das nie­mals sein kann. Es darf keine bran­chen­frem­den Inves­to­ren geben. Sollte ein PHC-Zen­trum nicht von Ärz­ten gegrün­det und geführt wer­den, dann von der Sozi­al­ver­si­che­rung oder von den Ländern.

Eine per­sön­li­che Frage: Was ist das Gesün­deste in Ihrem Leben?
Das Gesün­deste ist meine wun­der­bare Fami­lie. Ich hatte die bes­ten Eltern der Welt, die sehr ver­ständ­nis­voll waren. Sie haben mich als Kind ernst genom­men, mir wurde immer alles erklärt. Ich habe einen wun­der­ba­ren, geist­rei­chen, humor­vol­len Mann, Kin­der, die mir alles bedeu­ten und ent­zü­ckende Enkel­kin­der. Diese Fami­lie – das ist es, was für mich das Leben schön macht, und, dass ich mei­nen Traum­be­ruf stu­die­ren und aus­üben konnte.

Ein geflü­gel­tes Wort lau­tet, die Zeit heilt alle Wun­den. Wür­den Sie das so sagen?
Man muss sich mit Wun­den abfin­den, sonst geht man zugrunde. Man darf sich nicht stän­dig mit jenen Vor­gän­gen befas­sen, die per­sön­lich unge­recht, ärger­lich oder krän­kend waren. Mein Vater wurde aus poli­ti­schen Grün­den ver­folgt, meine Mut­ter erst aus poli­ti­schen, dann aus soge­nann­ten ras­si­schen. Nach der Befrei­ung vom Nazi-Joch gab es für meine Eltern einen neuen Anfang. Wis­send, dass sie auch auf jene tref­fen wer­den, die an ihrem Leid Mit­schuld tru­gen. Es gab aber auch wun­der­bare mutige Men­schen, die trotz aller Risi­ken Bedräng­ten und Ver­folg­ten hal­fen. Wenn es kei­nen Weg gibt, Ver­wun­dun­gen hin­ter sich zu las­sen, obwohl man sie nie ver­ges­sen kann, dann gibt es kei­nen Frieden.

Zur Per­son

Eli­sa­beth Pit­ter­mann wurde in eine pro­mi­nente sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Fami­lie in Wien hin­ein­ge­bo­ren. Sie pro­mo­vierte 1971 sub aus­pi­ciis und begann noch im glei­chen Jahr ihre ärzt­li­che Tätig­keit am Hanusch-Kran­ken­haus in Wien, wo sie ihre Aus­bil­dung zur Fach­ärz­tin für Innere Medi­zin absol­vierte. Spä­ter spe­zia­li­sierte sie sich auf Häma­to­lo­gie und inter­nis­ti­sche Onko­lo­gie. 1991 wurde sie Pri­ma­ria der 3. Medi­zi­ni­schen Abtei­lung im Hanusch-Krankenhaus.

Ihre poli­ti­sche Tätig­keit begann Pit­ter­mann bei der Ärz­te­ver­ei­ni­gung der SPÖ. Von 1982 bis 1994 war sie Bezirks­rä­tin in Wien/​Meidling. Von 1994 bis 2000 war sie Abge­ord­nete zum Natio­nal­rat; von 2000 bis 2004 Amts­füh­rende Stadt­rä­tin von Wien. Als Kam­mer­rä­tin war sie auch in der Ärz­te­kam­mer Wien tätig, Mit­glied des Vor­stan­des. Pit­ter­mann war von 1999 bis 2004 Prä­si­den­tin des Arbei­ter-Sama­ri­ter-Bun­des Öster­reich. Ehren­amt­lich ist sie als Gesund­heits­spre­che­rin des Pen­sio­nis­ten­ver­ban­des Öster­reichs tätig.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 23–24 /​15.12.2015