Arbeits­me­di­zin: Gesund län­ger arbeiten

25.03.2015 | Arbeitsmedizin, Politik

Wenn auch die kör­per­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit im Alter abnimmt, erhö­hen sich die psy­chi­schen, sozia­len und kom­mu­ni­ka­ti­ven Fähig­kei­ten. Die demo­gra­phi­sche Ent­wick­lung – im Zuge derer es auch zu einer Qua­li­fi­ka­ti­ons­lü­cke kommt – stellt nicht nur Unter­neh­mer, son­dern auch die Arbeits­me­di­zin vor neue Her­aus­for­de­run­gen.
Von Alex­an­dra Schlömmer

Gesund län­ger arbei­ten. Die Bedeu­tung der Arbeits­me­di­zin für die Erhal­tung von Gesund­heit und Leis­tungs­fä­hig­keit älte­rer Arbeit­neh­mer“ – so lau­tet der Titel einer Stu­die, die im Auf­trag der Öster­rei­chi­schen Aka­de­mie für Arbeits­me­di­zin und Prä­ven­tion durch­ge­führt wurde.

Die Arbeits­an­for­de­run­gen in Unter­neh­men sind in der Regel an jun­gen und gesun­den Arbeit­neh­mern aus­ge­rich­tet; der Leis­tungs­fä­hig­keit von älte­ren Beschäf­tig­ten wird kaum Beach­tung geschenkt: Altern wird mit einem gene­rel­len Abbau gleich­ge­setzt. Doch die Stu­die zeigt, dass ältere Arbeit­neh­mer nicht weni­ger leis­tungs­fä­hig sind als die jün­ge­ren, son­dern dass sich die Fähig­kei­ten mit dem Alter ver­än­dern. Wäh­rend die kör­per­li­che Leis­tungs­fä­hig­keit abnimmt, erhö­hen sich die psy­chi­schen, sozia­len und kom­mu­ni­ka­ti­ven Fähig­kei­ten und ebenso die meis­ten geis­ti­gen Kom­pe­ten­zen. „Arbeits­un­fä­hig­keit im Alter muss nicht sein“, appel­liert Karl Hoch­gat­te­rer, ÖÄK­Re­fe­rent für Arbeits­me­di­zin, für ein Umden­ken. Spe­zi­ell für ältere Mit­ar­bei­ter müs­sen die betrieb­li­chen Arbeits­be­din­gun­gen ange­passt wer­den, damit deren Erwerbs­fä­hig­keit bis ins hohe Alter erhal­ten wer­den kann.

Mit einem ganz­heit­li­chen Alters­ma­nage­ment soll die Arbeit so orga­ni­siert sein, dass die Stär­ken und Schwä­chen von Arbeit­neh­mern unter­schied­li­cher Alters­grup­pen berück­sich­tigt wer­den – etwa bei der Gestal­tung und Orga­ni­sa­tion von Arbeits­tä­tig­kei­ten und in der Gestal­tung der Arbeits­um­ge­bung. „Im Ide­al­fall sollte die betrieb­li­che Alters­ver­tei­lung aus­ge­wo­gen sein und alle Alters­grup­pen von 15 bis 60 Jahre ver­tre­ten sein“, lau­tet die Emp­feh­lung von Hoch­gat­te­rer hin­sicht­lich der Personalstruktur.

Es gehe in Zukunft auch darum, die Gesund­heit und die Leis­tungs­fä­hig­keit der älte­ren Beschäf­tig­ten ver­mehrt zu för­dern, wie der Arbeits­me­di­zi­ner betont. Dies müsse auf der einen Seite durch die Stär­kung von Gesund­heits­res­sour­cen gesche­hen, auf der ande­ren Seite durch den Abbau von Arbeits­be­las­tun­gen und durch die Begren­zung der Dauer, in der Erwerbs­tä­tige belas­ten­den Bedin­gun­gen aus­ge­setzt sind. Eine gut gestal­tete Arbeit dage­gen beinhalte ein gro­ßes Poten­tial an gesund­heits­för­dern­den Res­sour­cen, die unter ande­rem die Arbeits­leis­tung posi­tiv beein­flus­sen kön­nen. Ein erfolg­rei­ches betrieb­li­ches Gesund­heits­ma­nage­ment muss Belas­tun­gen und Res­sour­cen glei­cher­ma­ßen berück­sich­ti­gen. Hoch­gat­te­rer dazu: „Vor allem Arbeits­me­di­zi­ner kön­nen prä­ven­tive Maß­nah­men in Unter­neh­men gezielt umset­zen.“ Dazu zäh­len etwa alters­ge­rechte Arbeits­ge­stal­tung, früh­zei­tige Prä­ven­tion, Auf­klä­rung und Schu­lung von Füh­rungs­kräf­ten, alters­ge­rechte Orga­ni­sa­ti­ons­ent­wick­lung, gesund­heits­be­zo­gene Per­so­nal­ent­wick­lung und ziel­ge­naue Gesund­heits­för­de­rungs­pro­gramme. „Wert­schät­zung gegen­über den älte­ren Erwerbs­tä­ti­gen ist in Orga­ni­sa­tio­nen nicht immer beob­acht­bar. Dies wird dem hohen Poten­zial an Res­sour­cen die­ser Gruppe von Ange­stell­ten, ihrer Erfah­rung, ihrem Wis­sen nicht gerecht“, gibt Hoch­gat­te­rer zu bedenken.

Situa­tion in Österreich

Im euro­päi­schen Ver­gleich ver­fügt Öster­reich über eine beson­ders hohe Lebens­er­war­tung. Man geht davon aus, dass Öster­reich im Jahr 2050 rund 9,5 Mil­lio­nen Ein­woh­ner haben wird; nahezu jeder dritte wird 2040 über 60 Jahre alt sein. Gleich­zei­tig wird sowohl bei der Gruppe der 15- bis 60-Jäh­ri­gen als auch bei der jüngs­ten Alters­gruppe (Per­so­nen bis 15 Jahre) ein Rück­gang pro­gnos­ti­ziert. Bedingt durch den demo­gra­phi­schen Wan­del ste­hen auf dem Arbeits­markt immer weni­ger Fach­kräfte zur Ver­fü­gung. Diese Ent­wick­lung führt zu einer Qua­li­fi­ka­ti­ons­lü­cke. Spä­tes­tens, wenn die Ver­tre­ter der Baby-Boo­mer-Gene­ra­tion der gebur­ten­star­ken Jahr­gänge bis Ende der 1960er Jahre aus dem Arbeits­le­ben aus­schei­den, beginnt der Wett­lauf mit der Zeit.

Schon jetzt haben sie­ben von zehn öster­rei­chi­schen Arbeit­ge­bern Pro­bleme, geeig­nete Mit­ar­bei­ter zu fin­den. „Nach­wuchs­pro­bleme betref­fen alle Bran­chen, ob IT-Unter­neh­men, Speng­ler, Schlos­ser oder auch Ärzte“, weiß Hoch­gat­te­rer. An arbeits­po­li­ti­schen Maß­nah­men, die hier zu tref­fen sind, erwähnt er etwa die Ver­bes­se­rung der Arbeits­be­din­gun­gen, eine bes­se­res Alters­ma­nage­ment und die För­de­rung der Arbeits­fä­hig­keit wäh­rend des gesam­ten Arbeits­le­bens. „Mit betrieb­li­chen Gesund­heits- und Prä­ven­ti­ons-Maß­nah­men las­sen sich Fehl­tage und Arbeits­un­fälle redu­zie­ren und Mit­ar­bei­ter blei­ben gesund und leis­tungs­fä­hig“, so Hochgatterer.

Best Prac­tice-Modelle

Die Pen­si­ons­ver­si­che­rungs­an­stalt der Ange­stell­ten (PVA) und die All­ge­meine Unfall­ver­si­che­rungs­an­stalt (AUVA) füh­ren seit Herbst 2007 das Pro­gramm „Fit für die Zukunft – Arbeits­fä­hig­keit erhal­ten“ durch. Bis 2012 haben ins­ge­samt 20 Pilot­be­triebe mit rund 13.000 Arbeit­neh­mern teil­ge­nom­men. Dazu zäh­len spe­zi­ell sol­che aus beson­ders bean­spru­chen­den Bran­chen wie dem Gesund­heits­be­reich, dem Bau­be­reich, der Metall­ver­ar­bei­tung, der Ent­sor­gung oder dem Han­del. Seit Beginn des Pro­jekts wur­den in den jewei­li­gen Betrie­ben mehr als 300 Inter­ven­tio­nen gesetzt. Die Maß­nah­men rei­chen von Sen­si­bi­li­sie­rung und Schu­lung von Füh­rungs­kräf­ten, Betriebs­rä­ten und Prä­ven­tiv­fach­kräf­ten bis zu Coa­chings von Bau­po­lie­ren, ergo­no­mi­scher Adap­tie­rung von Arbeits­plät­zen nach alters­kri­ti­schen Fak­to­ren, Ent­wick­lung von Pau­sen­ma­nage­ment und alter­na­ti­ven Arbeits­zeit­mo­del­len, Trai­nings im Umgang mit emo­tio­nal schwie­ri­gen Situa­tio­nen oder Umgang mit Nacht­ar­beit, der Ein­füh­rung von alterns­ge­rech­ten, lebens­pha­sen­ori­en­tier­ten Mit­ar­bei­ter­ge­sprä­chen hin bis zur Hebung des Images von spe­zi­fi­schen Berufs­grup­pen inner­halb eines Betriebs. Mit dem Pro­gramm konnte gezeigt wer­den, dass die För­de­rung von Arbeits­fä­hig­keit in Unter­neh­men auch bei Älter­wer­den der Beschäf­tig­ten mög­lich ist. So konnte in fast allen Pilot­be­trie­ben eine Stei­ge­rung der Arbeits­fä­hig­keit ver­zeich­net wer­den. Der Zeit­raum von vier bis fünf Jah­ren sei grund­sätz­lich „zu kurz“, um eine Redu­zie­rung der Zah­len bei Berufs­un­fä­hig­keits­und Inva­li­di­täts­pen­sio­nen zu beob­ach­ten, kom­men­tiert Hoch­gat­te­rer die Ergeb­nisse. Jedoch könne eine Ver­rin­ge­rung der Berufs­un­fä­hig­keit auf Grund der gestie­ge­nen Arbeits­be­wäl­ti­gungs­werte und der damit ver­bes­ser­ten Pro­gnose erwar­tet werden.

Übli­cher­weise sin­ken Arbeits­fä­hig­keits­werte, wenn Betriebe Arbeits­fä­hig­keit nicht unter­stüt­zen, um 0,4 bis 0,6 Punkte pro Jahr; in den betei­lig­ten Betrie­ben wurde jedoch sogar eine Stei­ge­rung zwi­schen 0,1 und 1,0 Punk­ten regis­triert. Hoch­gat­te­rer dazu: „Das bedeu­tet, dass die Mit­ar­bei­ter der betei­lig­ten Betriebe gemes­sen mit dem gesund­heit­li­chen Arbeits­be­wäl­ti­gungs­in­dex in etwa um fünf Jahre jün­ger waren, als sie es ohne Inter­ven­tio­nen gewe­sen wären.“ Damit werde die Wahr­schein­lich­keit, dass die Betref­fen­den län­ger im Arbeits­pro­zess ver­blei­ben, deut­lich erhöht.

Rund 80 Pro­zent der in den Betrie­ben Befrag­ten sind sich noch vier Jahre spä­ter ziem­lich sicher, dass sie auf Grund ihrer Gesund­heit ihre der­zei­tige Arbeit auch noch in den nächs­ten Jah­ren aus­üben wer­den kön­nen: Der Pro­zent­satz ist sta­bil geblie­ben oder hat sich sogar ver­bes­sert (zum Bei­spiel bei Män­nern oder inner­halb der Alters­gruppe der 50- bis 59-Jäh­ri­gen eine Zunahme um rund fünf Pro­zent, bei Arbei­tern um drei Pro­zent; bei Mit­ar­bei­tern mit mehr als 30 Jah­ren Betriebs­zu­ge­hö­rig­keit um zehn Pro­zent; bei Lehr­lin­gen hin­ge­gen gab es eine Abnahme um sechs Pro­zent). Das durch­schnitt­li­che Pen­si­ons­an­tritts­al­ter stieg in eini­gen Betrie­ben wäh­rend des Pro­gramms an.

Die Auf­gabe der Arbeits­me­di­zin ins­ge­samt beschreibt Hoch­gat­te­rer wie folgt: „Sie stützt sich auf eine ganz­heit­li­che Betrach­tung des arbei­ten­den Men­schen.“ Spe­zi­ell durch ihr prä­ven­ti­ves Ein­grei­fen trage sie „zum Erhalt der Gesund­heit und zur Leis­tungs­fä­hig­keit der Beschäf­tig­ten bei“. Denn „gesunde und leis­tungs­fä­hige Mit­ar­bei­ter, bei denen eine opti­male Über­ein­stim­mung von Leis­tungs­an­for­de­rung und Leis­tungs­fä­hig­keit gege­ben ist, sind moti­viert und tra­gen auto­ma­tisch zum wirt­schaft­li­chen Erfolg eines Unter­neh­mens bei“, so der Arbeits­me­di­zi­ner resümierend.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 6 /​25.03.2015